Am Wochenende starben auf den Golanhöhen nach einem Raketeneinschlag zwölf Kinder. Acht Tage zuvor war Tel Aviv von einer Huthi-Drohne getroffen worden. Die Lagekarte mit drei Szenarien.
Die israelische Luftwaffe sah die Drohne offenbar schon sechs Minuten vor dem Einschlag als Punkt auf den Radar-Bildschirmen. Sie näherte sich Tel Aviv aus der gleichen Richtung wie die Flugzeuge im Landeanflug auf den Flughafen Ben-Gurion. Vielleicht hat deshalb niemand den Befehl zum Abschuss, geschweige denn zur Alarmierung gegeben. Die israelische Armee spricht von «menschlichem Versagen».
Den Huthi, einer bewaffneten Gruppe aus Jemen, ist es gelungen, die israelische Luftverteidigung zu täuschen. Die Drohne flog laut verschiedenen Quellen über 2000 Kilometer vom Roten Meer durch den ägyptischen Luftraum, bis sie im Zentrum von Tel Aviv explodierte. Es war Freitag, der 19. Juli, um 3 Uhr 12; ein Mensch starb.
Israel antwortete mit einem ebenso spektakulären Gegenangriff auf den jemenitischen Hafen von al-Hudaida. Der israelischen Luftwaffe war es gelungen, unentdeckt und in grosser Entfernung von Israel einen heftigen Luftangriff auszuführen. Beide Seiten, die Huthi und die Israeli, demonstrierten ihre militärischen Fähigkeiten.
Analyse der aktuellen Lage
Amos Harel, der Militärspezialist der linken israelischen Tageszeitung «Haaretz», der auch auf Schauermeldungen normalerweise mit abgeklärten Einschätzungen reagiert, bewertete den Angriff der Huthi auf Tel Aviv als «dramatische neue Phase des Krieges». Israels Mehrfrontenkrieg werde härter – und der Konflikt sei dabei, sich auf die ganze Region auszuweiten, schrieb Harel noch am Tag der Drohnenattacke.
Nur acht Tage später wurde in der Golan-drusischen Siedlung Majdal Shams auf den Golanhöhen, ganz im Norden Israels, ein Fussballfeld von einer mutmasslich fehlgeleiteten Rakete aus Südlibanon getroffen. Es war Samstagnachmittag, die Kinder aus der kleinen Stadt spielten Fussball, zwölf von ihnen starben. Israel flog sofort einen Luftangriff gegen Stellungen des Hizbullah in Südlibanon.
Die schiitische Miliz hat die israelische Armee, die Israel Defense Forces (IDF), schon vor Monaten dazu gezwungen, die Bevölkerung aus den nördlichen Grenzgebieten zu evakuieren. Die Drusen sind geblieben. Am Sonntagabend billigte das israelische Sicherheitskabinett einen umfassenden Gegenangriff auf den Hizbullah.
Der Hizbullah gehört zur iranischen «Achse des Widerstands», gleich wie die Huthi in Jemen und die Hamas in Gaza. Über diese drei Terrormilizen hat Iran Israel von mindestens drei Seiten angegriffen, ohne sich direkt an den Kämpfen zu beteiligen. Das Regime in Teheran beliefert die Huthi und den Hizbullah zudem mit Drohnen, die 2000 Kilometer weit fliegen können. Die «Achse des Widerstands» ist in der Lage, Ziele in ganz Israel zu treffen.
Trotz allen Versuchen, den Krieg, den die Hamas am 7. Oktober mit ihrem Massaker in Südisrael begonnen hat, auf den Gazastreifen zu beschränken: Der Blick auf die Ereignisse allein der letzten drei Monate verdichtet den Eindruck einer schleichenden Eskalation.
Auf der Lagekarte haben wir auf der Basis öffentlich zugänglicher Daten alle Angriffe des Hizbullah und der Huthi während der letzten drei Monate auf Ziele in Israel sowie die Gegenschläge der israelischen Luftwaffe eingetragen, um allfällige Muster erkennen zu können:
Die Drohnenattacke der Huthi auf Tel Aviv war bisher ein Einzelfall. Das Schwergewicht der Angriffe liegt eindeutig im Norden. Die Hamas dagegen scheint nur noch beschränkt in der Lage zu sein, aus dem Gazastreifen heraus die israelischen Ballungszentren zu beschiessen. Ende Mai feuerte die Terrorgruppe von einer Stellung in Rafah letztmals eine Welle von acht Raketen Richtung Tel Aviv, drei wurden vom Iron Dome, einem israelischen Luftverteidigungssystem, abgeschossen. Tote und Verletzte gab es keine.
Aus dem besetzten Westjordanland gab es bisher weder Raketen- noch Drohnenangriffe, die tatsächlich ein Ziel in Israel getroffen haben. Die israelische Armee ist mit Bodentruppen präsent und arbeitet punktuell mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zusammen. So gelang es, sämtliche Versuche sofort und erfolgreich zu stoppen.
Im Kampf gegen den Hizbullah ist Israel weniger erfolgreich. Die Ziele in Südlibanon bekämpfen die IDF bis jetzt nur aus der Distanz. Militärisch ist deshalb ziemlich klar: Allein aus der Luft können nicht alle Raketenstellungen und Munitionsdepots des Hizbullah vernichtet werden. Diese Erkenntnis könnte die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu dazu bewegen, in Südlibanon ähnlich wie in Gaza vorzugehen und auch Bodentruppen einzusetzen.
Israel im Kampf gegen die «Achse des Widerstands»
Der Konflikt zwischen Israel und dem Hizbullah reicht bis in die 1980er Jahre zurück. Im libanesischen Bürgerkrieg gruppierten sich die schiitischen Kräfte unter dem Dach der «Partei Gottes», die den iranischen Revolutionsführer als geistiges Oberhaupt anerkennt. Sukzessive übernahm der Hizbullah die Kontrolle über weite Teile Libanons, unter anderem direkt an der Grenze zu Israel.
1985 besetzten die IDF einen Streifen Südlibanons und zogen sich erst 2000 nach ständigen Gefechten zurück. Die Entführung zweier Israeli führte 2006 zu einem weiteren Libanonkrieg. Nach dem 7. Oktober und der israelischen Offensive in Gaza verzichtete der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah auf einen Grossangriff. Er schien sein Arsenal für später zu schonen – für eine Eskalation, wie sie sich jetzt abzeichnet.
Mit den Huthi ist ein zusätzlicher Akteur aus der «Achse des Widerstands» in den direkten Kampf gegen Israel eingetreten. Bereits am 19. Oktober 2023 feuerten die Huthi Raketen und bewaffnete Drohnen auf Eilat im Süden Israels ab. Seitdem haben sie im Roten Meer Dutzende von Handels- und Marineschiffen angegriffen, nur weil sie einen israelischen Hafen zum Ziel hatten.
Die USA schickten deshalb zeitweise gleich zwei Flugzeugträger in die Region: einen ins östlichen Mittelmeer, um den Hizbullah abzuschrecken, einen zweiten gegen die Huthi ins Rote Meer. Es gelang allerdings nicht, die Angriffe zu stoppen. Seit der Drohnenattacke auf Tel Aviv und dem israelischen Gegenschlag auf al-Hudaida hat sich das Gefechtsfeld der «Achse des Widerstands» räumlich beträchtlich erweitert.
Israel ist nicht mehr mit bewaffneten Gruppen konfrontiert, die mit den Mitteln des Terrors und der Taktik des Kleinkriegs kämpfen, sondern mit kleinen Armeen, die Israel offensiv und defensiv ernsthaft herausfordern können. Die neueste «Military Balance» des International Institute for Strategic Studies (IISS) aus Grossbritannien weist die einzelnen Fähigkeiten im Detail aus:
- Hizbullah: Die Organisation verfügt nicht nur über weitreichende Lenkwaffen, sondern ist auch in der Lage, Bodentruppen einzusetzen. Laut IISS stehen 20 000 Kämpfer permanent zur Verfügung, zusätzlich kann der Hizbullah in seinen Gebieten rund 30 000 «Reservisten» mobilisieren. Zudem wurde in den vergangenen Jahren das Gelände in Südlibanon konsequent für die Verteidigung vorbereitet: Die Führungseinrichtungen, die Waffenstellungen und auch die Unterkünfte der Hizbullah-Milizen sind unter Tag in verbunkerten Anlagen. Auch die Kommunikation dürfte über unterirdisch verlegte Drahtnetze erfolgen, die nicht abgehört werden können. Die israelische Armee kann den Hizbullah am Boden kaum bezwingen.
- Huthi: Die Miliz kontrolliert rund ein Viertel Jemens, darunter die Hauptstadt Sanaa. Nach einem Bericht des IISS bauen zurzeit auch die Huthi ein Bunkersystem. Damit können sie unter anderem ihre weitreichenden Waffen vor Luftangriffen der Amerikaner und der Israeli schützen. In ihrem Angriffsarsenal haben die Huthi vor allem Drohnen und «loitering munition», gelenkte Flugkörper, die ihre Ziele selbst suchen. Besonders gefährlich sind die iranischen Shahed-136, die auch von der russischen Armee gegen Ziele in der Ukraine eingesetzt werden, oder die Samad 3. Mit einer Modifikation dieses Typs wurde mutmasslich der Angriff auf Tel Aviv ausgeführt. Über die Reichweiten dieser Drohnen werden unterschiedliche Angaben gemacht.
Die IDF sind den Huthi und dem Hizbullah technologisch weiterhin überlegen. Eines der Schlüsselsysteme ist der F-35I, der dank seiner Tarnkappen-Technik, Stealth im Jargon, keine Radar-Signatur hinterlässt. Die israelische Luftwaffe kann deshalb hochpräzise Angriffe fliegen, ohne entdeckt zu werden. Die Piloten erhalten zudem ein umfassendes Lagebild, das mit künstlicher Intelligenz aus mehreren Sensoren zusammengestellt wird.
Ein weiteres Plus Israels ist ein dreistufiges Luftverteidigungssystem, das einen weitgehenden Schutz gegen praktisch alles, was fliegt, bietet: mit Iron Dome gegen Kurzstreckenraketen, David’s Sling gegen Gefahren mittlerer Reichweite und Arrow, das Geschosse in Höhen von 10 bis 50 Kilometern abfangen kann. Der Einsatz der verschiedenen Systeme verschlingt Unsummen von Geld.
Einer der wichtigsten Vorteile für Israel dürfte weiterhin die umfassende Aufklärung darstellen: Über Daten aus dem Internet, mit Satelliten oder ganz klassisch mit Spezialkräften im Feld sind die IDF umfassend über ihre Gegner informiert. Iran holt aber auf und versorgt seine Verbündeten mit nachrichtendienstlichen Informationen über die israelischen Schwachstellen.
Mit iranischer Unterstützung sind der Hizbullah und die Huthi in der Lage, Israel empfindlich zu treffen: koordiniert, mit verschiedenen Waffensystemen über grosse Distanz. Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 war der Auftakt dieser terroristisch motivierten Multi-Domain Operations, also militärischer Operationen am Boden, in der Luft, mit gezielten Informationen oder im Cyberraum. Die Milizen der «Achse des Widerstands» sind für die IDF in bestimmten Bereichen ebenbürtig geworden: zu symmetrischen Gegnern, wie es in der Fachsprache heisst.
Gegenwärtig warten alle Akteure auf den israelischen Gegenangriff auf den Hizbullah. Die Frage ist: Wie hart und wo schlagen die IDF zu? Gleichzeitig droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan damit, mit militärischen Mitteln einzugreifen – so wie 2020 im Konflikt um Nagorni Karabach oder im libyschen Bürgerkrieg: Die türkische Armee belieferte die Armee Aserbaidschans mit Waffen und Daten über die armenischen Stellungen.
Wird das Nato-Land Türkei die libanesische Regierung unterstützen, falls die israelische Luftwaffe Ziele in Beirut angreift? Die IDF hätten es dann gleich mit zwei Regionalmächten zu tun – zwei Akteure mit gegensätzlichen Interessen kämpften nebeneinander gegen Israel. In Syrien und in Libyen waren solche Konstellationen von indirekt Verbündeten mit unterschiedlichen Interessen in letzter Zeit durchaus möglich.
Eine Verschmelzung der verschiedenen Konflikte wird wahrscheinlicher. Es sind die unterschiedlichsten Szenarien einer weiteren Eskalation denkbar, drei grundsätzliche Varianten sollen zur Diskussion gestellt werden:
- Israelischer Präventivschlag: Israel beschränkt sich bei der Vergeltung für die Tragödie von Majdal Shams vorerst auf gezielte Luftangriffe in Südlibanon. Nach einer relativen Beruhigung der Kämpfe in Gaza können die IDF ihre Kräfte im Norden konzentrieren. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu benutzt die Möglichkeit, am Boden und aus der Luft einen Präventivschlag gegen den Hizbullah zu führen. Die IDF werden in zähe Kämpfe verwickelt. Die iranischen Revolutionswächter und syrische Milizen greifen ein. Israel fliegt Luftangriffe auf Iran.
- Kettenreaktion nach Gegenschlag: Die Huthi und der Hizbullah greifen weiterhin Ziele in ganz Israel an. Die IDF müssen ihre Luftverteidigung noch dezentraler aufstellen als bisher. Immer mehr teure Lenkwaffen werden zur Abwehr von verhältnismässig günstigen Drohen eingesetzt. Die israelische Regierung reagiert mit Luftangriffen in Libanon und Jemen. Die Huthi beschiessen Saudiarabien. Riad soll zu Gegenangriffen und damit faktisch an die Seite Israels gedrängt werden. Diese konstruierte Achse könnte dann Iran zum Anlass nehmen, ebenfalls direkt einzugreifen.
- Koordinierter Angriff auf Israel: Vor den US-Wahlen wagt der Hizbullah, am Boden nach Israel einzudringen und einen Teil der evakuierten Gebiete im Norden einzunehmen. Das Gelände dafür ist ideal. Die Offensive wird von mehreren Wellen von Raketen- und Drohnenangriffen auf Städte und kritische Infrastrukturen begleitet. Die Huthi unterstützen den Hizbullah. Iran liefert die Daten und unterstützt mit Attacken im Cyberraum. Alle Aktionen werden koordiniert ausgeführt. Die IDF geraten in die Defensive und brauchen die Unterstützung ihrer Partner. Die USA werden gezwungen, aktiv in den Krieg einzugreifen.
Allen Szenarien gemeinsam ist: Die militärische Kraft der IDF ist nicht mehr hinreichend überlegen, um die aggressiven, bewaffneten Gruppen in der Region vor einem grossen Angriff abzuschrecken. Falls auch Iran aktiv eingreift, ist Israel auf die Unterstützung der USA angewiesen. Die iranische Angriffswelle im vergangenen April konnte nur dank der Koordination durch das amerikanische Central Command und verbündete Luftwaffen abgewehrt werden.
Um die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation abzuschätzen, spielen die strategischen Ziele Irans und seiner Verbündeten sowie der israelischen Regierung eine entscheidende Rolle. Wenn man von der Formel ausgeht, dass sich die Bedrohung als Produkt aus den militärischen Fähigkeiten und den politischen Absichten ergibt, dann hat Israel ein Problem: Das Potenzial, Israel empfindlich zu treffen, ist vorhanden, die Absicht ebenfalls.
Mit anderen Worten: Israel befindet sich in einer Krise der konventionellen Abschreckung. Das erhöht das Risiko, dass einer der Akteure in Kauf nimmt, Israel in einen offenen Krieg zu verwickeln.
Den wohl grössten Schutz vor einer solchen Eskalation bietet das israelische Nuklearpotenzial. Umso grösser ist die Furcht Israels vor einer iranischen Atombombe. Nur mit Mühe gelang es den USA bisher, Netanyahu von einem Präventivschlag gegen Iran abzuhalten. Der amerikanische Wahlkampf hat die Unberechenbarkeit der Lage zusätzlich erhöht.

