Donnerstag, Dezember 26

Rückblick auf den Moment, in dem die weisse Schweiz den Spiegel vorgehalten bekam.

Eine junge Frau klingelt mit dem Ellbogen an der Tür. Ihre Hände hält sie in die Luft, sie sind mit Motorenöl verschmiert, zwischen die Lippen hat sie einen Schlüsselbund geklemmt. Eine ältere Dame öffnet die Tür. Die junge Frau will ihr etwas sagen, doch die Schlüssel im Mund machen ihre Worte unverständlich. «Tut mir leid, ich spreche Ihre Sprache nicht», sagt die Seniorin und doppelt freundlich nach: «Ich. Nicht. Sprechen. Afrikanisch.»

Genervt spuckt die junge Frau den Schlüsselbund aus und sagt in breitem Berndeutsch: «Gopf – kann ich bei Ihnen die Hände waschen?» Die Hausherrin staunt. Die junge Frau stellt sich als Annekäthi Tobler vor. Erfreut will ihr die ältere Dame die Hand reichen, doch sie wehrt ab: «Besser nicht, sonst werden Sie noch ganz schwarz.» Irritiert fragt die Seniorin: «Sind Sie denn nicht farbecht?»

Die Begegnung der beiden Frauen liegt 26 Jahre zurück. Die Szene war Teil von «Fascht e Familie», der bis heute erfolgreichsten Sitcom am Schweizer Fernsehen. Was inzwischen keine Erwähnung mehr wert wäre, musste damals ausführlich thematisiert werden: Annekäthi Tobler war die erste Figur mit dunkler Hautfarbe am Schweizer Fernsehen. Gespielt wurde sie von Sandra Moser.

Wer die Szene aus heutiger Sicht betrachtet, mag darüber erstaunt sein, wie sehr sich der Zeitgeist in 26 Jahren verändert hat. Der Dialog wirkt klischeehaft und überzeichnet. Aus der Luft gegriffen war er aber nicht, wie Sandra Moser erzählt. «Was Annekäthi passiert ist, ist mir im echten Leben immer wieder passiert», sagt Sandra Moser. «Noch heute werde ich häufig auf Hochdeutsch angesprochen.» Und bis vor wenigen Jahren sei sie auch oft gefragt worden, woher ihre Eltern denn kämen. «Eigentlich eine intime Frage», sagt Moser.

«Es gab niemanden, der aussah wie ich»

Sandra Moser ist inzwischen 54 Jahre alt, schreibt Drehbücher und führt Regie. Als Schauspielerin ist sie nur noch selten tätig. Sie sitzt in einem Café in Basel. Noch während ihrer Zeit bei «Fascht e Familie» zog sie hierhin, bis heute ist die Stadt ihr Lebensmittelpunkt. Sandra Moser wirkt zurückhaltender als ihre berühmte Figur Annekäthi, aber herzlich. Sie nimmt sich Zeit, ihre Worte richtig zu wählen, sie spricht nicht laut, aber bewusst. Für das Gespräch hat sie sich ihren ersten Auftritt bei «Fascht e Familie» noch einmal angeschaut – das letzte Mal liege wohl fast zwanzig Jahre zurück. «Ich habe gestaunt, wie locker ich damals mit der Situation umgegangen bin.» Ob sie erschrocken sei? «Nein. Wenn überhaupt, darf man über die damalige Zeit erschrecken. Die Folge spiegelt ja bloss die damalige Gesellschaft wider.»

Damals, mit Mitte zwanzig, habe sie die Sitcom als Möglichkeit gesehen, ihre Erfahrung als PoC – als Person of Color – in die Schweizer Wohnzimmer zu bringen. Auch diesen Begriff wählt sie bewusst, hier herrsche Konsens. Denn das Vokabular hat sich in den vergangenen Jahren verändert. In den neunziger Jahren schrieb man über sie als «Farbige». Auch sie selbst hatte den Begriff damals verwendet. Das N-Wort war schon da verpönt, aber noch nicht tabu. Selbst Menschen in ihrem nahen Umfeld benutzten es. Sie meinten das zwar nicht abwertend, aber unangenehm sei ihr das schon als Kind gewesen. Auf die Frage, was denn für sie angemessen sei, sagt sie: «Afrikanisch-schweizerisch gelesene Person wäre wohl am korrektesten.»

Sandra Moser hat ihren Vater, einen Senegalesen, nie gekannt. Ihre Mutter ist Emmentalerin. Weil sie nicht verheiratet war, musste sich der Grossvater zum Beistand der kleinen Sandra erklären – nur so durfte diese bei ihrer Mutter aufwachsen. Ihre Kindheit verbrachte sie in Uttigen bei Thun. Menschen mit dunkler Hautfarbe gab es dort keine. Anders gefühlt als die anderen Kinder habe sie sich nicht – bis sie in den Kindergarten kam.

In «Fascht e Familie» sagte Annekäthi: «Wer in der Schweiz zur Schule geht, hat alle faulen Sprüche längst gehört.» Belustigt fügte sie an: «Als Kind wusste ich manchmal nicht, ob mein Name Annekäthi oder Schoggikopf ist.» Und das Publikum lachte.

Sandra Moser präzisiert: «Es waren nie die Kinder, die abfällige Bemerkungen gemacht haben, sondern die Erwachsenen: meine Kindergärtnerin, mein Lehrer.» Egal ob im Dorf, in der Stadt, im Fernsehen, in den Büchern: «Ich kannte niemanden, der so aussah wie ich; niemanden, den ich nach seinen Erfahrungen fragen konnte», sagt Sandra Moser.

Das Gefühl, allein zu sein, hat Sandra Moser bis ins Erwachsenenalter geprägt. «Ich war immer eine Einzelkämpferin», sagt sie. Wohin sie auch ging, sie sei die Erste und die Einzige gewesen. So kam es, dass Sandra Moser auch zur ersten Person of Color wurde, die im Schweizer Fernsehen spielte. Über Nacht wurde sie zur berühmtesten PoC der Schweiz.

Dabei war das so nie geplant.

Annekäthi sollte das Gegenteil von Vreni sein

Wir schreiben das Jahr 1997. «Fascht e Familie», die erste Sitcom im Schweizer Fernsehen, befand sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Mehr als jeder siebte Schweizer schaltete jeden Freitagabend ein, wenn die sonderbare Wohngemeinschaft um Tante Martha, Hans, Flip und Vreni über den Bildschirm flimmerte. «Fascht e Familie» war das Schweizer Lagerfeuer der neunziger Jahre.

Eine Sitcom lebt davon, dass sich nie etwas ändert. Doch dann passierte genau das. Ein Mitglied des Ensembles stieg aus. Hanna Scheuring verliess die Serie aus privaten Gründen – und mit ihr die Figur Vreni, eine naive und ständig verliebte Bankangestellte. Charles Lewinsky, der Autor und Schöpfer von «Fascht e Familie», stand vor der fast unlösbaren Aufgabe, eine vom Publikum geliebte Figur zu ersetzen. Er erinnert sich: «Vreni war geradezu eine Blondinen-Karikatur. Ich wusste: Die neue Figur darf ihr nicht ähneln.» Also schuf er den absoluten Kontrast zu ihr: eine selbständige, zupackende und überlegene Frau – Annekäthi Tobler, eine Hebamme.

«Die Geburtshelferinnen gelten als entscheidungsfreudige und als Autoritäten anerkannte Figuren», meint Charles Lewinsky. Als er sich über den Beruf kundig gemacht habe, sei ihm von einer Ausbilderin gesagt worden, dass viele Hebammen etwas grösser als der Durchschnitt seien. Eine Erklärung dafür hatte sie nicht. «Mir schien das ein interessanter Kontrast zur Figur des eher kleingewachsenen Kellners Hans, der sich immer wieder Sprüche wegen seiner Körpergrösse anhören musste.»

Der damals zuständigen Casterin, Ruth Hirschfeld, gab er den Auftrag, eine grossgewachsene Schauspielerin zu finden, die als Hebamme glaubhaft wäre. Entgegen vieler Vermutungen sei es ihm nie darum gegangen, das Ensemble zu modernisieren. Diese Intention kam von anderer Seite – von jener der Casterin.

Ruth Hirschfeld erinnert sich noch gut an den Tag, an dem sie den Entschluss fasste, «Fascht e Familie» diverser zu machen: Sie sei am Hauptbahnhof gestanden und habe in die Masse von Menschen gesehen. «Mir wurde klar: Unsere Gesellschaft hat sich verändert. Was wir im Fernsehen sehen, entspricht längst nicht mehr der Realität.» Die junge Schauspielerin Sandra Moser war ihr bereits bekannt, sie spielte damals bei «Karl’s Kühne Gassenschau». Ruth Hirschfeld wusste: «Sie war die einzig richtige Wahl für diese Rolle.»

Auch Charles Lewinsky war nach einem Treffen überzeugt. Und Sandra Moser? Sie hätte nach ihrer Zusage beinahe wieder abgesagt. Als sie den Anruf der Casterin Ruth Hirschfeld erhielt, hatte sie zwar schon von «Fascht e Familie» gehört, kannte jedoch die Serie und das Genre kaum. «Ich war 27 Jahre alt und dachte mir: Für eine Hauptrolle im Schweizer Fernsehen muss man zusagen», erzählt sie. Sie habe sich also die Serie angeschaut – und zu zweifeln begonnen, ob eine Sitcom das richtige Format für sie sei: «Das Genre ist auf die breite Masse ausgerichtet, es hat keinen feinen Humor und ist nicht sehr nuanciert.»

Sie besprach ihre Zweifel mit Hirschfeld. «Bei diesem Gespräch war meine Hautfarbe bereits ein Thema. Sie hat mich ermutigt, diese Möglichkeit zu nutzen», sagt Sandra Moser. Letztlich sei für sie genau dies entscheidend gewesen: Die Sitcom ermöglichte ihr, den Rassismus, mit dem sie täglich konfrontiert war, zur besten Sendezeit in den Schweizer Stuben zu thematisieren. Sie sagte zu.

Der Autor Charles Lewinsky betont, dass die Hautfarbe von Sandra Moser für ihn nie eine Rolle gespielt habe. «Ich stellte aber fest, dass es bei den meisten Leuten nicht so war», erzählt er. «Läck, ist das mutig», habe er damals gehört. Aber auch Zweifel darüber, eine «Fremde» in der schweizerischsten aller Sendungen spielen zu lassen. Lewinsky sagt, ihm seien zwei Möglichkeiten geblieben: Er hätte die gängigen Vorurteile negieren können, oder er würde die Hautfarbe in der Sendung thematisieren. Er entschied sich für das Zweite.

Der Entscheid hat vorwiegend mit dem Genre zu tun: «Die Charaktere einer Sitcom sind einfach gestrickt: Jeder hat im Grunde eine Eigenschaft», erklärt der Autor. Tante Martha ist esoterisch, Flip hat eine schlechte Arbeitsmoral, Hans liebt es, Theater zu spielen. «Die Figuren kritisieren sich ständig. Es wäre höchst unwahrscheinlich, dass sie nicht auf Annekäthis Hautfarbe reagieren würden», sagt Charles Lewinsky.

«Ich war damals schon empfindlich»

Gespannt erwarteten Presseleute und Zuschauer die neue Mitbewohnerin von «Fascht e Familie». Kurz vor der Premiere fiel der Name Sandra Moser – und der «Blick» warf sogleich die Frage auf: «Wird auch Sandra Mosers Hautfarbe (. . .) zum Thema?» Die Fernsehzeitschrift «Tele» witterte die Sensation und schrieb über die Besetzung: «Darüber wird man bald reden, denn Sandra Moser ist eine Farbige.» Sandra Moser erinnert sich: «‹Fascht e Familie› hatte ein grosses konservatives Publikum. Viele fühlten sich wohl provoziert, noch bevor die erste Sendung ausgestrahlt wurde.»

Eine gewisse Skepsis spürte der Autor Charles Lewinsky auch beim Publikum: Ist sie denn überhaupt eine Schweizerin? Würde sie denn der deutschen Sprache mächtig sein? Lewinsky entschied, die Spannung auszureizen – und dem Publikum sogleich den Spiegel vorzuhalten. Er untersagte Sandra Moser, im Vorfeld Interviews im Radio oder im Fernsehen zu geben. Und er schrieb die Szene mit dem Schlüssel im Mund. «Die Leute sollten umso überraschter sein, wenn sie in breitestem Berndeutsch – das darüber hinaus als sehr sympathisch gilt – zu reden beginnt.»

Am 9. Januar 1998 wurde schliesslich die erste Folge mit der neuen Mitbewohnerin ausgestrahlt. Die beschriebene Begegnung zwischen Tante Martha und Annekäthi Tobler war die Eröffnungsszene. 1,5 Millionen Menschen schauten sich die Folge an, was damals einem Marktanteil von 69 Prozent entsprach. Es sind Zahlen, wie sie heute keine Schweizer TV-Sendung mehr erreicht. Zum Vergleich: Das Achtelfinalspiel zwischen der Schweiz und Portugal an der Fussball-WM 2022 sahen sich 1,49 Millionen an.

Als die Figur Annekäthi ihre künftigen Mitbewohner kennenlernt, folgt ein Eiertanz um das Wort «schwarz». Die Charaktere tappen von einem Fettnäpfchen ins nächste. Die Szene gipfelt in der Frage Tante Marthas, wie Annekäthi ihren Kaffee trinke – mit Milch oder schwarz. Erschrocken über sich selbst, hält sie sich den Mund zu. Sie entschuldigt sich, man habe eben keine Erfahrung mit «Leuten ihrer Art». «Warum? Kennt ihr keine Berner?», fragt Annekäthi. Die Mitbewohner präzisieren: mit Menschen ihrer Hautfarbe. Annekäthi lacht laut und sagt: «Ich bin schon lange nicht mehr empfindlich!»

Ganz so wie ihrer Figur erging es Sandra Moser nicht: «Ich war damals schon empfindlich. Aber es gab keinen Platz dafür.» Nicht nur das Vokabular, auch das Bewusstsein der Leute sei ein anderes gewesen. «Hätte ich damals gesagt: ‹Das geht mir zu weit›, hätte man mir gesagt: ‹Das ist doch nicht böse gemeint!› oder: ‹Dich meinen wir doch damit nicht.›»

Was bei «Fascht e Familie» über Sandra Mosers Hautfarbe gesagt wurde, war mit ihr abgesprochen – auch, dass Rolf, Tante Marthas geldgieriger Neffe, mehrfach das N-Wort benutzte. «Vieles war für mich damals an der Schmerzgrenze», sagt Sandra Moser. «Aber zu jenem Zeitpunkt fand ich wichtig, dass es so explizit ausgesprochen wurde. Es entsprach dem, was ich erlebt habe.» Heute sähe sie das anders. Die breite Masse wisse inzwischen, dass das Wort abwertend sei. «Ich würde mich wohl dagegen wehren, dass der Ausdruck verwendet wird.»

Ein Zufall, dass Rolf jene Figur war, die das N-Wort ausspricht, war es nicht: «Eine alte Regel besagt, das Arschloch sagen zu lassen, was man der Lächerlichkeit preisgeben will», erklärt Charles Lewinsky. Und Rolf sei eben ein amoralischer, bösartiger Charakter, es sei deshalb folgerichtig gewesen, dass er so etwas sagen würde.

Eine Debatte darüber, was man denn nun in dieser Folge sagen dürfe, habe es nicht gegeben. «Ich war in dieser Beziehung ein relativ autoritärer Sack», sagt Lewinsky. «Ich habe die Sendung erfunden, ich schrieb die Drehbücher, und die Serie war ein Erfolg. Ganz so falsch konnte ich also nicht liegen.»

Figur Annekäthi brach die Regeln einer Sitcom

Annekäthi gelang, was eigentlich zum Scheitern bestimmt war: Das Publikum akzeptierte sie als Ersatz von Vreni. Die Leserkommentare im «Sonntags-Blick» attestierten ihr: «Eine Farbige, die Berndeutsch spricht, ist schlicht ein Hit», oder: «Schön, dass die Neue kein naives Heidi ist, sondern jemand mit anderer Hautfarbe, der genauso zu unserer Gesellschaft gehört.» Und waren überrascht davon, dass die neue Mitbewohnerin Dialekt spricht: «Annekäthis Berndeutsch sitzt! Nur ihr resolutes Auftreten sagte mir nicht zu.»

Die neue Figur von «Fascht e Familie» war selbstbewusst und forderte ihre Mitbewohner gerne heraus. Sie praktizierte Kampfsport, liess sich von Männern nicht klein machen und hatte einen grossen Traum: ein eigenes Geburtshaus zu eröffnen. Für Annekäthi und ihre Vision brach Charles Lewinsky zum ersten Mal in der Serie die Regeln einer Sitcom. Diese besagen, dass jede Folge für sich stehen kann. Am Anfang jeder Folge steht eine Katastrophe, am Schluss wird sie wieder aufgelöst. «Am Ende der Folge hat sich nichts geändert, und die Figuren haben nichts gelernt», erklärt der Autor.

Nun aber erlaubte sich Lewinsky, einen Erzählstrang über eine ganze Staffel zu schreiben. «Das kennt man eigentlich aus Soaps», sagt Lewinsky. Annekäthi aber arbeitete nun eine ganze Staffel auf ihr Geburtshaus hin – und sollte es am Schluss eröffnen. «Es war die letzte Staffel. Deshalb erlaubte ich mir, Bögen, die nie enden sollten, abzuschliessen.» So kam es auch, dass in der letzten Folge Tante Martha in ein Altersheim ziehen würde – etwas, wogegen sie sich seit der ersten Folge gewehrt hatte.

Diversität als Fait accompli

Für Sandra Moser änderte sich mit ihrer Rolle als Annekäthi das Leben auf einen Schlag. Plötzlich wurde sie in der ganzen Schweiz erkannt. «Das hat mich oft gestresst. Ich fühlte mich beobachtet», sagt sie rückblickend. «Andererseits ist man mir plötzlich überall mit Respekt begegnet. Respekt, den ich vorher manchmal vermisst hatte.» Sie habe mehrheitlich positive Reaktionen erhalten, erzählt Moser. «Aber damals gab es noch keine Social Media. Und schon da fanden einige Leserbriefschreiber: ‹Das wäre jetzt nicht nötig gewesen.›»

Die Rolle hatte ihr nicht nur ein grosses Publikum beschert, sondern auch Angebote für weitere Rollen. Viele waren von Stereotypen gezeichnet. «Mal sollte ich eine Putzfrau spielen, mal eine Prostituierte, und oft wurde mir angeboten, die ‹lustige Schwarze› zu spielen», erzählt Moser. «Dann gab es Stücke wie ‹Die schöne Fremde›, in der Diversität problematisiert wurde», sagt Moser. «Ich hatte aber wenig Lust, eine Rolle nur wegen meiner Hautfarbe anzunehmen.»

Wollte sie hingegen Figuren spielen, die damit nichts zu tun hatten, sei es vorgekommen, dass ihr diese aufgrund ihrer Hautfarbe verwehrt blieben – das Gretchen in Goethes «Faust» etwa. «‹Die Welt ist noch nicht bereit für ein schwarzes Gretchen› hiess es damals.» Sandra Moser hält kurz inne. «Vielleicht hatten sie recht.»

Sandra Moser reichte es bald nicht mehr, nur zu spielen und Anweisungen entgegenzunehmen. Sie wollte mitgestalten. Deshalb führte sie bald selber Regie. «Das war auch einfacher mit zwei kleinen Kindern zu vereinbaren», sagt Moser. Noch während der letzten Staffel «Fascht e Familie» wurde sie schwanger.

Ihre Kinder sind inzwischen erwachsen, die Tochter spielt selber am Theater in Bern, ihr Sohn geht noch zur Schule. Seit ein paar Jahren schreibt Sandra Moser Drehbücher, sie hat dafür einen Master absolviert. Neben ihren Kulturprojekten führt sie heute auch eine Shiatsu- und Naturheilpraxis in Basel. «Da will ich meinen Patientinnen eine gewisse Regelmässigkeit garantieren. Auch deshalb liegen mehrwöchige Drehs kaum drin.»

Jüngst hat sie eine kleinere Rolle beim Schweizer «Tatort» sowie im Kurzfilm «La gravidité» übernommen, beim interaktiven Theaterstück «Salm Ethos» an den Kunsttagen in Basel hat sie Regie geführt, und gerade schreibt sie an Drehbüchern für eine Serie, die noch «ganz am Anfang» stehe. In ihren eigenen Stücken thematisiert sie Diversität, aber am liebsten stellt sie das Thema als Fait accompli dar, als vollendete Tatsache. «Ich finde es uninteressant, People of Color oder auch die Rolle von Frauen immer zu problematisieren und sie als Opfer abzubilden», erklärt Moser. «Das braucht es auch. Aber ich zeige lieber, wie es sein könnte.»

Moser bevorzugt Ambivalenz, komplexe Figuren und nuancierte Geschichten – auch in Bezug auf Diversität. «Gerade im Mainstream-Film hat man heute etwas Angst vor der Komplexität.» Das spüre sie zum Beispiel, wenn sie als PoC eine Antagonistin spiele, die gefangen sei in einem gesellschaftlichen System. «Es gibt Stimmen, die finden, dass ich so eine Rolle als PoC nicht spielen sollte.»

Die Kulturszene fordert Diversität

Gerade in der Kulturszene habe sich in den vergangenen Jahren viel geändert, was den Umgang mit Minderheiten angehe, erzählt Moser. Das hat auch mit der «Black Lives Matter»-Bewegung zu tun: Was als Bürgerrechtsbewegung begann, führte zu einer allgemeinen Sensibilisierung darüber, wie in der Gesellschaft mit PoC umgegangen wird – und wie unterrepräsentiert sie in den Medien sind. «Das Bewusstsein ist gewachsen. Und damit auch das Netzwerk von PoC-Kulturschaffenden.» Plötzlich ist Moser nicht mehr die Einzige. Das Alleinsein stecke ihr zwar noch immer in den Knochen. «Aber heute spüre ich ein Wir-Gefühl, nicht mehr nur ein Ich-Gefühl.»

Diversität ist heute in der Filmszene nicht mehr wünschenswert, sondern eine Forderung. Das zeigt sich auch an Checklisten, wie sie etwa die Zürcher Filmstiftung führt. Die Produzenten und Drehbuchautoren werden darin angehalten, eines oder mehrere Themen wie «Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Identitäten, Migration, Leben mit gesundheitlicher oder körperlicher Beeinträchtigung» aufzugreifen. Weiter sollen in den Figuren etwa «Geschlechter vielfältig repräsentiert» und «klischeehafte Rollenbilder» vermieden werden.

Die Casterin Ruth Hirschfeld, die Sandra Moser zu «Fascht e Familie» geholt hat, ist dieses Jahr in den Ruhestand getreten. Die Anforderungen an Schauspieler hätten sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Das sieht sie auch kritisch: «Man ist nicht mehr so frei in der Auswahl wie früher.» Gleichzeitig betont sie, dass es gut sei, dass nun eine andere Generation in der Branche den Ton angebe: «Wir haben uns ja damals auch schrecklich über die Alten aufgeregt, die nichts verändern wollten.»

Ihre Kollegin Corinna Glaus von Glaus & Gut Casting bestätigt, dass Diversität heute eine viel grössere Rolle in der Auswahl von Schauspielern einnehme. Das halte sie zwar für richtig, es berge aber durchaus Schwierigkeiten: «Wir sind ein kleines Land. Der Pool an Schauspielern ist nicht besonders gross», sagt sie. «Es kommt deshalb vor, dass wir für die Besetzung mancher Rollen auf Schauspielerinnen aus dem Ausland zurückgreifen müssen.» Betrifft es eine Figur, die in der Schweiz sozialisiert wurde, sei die Herausforderung besonders gross.

Sandra Moser findet nicht, dass die Anforderungen heute zu weit gingen. Checklisten wie jene der Zürcher Filmstiftung hält sie für ein positives Statement. «Es zwingt uns dazu, uns zumindest mit dem Thema auseinanderzusetzen», erklärt Moser. Darum sei es wichtig, dass damit gearbeitet werde – zumindest im Moment. «Mein Wunsch wäre natürlich, dass dieses Einfordern irgendwann gar nicht mehr nötig ist, weil Diversität eben selbstverständlich wäre», sagt sie.

Vom Vorwurf, dass auf diesem Weg schlechtere Darstellerinnen gecastet würden, um den Vorgaben zu entsprechen, hält sie wenig. «Das impliziert, dass es zu wenig begabte diverse Darstellerinnen gebe. Das ist aus meiner Sicht schlicht nicht wahr.»

«Man soll eine Sitcom nicht mit Bedeutung überfrachten»

Die Figur von Annekäthi hat den Grundstein dafür gelegt, dass PoC heute auch in der Schweiz selbstverständlich für Filme und Serien gecastet werden. «Noch heute passiert es mir, dass mir junge People of Color erzählen, wie wichtig es für sie war, eine Figur wie Annekäthi im Fernsehen zu sehen», sagt Sandra Moser.

Der «Fascht e Familie»-Schöpfer Charles Lewinsky will sich trotzdem nicht damit brüsten, die erste PoC ins Fernsehen gebracht zu haben. «Ich erhielt furchtbar viel unverdientes Lob für Dinge, die gar nicht so gemeint waren», sagt er. «Man soll eine Sitcom nicht mit Bedeutung überfrachten.» Es sei nicht so, dass er die Besetzung Annekäthis für besonders fortschrittlich gehalten habe – es sei schlichtweg praktisch gewesen. Lewinsky resümiert: «Mein Ziel war es, ihre Hautfarbe nur einmal zu Beginn anzusprechen und sie anschliessend nie mehr thematisieren zu müssen.» Aus seiner Sicht sei ihm dies gelungen.

Für Sandra Moser liegt «Fascht e Familie» lange zurück. «Zum Glück sind wir heute als Gesellschaft weiter», sagt sie. Aber das Thema Rassismus lässt sie in ihrer Arbeit nicht los: zum Beispiel im Theaterstück «Flüüge Lüüge», das im März auf die Bühne kommt und bei dem sie Regie führt, oder in ihrem Film, für den sie derzeit noch Gelder sammelt. Sie hat das Drehbuch geschrieben und wird selbst Regie führen. Worum es genau geht, möchte sie noch nicht verraten. Nur so viel: Die Hauptrolle soll von einem PoC-Kind gespielt werden. Sandra Moser hat jene Figur geschaffen, die sie als Kind gerne im Fernsehen gesehen hätte.

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