Montag, November 25

Ein Gescheiterter, ein Gerügter und ein Verurteilter bewerben sich um die Nachfolge des Präsidenten, der es schaffte, eine zunehmend polarisierte Gesellschaft zusammenzuhalten.

Man könnte fast meinen, in Finnland herrschten Verhältnisse wie in Nordkorea. In Meinungsumfragen geben regelmässig 90 Prozent der Befragten an, mit der Arbeit des Präsidenten zufrieden zu sein. Auf solche Zustimmungswerte kommen eigentlich nur autokratische Herrscher. Doch die Beziehung der Finninnen und Finnen zu Sauli Niinistö – im Volksmund «Sale» genannt – ist eine besondere.

Am 28. Januar wählt das finnische Stimmvolk einen neuen Präsidenten, und wenn es könnte, dann würde es zweifellos «Sale» wählen. Weil Finnland aber eben keine Autokratie ist, ist die Amtsdauer des Präsidenten auf zwölf Jahre begrenzt. Das Land ist gerade erst der Nato beigetreten und ist dabei, seine neue Rolle in dem Militärbündnis zu finden. Auf Niinistös Nachfolger – es wird mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Mann sein – wartet eine schwierige Aufgabe.

Die väterliche Stimme der Vernunft

In Finnland hat der Präsident im Grunde zwei Aufgaben: Er leitet die Aussenpolitik und gilt als moralische Autorität. Als Sauli Niinistö 2012 zum Präsidenten gewählt wurde, war Finnland ein Land, wo sich kaum einer um den Klimawandel sorgte, wo Menschen, die ihr biologisches Geschlecht ändern wollten, zwangssterilisiert wurden, und wo 65 Prozent der Bevölkerung gegen einen Beitritt zur Nato waren.

Die letzten zwölf Jahre brachten einen Wertewandel, aber auch eine zunehmende Polarisierung. Bei der Nato-Frage kam es zu einem kollektiven Umdenken. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine stieg die Zahl der Nato-Befürworter innert drei Monaten auf 76 Prozent, heute liegt sie bei 82 Prozent. Wenn es hingegen um die Migrationspolitik, den Ausbau von Sozialleistungen oder die Einführung eines offiziellen dritten Geschlechts geht, ist die Gesellschaft tief gespalten.

Trotz der Polarisierung hat es Niinistö geschafft, seine Beliebtheit in allen politischen Lagern zu steigern. Das hat auch damit zu tun, dass er immer wieder bereit war, seine eigene Haltung zu überdenken. Dies nicht nur in der Nato-Frage – Niinistö war lange gegen den Beitritt –, sondern etwa auch in der Umwelt- und Klimapolitik. In den neunziger Jahren war er als Finanzminister noch bekannt dafür, dass er mit Naturschutz wenig anfangen konnte. Später als Präsident hat er immer wieder vor den Folgen des Klimawandels gewarnt.

Seine Meinungsumschwünge hätte man Niinistö als Opportunismus oder Wankelmütigkeit auslegen können. Die Finninnen und Finnen taten es nicht. Der Präsident hat einen schwierigen Spagat geschafft: Er hat Haltung gezeigt, sich aber nie zu stark auf eine Seite geschlagen. Mit seinem ernsten Blick wirkte er wie ein Vater, der bei Bedarf einschreitet, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. So wie im letzten Sommer, als die Regierung von Petteri Orpo von einem Rassismusskandal erschüttert wurde.

Weil die Minister schwiegen, nahm der Präsident Stellung: Die Regierung täte gut daran, eine Nulltoleranz gegenüber Rassismus einzunehmen, sagte er an der Nato-Konferenz in Vilnius. Einen Monat später stellte Orpo einen Aktionsplan gegen Rassismus vor.

In der Aussenpolitik hat sich Niinistö als «Putin-Flüsterer» profiliert. Lange ist es ihm gelungen, einen guten Draht zum russischen Präsidenten aufrecht zu halten. 16 Mal soll er Putin getroffen und über 30 Mal mit ihm telefoniert haben, ehe der Kontakt wenige Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine abbrach. Anders als seine Vorgängerin Tarja Halonen, die in den letzten Jahren vermehrt dafür kritisiert wurde, Putin gegenüber blauäugig gewesen zu sein, soll Niinistö genau gewusst haben, woran er beim Kreml-Chef war. Eine Woche nach der russischen Invasion flog er zu Joe Biden nach Washington. Es war am Ende der «Putin-Flüsterer», der Finnland in die Nato führte.

Umstrittene Kandidaten

«Hoffentlich ist Sauli Niinistös Nachfolger kein Amateur oder Zufallspräsident, denn auch er wird Putin gegenüberstehen», titelte das finnische Magazin «Suomen Kuvalehti» wenige Wochen vor dem Ukraine-Krieg. Diese Hoffnung ist heute dringender denn je. Zur Auswahl stehen drei Kandidatinnen und sechs Kandidaten, von denen nur drei eine reale Möglichkeit haben, gewählt zu werden.

Einer von ihnen ist der ehemalige grüne Umwelt-, Entwicklungs- und Aussenminister Pekka Haavisto. Zuletzt war Haavisto Teil von Sanna Marins Mitte-links-Regierung. Als Aussenminister wurde er 2019 kritisiert, als er finnische Frauen und Kinder aus dem Flüchtlingslager al-Hol in Syrien repatriieren wollte. Das Problem waren vor allem die Mütter: Sie hatten sich einst freiwillig dem Terrornetzwerk Islamischer Staat angeschlossen und galten deshalb als Sicherheitsrisiko.

Haavisto soll auf intransparente Weise und an seinem Beamtenapparat vorbei an der Rückführung der Kinder und Mütter gearbeitet haben, ohne dass es dafür einen Konsens in der Regierung gab. Vom Verfassungsausschuss wurde er später dafür gerügt, einen kritischen Beamten versetzt zu haben.

Trotz der Kritik ist Haavisto von den linken Kandidatinnen und Kandidaten der einzige, der reale Chancen hat, in die zweite Runde zu kommen. Zusätzliche Stimmen könnte er aus der LGBTQ-Community erhalten. Haavisto wäre der erste homosexuelle Präsident Finnlands. Sollte er gewählt werden, würde der finnischen Armee künftig ein Mann vorstehen, der statt der Rekrutenschule den Zivildienst besucht hat.

Konkurrenz macht Haavisto der ehemalige finnische Ministerpräsident, Aussen-, Entwicklungs- und Finanzminister Alexander Stubb von der konservativen Nationalen Sammlungspartei. Die Boulevardzeitung «Ilta-Sanomat» liess Leserinnen und Leser den Kandidaten Fragen stellen. Jemand wollte von Stubb wissen, was ihn glauben lasse, die Aufgaben als Präsident zu meistern, wo er doch zuvor als Finanzminister, Parteichef und Ministerpräsident versagt habe.

Die Frage mag etwas zugespitzt sein, doch in Finnland herrscht ein breiter Konsens darüber, dass Stubb in seinem knappen Jahr als Ministerpräsident versagt hat. Das sagt auch er selbst. Unter ihm scheiterte unter anderem eine geplante Gesundheits- und Sozialreform – ein Thema, das Finnland bis heute begleitet. Zur gleichen Zeit geriet Stubb als Parteichef aus den eigenen Reihen unter Druck.

Trotz all der Kritik lag Stubb in den Wahlumfragen bis zuletzt vorn. Für ihn dürfte aus Sicht vieler Wählerinnen und Wähler sprechen, dass er schon als Aussenminister russlandkritisch war. Für Finnen eher untypisch gilt er als jemand, der gerne ein Netzwerk pflegt und souverän auftritt.

An dritter Stelle nach Stubb und Haavisto steht mit dem Kandidaten der Finnenpartei, Jussi Halla-aho, eine noch umstrittenere Figur als die oben Genannten. Halla-aho war bis 2019 EU-Parlamentarier und leitete bis 2021 die rechtskonservative Finnenpartei. Er ist in der Vergangenheit mit islam- und ausländerfeindlichen Äusserungen aufgefallen. 2012 verurteilte ihn der Oberste Gerichtshof wegen Aufstachelung zu Rassenhass und Gotteslästerung zu einer Geldstrafe. Er hatte in seinem Blog den Islam mit Kindesmissbrauch in Verbindung gebracht.

In der Fragerunde der Fernsehanstalt Yle gab sich Halla-aho geläutert. Heute würde er sich anders ausdrücken als in seinen 20 Jahre alten Blog-Posts, sagte er. Wie Stubb ist auch Halla-aho betont kritisch gegenüber dem Kreml. Er ist kein Stammtisch-Prolet, sondern weiss seine radikalen Meinungen eloquent zu formulieren. Es ist unwahrscheinlich, dass er gewählt wird, aber wenn sich die Stimmen der linken Wählerinnen und Wähler auf mehrere Köpfe verteilen, hat er durchaus Chancen, in die zweite Runde zu kommen.

In einer der zahlreichen Biografien, die über Sauli Niinistö geschrieben wurden, sagt dieser: «Ich will nicht, dass man sich an etwas Spezielles von mir erinnert. Ich will diese Aufgabe erledigen und ins Ziel bringen. Das ist ein Job.» Den Job hat er gut erledigt, darin sind sich die Finninnen und Finnen einig. Sein Wunsch wird ihm aber wohl nicht erfüllt. In den nächsten Jahren dürften noch viele an ihn zurückdenken.

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