Sonntag, September 8

Reuters

Wieder haben Hunderttausende Palästinenser vor einer israelischen Offensive fliehen müssen. Die Zustände in der von Israel definierten «humanitären Zone» sind prekär – eine baldige Rückkehr nach Rafah ist nicht in Sicht.

Wenige Tage nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober, bei dem rund 1200 Israeli ermordet und mehr als 250 Menschen in den Gazastreifen verschleppt wurden, riefen die israelischen Streitkräfte (IDF) eine «humanitäre Zone» um das Dorf al-Mawasi aus. In das Gebiet im südlichen Gazastreifen würden so viele humanitäre Hilfsgüter geliefert, wie benötigt würden, hiess es von den IDF. Zu dem Zeitpunkt hatte die israelische Bodenoffensive im Gazastreifen noch nicht begonnen, und das als «humanitär» designierte Gebiet war noch klein. Nur wenige Palästinenser waren vor den Kämpfen geflohen.

Satellitenbilder zeigen, wie schnell sich das verändert hat – vor allem, seitdem Israel am 6. Mai seinen Angriff auf Rafah begonnen hat. Die Armee vermutet in der südlichsten Stadt des Gazastreifens die letzten verbleibenden Bataillone der Hamas sowie israelische Geiseln. Für die rund 1,5 Millionen Menschen, die in Rafah vor den Kämpfen im Norden des Gazastreifens Schutz gesucht hatten, sind die Konsequenzen des Einmarsches massiv. Wieder müssen sie fliehen und unter oft erbärmlichen Bedingungen in völlig überfüllten Zeltlagern unterkommen.

«Viele der Menschen mussten aus Rafah mit ihren Kindern und ihrem Hab und Gut mehrere Kilometer zu Fuss fliehen», sagt Hisham Mhanna, der als Sprecher des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) vor Ort im Gazastreifen ist. Die Zustände in der humanitären Zone seien schlecht, sagt er im Gespräch. «Al-Mawasi ist eine leere Sandfläche, ohne ausreichende Infrastruktur, um so viele Menschen aufzunehmen.» Es gebe kaum Gebäude, kaum Trinkwasser und keine medizinische Versorgung bis auf ein funktionierendes Spital in Khan Yunis und die sieben Feldspitäler, die Hilfsorganisationen im südlichen Gazastreifen betreiben würden.

Die meisten Menschen in al-Mawasi seien physisch und psychisch vollkommen erschöpft, sagt Mhanna. Die Flüchtlinge aus dem Norden seien bereits mindestens fünf Mal vertrieben worden. Hilfe gibt es für die meisten Personen nicht: «Das Gesundheitssystem im Gazastreifen ist kollabiert.» Krankheiten wie Hepatitis A, Atemwegserkrankungen und Meningitis breiteten sich in dem Gebiet schnell aus. Da es nur wenige sanitäre Anlagen in al-Mawasi gebe, sei davon auszugehen, dass sich die Situation bald verschlechtere, sagt der IKRK-Sprecher.

Auch Jonathan Fowler, ein Sprecher des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA), sagt, dass al-Mawasi nicht der richtige Ort für eine «humanitäre Zone» sei. «Dort hat es nie die nötige Infrastruktur gegeben, um halbwegs adäquate Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen», sagt Fowler im Gespräch. «Daher haben wir nun dort ein Meer an Zelten mit all den Problemen, die das hervorbringt: keine stetige Trinkwasserversorgung, kein Abwassersystem und grosse Gesundheitsrisiken.»

An eine baldige Rückkehr in feste Häuser ist für die Hunderttausende Flüchtlinge nicht zu denken. Am Freitag bestätigten die IDF erstmals, dass israelische Soldaten auch im Zentrum von Rafah kämpfen. Ein Ende des Kriegs ist nicht absehbar. Der Berater für nationale Sicherheit der israelischen Regierung, Tzachi Hanegbi, sagte am Montag, er gehe davon aus, dass die Kämpfe im Gazastreifen noch weitere sieben Monate andauern würden. 2024 werde ein «Jahr des Krieges» sein.

Rewert Hoffer, Tel Aviv (Text und Recherche), Cian Jochem (Karte), Jessica Eberhart (Recherche)

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