Für vier Jahre ist der Schweizer Regisseur, Autor und Theaterdirektor Milo Rau Intendant der Wiener Festwochen. Sein Programm ist zweigleisig: Theateraufführungen und Konzerte werden begleitet und hinterfragt von politischen Diskussionen.

Das Hauptquartier der Wiener Festwochen, ihr Herzstück für Organisation und Diskurs, gleicht einer grossen Wohngemeinschaft. Als «Zwischenlösung» wurde den Veranstaltern der Bezug des derzeit aufgelassenen Wiener Volkskundemuseum zur Verfügung gestellt: das derzeit baufällige ehemalige Gartenpalais Schönborn im 8. Bezirk mit seinen verwinkelten Mauern und idyllischen Ecken scheint dabei ein idealer Platz zu sein für neues Leben in ruinösen Räumen.

Es herrscht hier ein buntes Gewusel. Ständig rennt jemand von da nach dort, treppauf, treppab. Durch die Gänge hetzen Kinder. Sie haben Zettel in den Händen. Auf Flip-Charts schreiben sie, dass der Besuch im Prater zu teuer sei. In Büros sitzen derweil Erwachsene konzentriert vor Laptops und formulieren hochtrabende Gedanken. Andere stehen vor mächtigen Stoffresten und schneidern Transparente. Zwei offene Türen weiter wird diskutiert, während eine Frau gleichzeitig an einem Wandgemälde arbeitet; eine andere hat sich mit einem Salat in einen ruhigen Winkel verzogen.

Ein Bett für den Intendanten

Irgendwo sieht es aus wie bei Kafkas zu Hause: Ein überdimensionales Bett in einem kahlen Durchgangszimmer, das an die Wohnung des Prager Dichters erinnert. Jetzt am Mittag ist die Bettdecke wirr zurückgeschlagen, als wäre jemand gerade erst aufgestanden. Vielleicht lag Milo Rau vor wenigen Augenblicken noch darin. Es ist jedenfalls für ihn reserviert, den Intendanten der Wiener Festspiele. Er soll, so die Pressesprecherin, ein paarmal hier genächtigt haben. Mittendrin in seinem Reich, in seiner «Freien Republik Wien». Ruhe wird er da kaum gefunden haben, aber die sucht er hier auch nicht.

Später lässt er sich im lauschigen Hof des Museums nieder. Er steckt sich eine Zigarette an, lehnt sich auf einer Bank zurück und ist zufrieden: «Es gibt eine Gesellschaft, die Verantwortung übernehmen will», sagt er. Man müsse den Menschen nur Angebote machen, sich einzubringen. In diesem Sinne hat er im Rahmen der Festwochen die «Freie Republik Wien» ausgerufen, die so etwas wie ein Gegenmodell zur Realität sein soll – weil in der Wirklichkeit demokratische Selbstverständlichkeiten gerade wegbrächen.

In Raus Republik gibt es nun Basisdemokratie mit Räten und Gremien. Da wird in drei streng getakteten Prozessen samt professionellem Justizpersonal Anklage erhoben gegen staatliche Aktionen während der Pandemie. Rechte Politiker wie die ehemalige AfD-Frau Frauke Petry dürfen ihre Stimme erheben, wenn sie von linken Kritikern beschuldigt werden.

Und es wird debattiert, ob die hoch subventionierten Festwochen das, was sie an Kunst und Politik bieten, auch gleich wieder infrage stellen dürfen. Hier wird Milo Rau selber in den Zeugenstand treten, um sein System zu verteidigen. Er versuche, so Rau, die Kulturveranstaltung erfolgreich stattfinden zu lassen und gleichzeitig kritisch zu hinterfragen.

Unterdessen muss man feststellen, dass durch den Spagat einiges in Bewegung geraten ist. Die «Freie Republik» erfreut sich mächtigen Zulaufs, die Podien und Workshops mit Titeln wie «Initiative Minderheiten», «Klimavolksbegehren» oder «Hochkultur vs Populärkultur» sind ausgebucht, die Säle überfüllt.

Bedürfnis nach Partizipation

Auch die anfänglich skeptische Wiener Presse muss zugeben, dass diese Art von Demokratisierung des Kulturbetriebs sinnvoll ist – auch wenn sie Rau als «Sankt Milo» verspottet. Das Bedürfnis aber, mitzugestalten, ist offenbar gross. Im «Rat der Republik» sitzen 31 internationale und lokale Künstler und 69 Bürger aus 23 Wiener Bezirken.

Von diesem Gremium sollen Impulse für die Zukunft ausgehen. Milo Raus Intendanz dauert vier Jahre, in denen er aus den Erfahrungen lernen und das Programm der Festwochen den Wünschen des Publikums und der Künstler anpassen will. Wie die Festwochen künftig aussehen wird, kann noch niemand sagen – anders auf jeden Fall.

Im Grunde laufen die diesjährigen Festwochen zweigleisig. Hier die Republik, die jedem, der ein Unbehagen an Staat und Kultur hat, Asyl und weit offene Ohren bietet. Dort diese seltsam kühne Mischung aus seriösem bürgerlichem Unterhaltungs-Anspruch und provozierender Performance, inszeniert an den verschiedensten Spielorten der Stadt. Einmal ist das eine Akademie für weibliche Komponistinnen, einmal Wagners Tristan in blutiger Schlachthof-Atmosphäre oder auch Kim de l’Horizons queeres «Blutstück».

Das Spektrum der internationalen Produktionen ist wild und bunt. Wer sich darauf einlässt, gerät mitunter vom sakralen Aufruhr direkt in die stumme Atmosphäre einer abgelegenen Insel. Zwischen Florentine Holzingers «Sancta» und Peter Brooks «Tempest Project» zum Beispiel liegen Welten, was Milo Raus Idee von subventionierten Kulturveranstaltungen entspricht. Provokation trifft auf Kontemplation, und die schrillen Möglichkeiten zeitgeistiger Dramatik stehen wie selbstverständlich neben der herausfordernden Stille des Dichterwortes.

Und doch ist bei beiden Stücken – um es gleich mit Shakespeares Prospero zu sagen – die Verwandlung der Motor. Einmal drastisch und mit der offenkundigen Lust an Verstörung, das andere Mal mit dem ungebrochenen Mut zum Altmodischen, das wie ein Gegenentwurf zur ausladenden Zerstörung aller Gewissheiten zelebriert wird.

Man weiss bei der Performerin und Choreografen Florentine Holzinger, die in Deutschland als eine Erlöserin aus dem muffen Theaterfundus gefeiert wird, wo es langgeht. Mit «Sancta» hat sie sich zwar erstmals mit grossem Orchester an eine Oper gewagt. Aber Paul Hindemiths Werk hat sie derart gegen den Strich und alle Konvention gebürstet, dass am Ende nur wieder eine «echte Holzinger» herauskommen konnte: Mit all den Versatzstücken, die auf der Bühne wie ein bombastisches Puzzle zusammengesetzt wurden.

Ein Hippie-End

Holzingers Probleme mit Gott und der Kirche wird zu einem Spiel mit nackten Akteurinnen und braven Nonnen, das höchstens in einem Bibelkreis in Worms noch als anstössig empfunden werden mag. In «Sancta» arbeitet sie sich krampfhaft ab an Blasphemie, streckt ihre unheilige Wallfahrtstour de force mit drastischen Bildern und albernen Tanzeinlagen. Kulturschändung an der Sixtinischen Kapelle, Kopulieren am Kreuz, Onanieren und Jubilieren: Zuletzt mündet diese sakrale Rocky-Horror-Picture-Show wie in der richtigen Kirche in die subversive Ritualisierung – ins «Hippie-End», wie ein Kritiker richtig schrieb.

Und natürlich scheint da Peter Brooks «Tempest Project», das andern Tags im Jugendstiltheater auf der Baumgartnerhöhe inmitten von Otto Wagners architektonischer Pracht geboten wird, im Vergleich aus der Mode und der Zeit gefallen. Es kann auch nur als Requiem begriffen werden. Denn diese Auseinandersetzung mit Shakespeares «Sturm» war die letzte Arbeit des grossen Bühnen-Zauberers Peter Brook.

Karg und ohne Ablenkung, dem Wort und den kleinsten Gesten verpflichtet, wird die Insel-Geschichte nacherzählt. Allerdings mit der Kraft und Ruhe eines Ensembles, das sich den finalen Gedanken des 2022 verstorbenen Meisters perfekt unterordnet. Kein Zuviel ist da und nichts fehlt, um noch einmal dem Geist Brooks nachzuspüren. Ein Vermächtnis und auch der Abschied von einem Theater, das es so nicht mehr geben wird.

Oder doch noch? Gerade in Wien? Das Motto der Festwochen und wie sie in den nächsten vier Jahren weitergehen könnten, heisst schliesslich «Vorwärts zu den Anfängen – Zurück in die Zukunft». Mit anderen Worten: Es war nicht alles schlecht, was noch kommen wird.

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