Ein Bundestagsabgeordneter verliert nach Vorwürfen sexueller Belästigung seine Kandidatur. Doch mindestens ein Teil davon war frei erfunden. Der Fall dürfte seine Partei noch lange beschäftigen, auch juristisch.
Manchmal ist es ganz banal. Ein Lokalreporter fährt an der Adresse vorbei und stellt fest, dass der gesuchte Name nicht an der Klingel steht. Er befragt die Nachbarn, keiner kennt die Person. Eine Abfrage des Melderegisters ergibt schliesslich, dass es in Berlin niemanden mit diesem Namen gibt. So kam sie heraus, die Intrige gegen den grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar, die diesen sein Mandat gekostet und die ganze Partei in Turbulenzen versetzt hat. Die Anschuldigungen gegen Gelbhaar sind anscheinend grösstenteils erfunden. Das hat nun Folgen auf mehreren Ebenen.
Am Freitag hat der Sender Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) Teile seiner Berichterstattung zurückgezogen und über Zweifel an der Identität der Person berichtet, die Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Gelbhaar erhoben hatte. Zuvor hatte der Sender genau diese Anschuldigungen verbreitet, ohne seine Quellen richtig geprüft zu haben. Am Montag erwirkte Gelbhaar eine einstweilige Verfügung gegen den Sender, der die Anschuldigungen ungeprüft veröffentlicht hatte. Das Landgericht Hamburg sah den 48-Jährigen in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt. Auch Strafantrag ist gestellt. Gelbhaar ist selbst Strafverteidiger und daher bestens über die Rechtslage im Bilde.
Mit einer Entschuldigung, wie sie der Berliner Landespolitiker Andreas Otto gefordert hat, dürfte es nicht getan sein – nach einer solchen Aktion ist mit erheblichen juristischen Konsequenzen zu rechnen. Der grüne Kreisverband hat am Dienstagabend immerhin festgestellt, man habe enormen Reformbedarf. Eine Entschuldigung bei Gelbhaar gab es jedoch nicht. Der grüne Bildungspolitiker Özcan Mutlu trat demonstrativ aus der Partei aus und begründete den Schritt mit deren toxischen Machtstrukturen, die auch er schon zu spüren bekommen habe.
Es geht um die Ehre und um eine Menge Geld
Insbesondere für die Person hinter der erfundenen Person dürfte es nun ungemütlich werden. Sie könnte sich strafbar und schadenersatzpflichtig gemacht haben. Es geht um die Ehre und um Geld. Ganz schlicht entgehen Gelbhaar zum Beispiel Abgeordnetendiäten und Pauschalen von rund 800 000 Euro. So viel kommt in einer Legislatur zusammen. Doch das ist nicht alles. Auch Schmerzensgeld kann er für die Verletzung der Persönlichkeitsrechte verlangen. Strafrechtliche Konsequenzen kommen ebenfalls in Betracht – Anzeige wegen Verleumdung hat der 48-Jährige schon früh erstattet.
Im Fokus steht hierbei Shirin Kresse, die Frau, die unter dem Namen Anne K. eidesstattlich versicherte, von Gelbhaar sexuell belästigt worden zu sein. Dass sie inzwischen aus der Partei ausgetreten ist und alle Ämter niedergelegt hat, macht keinen Unterschied. Zu ermitteln wäre nun, ob sie die Intrige allein eingefädelt hat oder wer sonst noch beteiligt war.
Eine falsche eidesstattliche Versicherung ist zwar eine straflose schriftliche Lüge, wenn sie bloss gegenüber Journalisten abgegeben wird. Es wird aber eine strafbare Urkundenfälschung daraus, wenn sie «zur Täuschung im Rechtsverkehr» eingesetzt wird. Die Person, die das Schriftstück verfasst hat, wollte ja den Eindruck erwecken, als würde diese Urkunde von jemand anders stammen.
Politikerbeleidigung, der «Habeck-Paragraf»
In Betracht kommen weitere Straftatbestände. «Falsche Verdächtigung zum Beispiel, aber da haben wir dasselbe wie bei der eidesstattlichen Versicherung», sagt der Düsseldorfer Strafverteidiger Udo Vetter. «Sie muss gegenüber einer staatlichen Stelle erfolgen.» Ganz klar strafbar seien die Verleumdung, die üble Nachrede und auch die Politiker-Beleidigung nach Paragraf 188 des Strafgesetzbuchs.
«Das Witzige daran ist, dass diese neue Politiker-Beleidigung, praktisch der Habeck-Paragraf, hier total erfüllt ist», sagte Vetter der NZZ. «Voraussetzung ist, dass die Tat das öffentliche Wirken des Beleidigten erheblich erschweren kann. Das ist hier ganz klar der Fall, denn der Mann wurde um sein Mandat gebracht.»
Wenn ein Rentner etwas poste, wo Habeck als Schwachkopf bezeichnet werde, sei zweifelhaft, ob das der Karriere Habecks schadet. «Der Fall Gelbhaar ist ein gutes Beispiel dafür, was das Gesetz eigentlich gemeint hat.»
Massiver Druck brachte Gelbhaar zum Verzicht
Das bedeutet also: Zivilrechtlich kann Gelbhaar Unterlassung, Schmerzensgeld und Schadensersatz geltend machen. Selbst wenn die Schuldnerin derzeit kein Geld hat, so bliebe ein Urteil gegen sie 30 Jahre vollstreckbar. Strafrechtliche Folgen kommen hinzu.
Durch die Aktion ist Stefan Gelbhaar politisch vorerst erledigt, auch wenn die Grünen ihm Hoffnungen auf eine spätere Kandidatur machten. Er sitzt seit 2017 im Bundestag und hat bei der Wahl 2021 das Direktmandat gewonnen. Mitte November ist er mit 98,4 Prozent der Stimmen zum Direktkandidaten gewählt und mit dem Listenplatz 2 abgesichert worden. Nach Bekanntwerden der Vorwürfe wurde neu gewählt, und Gelbhaar unterlag der 34-jährigen Julia Schneider. Auf den Listenplatz verzichtete er, nachdem massiv Druck auf ihn ausgeübt worden war.
Die Direktkandidatur kann er nicht zurückbekommen, weil die dafür nötige Frist abgelaufen ist. Den sicheren Listenplatz belegt nun Robert Habecks Wahlkampfmanager Andreas Audretsch, der eigentlich von den Grünen des Stadtteils Neukölln kommt und im Bundestag sitzt.