Alle sind ihr verfallen. Nun wurde die Schauspielerin Sandra Hüller für den Oscar nominiert. Ein Porträt.
Still und gerade steht Sandra Hüller auf der Bühne. Den Preis hat sie neben sich auf den Boden gestellt, sie bedankt sich kurz. Statt eine Rede zu halten, bittet sie, gemeinsam für den Frieden zu schweigen. «I would kindly ask you to strongly and vividly imagine peace together.»
Dann folgt diese aufgeladene und konzentrierte Stille, die man von Hüller kennt. Sie öffnet etwas, macht Platz für Gedanken, die im Alltag oft verstellt bleiben. So ging Hüllers bewegender Auftritt am 9. Dezember, als ihr der Europäische Filmpreis für ihre Rolle in Justine Triets «Anatomie d’une chute» verliehen wurde.
Am Dienstag wurde sie nun für einen Oscar nominiert, ebenfalls für ihre Rolle in Triets Film. Sandra Hüller spielt eine Schriftstellerin, die verdächtigt wird, ihren Partner umgebracht zu haben. Ob sie es war oder nicht? Selbst Hüller weiss es bis heute nicht. Sie soll die Regisseurin am Set angefleht haben: «Sag’s mir, bin ich schuldig oder nicht? Bin ich eine Mörderin?» Aber Triet liess sie im Dunklen.
Die Kritiker sind Hüller schon lange verfallen. Sie sei die «coolste und freieste Schauspielerin, die wir haben», und eine der «besten, wahrhaftigsten und unerbittlichsten Schauspielerinnen ihrer Generation und unserer Zeit», hiess es in der «Süddeutschen Zeitung». Wenn andere ihr Schauspiel beschreiben, ist von roher Emotionalität die Rede, von Härte und Echtheit, von ihrem klinisch präzisen Spiel. «Sie kann unglaublich zäh sein und dann plötzlich schmelzen», sagt Justine Triet.
Behüten, was ihr gehört
Ihr Privatleben hütet Sandra Hüller wie ihren Augapfel. Sobald es in Interviews persönlicher wird, werden ihre Antworten knapp. «Hören Sie», sagte sie im Interview mit dem «Hollywood Reporter», «es ist nicht meine Aufgabe, den Leuten in meiner Arbeit zu zeigen, wer ich wirklich bin.» Nicht einmal den Namen ihres Hundes wollte sie dem Journalisten verraten. Sie will behüten, was ihr gehört. «Ich glaube, meine Kunst kommt aus einem fast kindlichen, sehr verletzlichen und intimen Ort.»
Sandra Hüller wuchs in Friedrichroda auf, einer ostdeutschen Kleinstadt. Als die Mauer fiel, ging sie noch ins Gymnasium. Ihre Eltern arbeiteten als «Erzieher», so sagte man in der DDR, heute würde man von «Pädagogen» sprechen. Als Kind verbrachte sie viel Zeit vor dem Fernseher, dachte sich akribisch in die Figuren hinein, in Konflikte, die nicht ihre eigenen waren.
In der Schule besuchte Hüller einen Theaterkurs. «Da gab es so eine Kraft, ich war schnell abhängig», sagt sie. Mit 17 Jahren sprach Hüller an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch vor, wo auch Nina Hoss und Lars Eidinger lernten. Wenn es nichts werden sollte mit der Schauspielerei, würde sie eine Ausbildung machen, so war es mit den Eltern vereinbart. Sie wurde genommen.
Vom Theater zum Film
Nach dem Abschluss an der Schauspielschule begann Hüller Theater zu spielen. Erst in Jena, dann in Leipzig und ab 2002 vier Jahre im Theater Basel. Dort spielte sie das Gretchen im «Faust» und die Dora in Lukas Bärfuss’ «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern».
Ab 2015, in Deutschland war sie schon berühmt, konnte man Hüller auch in Zürich sehen. Im Theater Neumarkt trat sie in Wolfgang Herrndorfs «Bilder deiner grossen Liebe» auf. Und wurde gefeiert. Sie sei «zum Niederknien», schrieben die Tamedia-Zeitungen. Einzig die NZZ war nicht ganz überzeugt. Allerdings weniger von ihr als von der Inszenierung. Sandra Hüller lege sich zwar «wacker ins Zeug», heisst es in der Rezension von 2016, trotzdem sei die Vorstellung nicht mehr als «ein netter Abend» gewesen.
2006 gelang ihr mit «Requiem» der Durchbruch im Kino. Sie spielte eine junge Frau, die überzeugt ist, vom Teufel besessen zu sein. Liebe, epileptische Anfälle, manischer Arbeitsrausch und Zusammenbruch. 2014 ist sie in «Toni Erdmann» eine angestrengte, aber auch unangepasste Unternehmensberaterin, die mit ihrem Vater und ihrem Leben fremdelt. 2017 eine Angestellte in der Süssigkeitenabteilung eines Grossmarktes («In den Gängen»). Und in «The Zone of Interest», der in der Deutschschweiz Ende Februar anläuft, spielt sie Hedwig Höss, die Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss.
Das nackte Spiel
Sandra Hüller spielt keine Rollen, die sie nicht überraschen. Es muss intensiv sein, eigensinnig oder abgründig. Manchmal auch überfordernd. Nie weiss man so genau, woran man bei ihr ist. «Linear erzählte Figuren interessieren mich nicht», sagt Hüller. Sie möchte sich im Spiel verändern können, «sonst langweile ich mich selber».
Hüller verliebt sich in ihre Rollen. «Man fragt sich die ganze Zeit, was sie gerade machen, was sie denken, wie sie sich fühlen.» Aber das geht nicht immer. Die Figur der Hedwig Höss zum Beispiel könne sie nicht lieben, sagte sie jüngst in einem Interview.
Innerhalb weniger Monate lernte sie für «Anatomie d’une chute» Französisch. Und als sie am Theater Bochum den Hamlet spielte, ging sie in der Pause nicht mit den anderen Schauspielern in den Backstage-Bereich. Sie blieb auf der Bühne. Hüller wollte die Energie ihrer Rolle nicht verlieren. Sie ist hartnäckig. Einmal erzählt sie, dass sie aus einer Linie von durchsetzungsfähigen Frauen komme, solchen, die nach dem Krieg allein einen Bauernhof geschmissen hätten. «Meine Zähheit hilft mir, mich durch bestimmte Situationen durchbeissen zu können.»
Aber da ist auch etwas Weiches. Etwas, was sie trotz aller Kontrolle preisgibt. Hüller selbst spricht von einer Nacktheit, davon, was passiert, wenn sie alle Kontrolle und Bewertung abschüttelt und einfach nur noch ist. «Das hat für mich etwas Genussvolles, etwas Befreiendes», sagt sie. Und schiebt hinterher: «Gleichzeitig erschreckt es mich.»
Sie wünsche sich, sich für eine Vorstellung in keiner Form mehr «aufbrezeln» zu müssen, sagte sie in einem Interview 2014. «Wenn ich arbeiten könnte, mit allem, was ich bin. Wenn es da kein Korsett gäbe.» Vielleicht wirkt Hüller deshalb so klar, so unverstellt.
Früher sei sie sehr strebsam gewesen. «Wenn man jung ist, gibt es den grossen Drang, alles richtig zu machen», sagt Hüller. Inzwischen ist sie 45, hat eine Tochter und glaubt, dass gerade das Scheitern interessant sei. Oder wie man mit dem Scheitern umgehe. Aber wann sind Sie überhaupt einmal gescheitert, Frau Hüller?