Samstag, November 2

Die Präsidentenwahl 2020 wirft bis heute ihren Schatten auf Arizona. Der Swing State stellt sich für den Wahltag auf alles ein: Falschinformationen, Cyberangriffe – und Gewalt.

Ein meterhoher Zaun, Sicherheitsbeamte, Videokameras – das Hauptquartier der Wahlbehörde in Phoenix ist neuerdings geschützt wie eine Bank. Im Inneren des grauen Backsteinbaus lagern aber keine Goldbarren, sondern Wahlzettel.

«Sie haben Fragen? Sie haben Verschwörungstheorien gehört? Bitte fragen Sie», so begrüsst der Wahlleiter Scott Jarrett die Besucher an diesem Morgen. Jarrett – akkurat gekleidet, müde Augen – arbeitete früher als Rechnungsprüfer. Nun herrscht er nicht mehr über die Buchhaltung, sondern über Wahlprozesse. Seine Aufgabe: Vertrauen in die Ergebnisse vom 5. November zu schaffen.

Hunderte Besuchergruppen haben Jarrett und sein Team seit 2020 hinter die Kulissen der Wahlbehörde blicken lassen – Anwohner, Journalisten, Politiker, viele von ihnen Wahlskeptiker unterschiedlicher Ausprägung. Was früher nur Politik-Nerds angelockt hätte, ist nun ein ständig ausgebuchter Event.

An diesem Morgen sind 50 Studenten und Angestellte der Arizona State University gekommen. «Wenn Sie eine Botschaft für Ihre Familie und Ihre Freunde mitnehmen, dann, dass hier Menschen arbeiten, die ihr Bestes geben», sagt die stellvertretende Leiterin der Behörde, Jennifer Liewer, als sie neben Jarrett vor die Besucher tritt. «Auch ich habe Familienangehörige, die ziemlich verrückte Falschinformationen glauben. Aber sie vertrauen mir und meiner Arbeit.» Ein Gast unterbricht sie scherzend: «Könnte ich Sie bitte meiner Familie vorstellen?»

Arizona spielt eine Schlüsselrolle in Trumps «Big Lie»

Die Präsidentenwahl von 2020 wirft lange Schatten auf den diesjährigen Wahltag in Arizona. Damals gewann Joe Biden den Swing State mit einem hauchdünnen Vorsprung von 10 457 Stimmen oder 0,3 Prozentpunkten. Es war eine echte Überraschung – der erste Sieg eines Demokraten seit mehr als zwanzig Jahren. Das Ergebnis war so knapp, dass es eine automatische Nachzählung gab. Und es war so knapp, dass Trumps Anhänger es bis heute nicht glauben.

Frei nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, teilten enttäuschte Trump-Anhänger gegen Wahlhelfer in Phoenix aus. Deren Namen, Adressen und Telefonnummern landeten im Internet, versehen mit Drohungen wie «Es wäre zu schade, wenn ihren Kindern etwas zustossen würde». Auch mit Mord wurde gedroht. Haustiere wurden vergiftet.

Maricopa County ist kein Einzelfall. Landesweit haben 38 Prozent der Wahlhelfer Drohungen oder Beschimpfungen wegen ihrer Arbeit erfahren, gemäss einer Umfrage des Brennan Center. In Arizona fanden die Wahlleugner ranghohe Verbündete, etwa im republikanischen Justizminister. Gemäss einer neuen Erhebung der Arizona State University haben bemerkenswerte 40 Prozent der registrierten Republikaner nach wie vor wenig oder kein Vertrauen in den Wahlprozess.

«Die Präsidentenwahl 2020 hat hier nie geendet»

Insbesondere Maricopa County steht bis heute im Fokus des Konflikts. Hier liegt die Metropole Phoenix, mit 4,5 Millionen Einwohnern ist der Bezirk bevölkerungsreicher als zwei Dutzend Gliedstaaten. Wer den «Grand Canyon State» gewinnen will, muss hier siegen.

Anders als der Rest Arizonas ist Maricopa County politisch bunt: Von den 2,5 Millionen Wahlberechtigten war in den letzten Jahren jeweils etwa ein Drittel als Republikaner, als Demokraten und als Parteilose registriert. Der Bezirk ist der Grund, warum Arizona ein heftig umkämpfter Gliedstaat geworden ist – ein Swing State.

«Die Präsidentenwahl 2020 hat hier nie geendet», sagt der Wahlleiter Jarrett im Gespräch. Man bereite sich für den 5. November auf alles vor. Da ist, erstens, die Gefahr durch Falschinformationen. Diese wollen Jarrett und sein Team bekämpfen, indem sie die Türen zu ihrer Behörde öffnen. Jeder soll sehen, dass es nichts zu verbergen gibt.

Los geht es im Lagerraum für die eintreffenden Wahlzettel, Spitzname: «Tresor». Die stellvertretende Wahlleiterin Liewer erklärt, dass auch hier Mitarbeiter nur zu zweit hinein dürften – soziale Kontrolle. Auch vor Feuer sei der Raum geschützt: Im Brandfall könne man den Sauerstoff heraussaugen, damit weder Flammen noch Löschwasser die Wahlzettel zerstörten.

Liewer hat noch keine fünf Minuten gesprochen, da sprudeln die Besucher die Fragen heraus. Ein älterer Herr will wissen: Warum verwendet Maricopa County überhaupt Maschinen beim Auszählen der Wahlzettel? Ist die Technik nicht ein Risiko?

Geduldig erklärt Liewer, wie monoton und auch fehleranfällig es wäre, müssten Wahlhelfer Millionen von Stimmzetteln manuell auszählen. Überhaupt: Maschinen würden seit Jahrzehnten bei Wahlen eingesetzt. Der Fragesteller nickt nachdenklich.

Auch vor der Präsidentenwahl 2024 ist das Misstrauen gross

Eine andere beliebte Falschinformation: Stimmzettel würden gefälscht. Liewer bringt die Besucher in den Raum, in dem die Unterschriften der Briefwähler verifiziert werden. Entgegen einschlägigen Behauptungen komme es extrem selten vor, dass jemand den Wahlzettel eines anderen ausfülle, sagt sie, «auch, weil das eine schwere Straftat ist». Blieben Zweifel, würden Experten zu Hilfe gezogen. Manchmal rufe man Wähler auch direkt an.

Weiter geht es in das Kommandozentrum, wie Liewer es nennt – einen Raum mit Dutzenden Computern und riesigen Bildschirmen. Hier werden in der Wahlnacht unter anderem Social-Media-Experten nach Falschinformationen auf Instagram, Tiktok und X suchen. Liewers grösste Angst? Generative künstliche Intelligenz. «Wenn am Wahltag eine KI-Version von mir in einer Videobotschaft behauptet, dass die Wahllokale geschlossen seien, dann wird das schwierig zu entkräften sein. Mit KI wissen wir nicht, was alles passieren kann.»

Die Tour endet im Herzen der Wahlbehörde – dem sogenannten Tabulation Center. Hier werden die Wahlzettel in Maschinen eingelesen. Es ist der Moment, in dem jede Stimme offiziell gezählt wird und den Wahlausgang mitentscheidet. Kein Gerät hier drin ist an das Internet angeschlossen, und auch diesen Raum darf niemand alleine betreten. Kameras an den Decken überwachen das Geschehen aus diversen Winkeln, jeder kann das per Livestream im Internet verfolgen. Die Besucher beäugen das Geschehen durch riesige Glasscheiben.

Vor einigen Monaten kursierte plötzlich ein Foto des Raumes im Netz – es zeigte angeblich einen Zettel an der Wand mit der Aufschrift «Passwörter», wie der Wahlleiter Jarrett erzählt. Empörung breitete sich aus – arbeitete die Wahlbehörde so leichtsinnig? In Wahrheit hatte jemand ein Bildschirmfoto des Livestreams gemacht und manipuliert. «Manche Leute haben merkwürdige Hobbys.» Er habe ein Foto der nackten Wand geschossen und ins Netz gestellt.

Doch genau so entsteht Misstrauen. Auch andere Falschinformationen halten sich hartnäckig – etwa dass immer wieder Nicht-Staatsbürger abstimmten. «Ausgerechnet in Arizona!», sagt Jarrett und erklärt, dass der Wüstenstaat einer der wenigen Gliedstaaten sei, die die Staatsbürgerschaft überprüften, wenn man sich als Wähler registriere und auf lokaler wie Landesebene abstimmen wolle. In vielen anderen Gliedstaaten attestiert man das lediglich mit seiner Unterschrift – wobei eine Lüge eine Straftat ist.

Nachrichtendienste warnen vor Hackerangriffen

Gleichzeitig stellt sich die Wahlbehörde auch auf andere Bedrohungen ein – konkret Cyberangriffe aus China, Iran und Russland. Die amerikanischen Nachrichtendienste sowie Microsoft warnten jüngst davor, dass die besagten Länder zurzeit versuchten, das Vertrauen in die US-Demokratie zu erschüttern, und zwar mit Falschinformationen und Hackerangriffen.

Chinesische Angreifer haben jüngst auch die Telefonleitungen von Trump sowie von Mitarbeitern von Harris’ Wahlkampfteam angezapft. Sicherheitsexperten sind schockiert von dem dreisten Vorgehen. Sie befürchten, dass ausländische Akteure auch versuchen könnten, die Präsidentenwahl selbst zu manipulieren oder zu stören.

Cyberangriffe seien bis 2020 ihre grösste Sorge gewesen, erzählt der Wahlleiter Jarrett. «Wir hatten uns voll auf diese Bedrohung konzentriert und viele Schutzmassnahmen ergriffen. Davon profitieren wir noch immer.» Wichtige Geräte wie die Tabelliermaschinen seien nicht ans Internet angeschlossen, an manchen hingen gar Sicherheitsschlösser. Computerexperten wurden angeheuert, die versuchten, sich in die Systeme der Wahlbehörde zu hacken. Auch das Büro des Secretary of State, der die Wahlen letztlich verantwortet, hat mit der Wahlbehörde Szenarien eines Cyberangriffs durchgespielt.

Amokläufer und wütende Mobs ausbremsen

Sollten Hacker am Wahltag tatsächlich angreifen, könnte das zu grossem Chaos führen, sagt Stephen Richer. Er arbeitet wie Jarrett für die Wahlbehörde und verantwortet als County Recorder unter anderem die Briefwahl. Doch Cybersecurity sei nicht seine grösste Sorge, sagt Richer. «Computer kann man reparieren, ebenso jedes System – aber nicht Menschen.»

Richer weiss, wovon er spricht. Der 39-Jährige ist Republikaner und stimmte 2020 für Trump. Doch im Gegensatz zu anderen Trump-Fans akzeptierte er den Wahlausgang. Das nahmen ihm viele übel – sehr übel. Er erhielt mehrere Morddrohungen. «Renn weg und versteck dich, du wirst es nicht bis zu deinem nächsten Meeting schaffen», habe ihm jemand auf die Mailbox gesprochen. Auch mit Taten gegen seine Kinder wurde gedroht. Noch im April dieses Jahres sagte die stellvertretende Vorsitzende der lokalen Republikanischen Partei, wenn sie Richer sähe, würde sie ihn «lynchen».

Derzeit laufen mehrere Gerichtsverfahren wegen dieser Morddrohungen. Doch Richer sorgt sich nicht nur um seine Sicherheit. «Wenn einer meiner Mitarbeiter . . .», er sucht nach Worten, «sagen wir: schlecht behandelt würde – das würde mich sehr traurig machen.»

Gewalt ist ein drittes Problem, auf das man sich in Maricopa County einstellt. Drohnen, Scharfschützen und Polizisten auf Pferden werden die Wahlbehörde am 5. November zusätzlich bewachen. Es werde der sicherste Ort in Arizona sein, sagen die Beamten.

Auch die rund 4000 Helfer in den 246 Wahllokalen wurden speziell geschult. Etwa darin, wie man deeskaliert. Oder wie man einen bewaffneten Mob mit Wasserschläuchen bremst. Oder wie man bei einem Amoklauf am besten Türen verbarrikadiert.

Tatsächlich wirkt es, als wappne sich Arizona für einen Krieg. Das Büro des Secretary of State, Adrian Fontes, hat an die Wahlhelfer Notfallsets mit Venenstauern und Verbandsmaterial verteilt, damit sie Verletzungen mit schweren Blutungen behandeln können.

«Wir erkennen die reale und gegenwärtige Gefahr, die von Verschwörungstheorien und Lügen ausgeht», so erklärte Fontes die Massnahme gegenüber der «Washington Post». «Ein klein wenig Vorbereitung ist alles, was wir uns im Moment leisten können.»

Trotz diesen Vorkehrungen ist manchen die Gefahrenlage zu gross. Zahlreiche Schulen werden nicht mehr als Wahllokale dienen – die Sicherheitsrisiken für Kinder auf dem Gelände schienen nach den letzten Präsidentschaftswahlen zu hoch.

Jeder Fehler eines Mitarbeiters könnte das Vertrauen in die ganze Wahl 2024 erschüttern

Man vergesse leicht, wie komplex die Durchführung einer solchen Wahl sei, sagt Jarrett – angefangen damit, dass der Wahlzettel in Arizona dieses Jahr zwei Seiten umfasst, weil es so viele Abstimmungsvorlagen und lokale Wahlen gibt. Zwei Seiten, das bedeutet: mehr Zeit für das Ausfüllen, mehr Zeit für das Auszählen, und mehr Potenzial für Fehler. «Die Helfer sind auch nur Menschen», sagt Jarrett. «Aber genau so entstehen Falschinformationen – wenn es ein Fünkchen Wahrheit gibt.»

Bei Tausenden Wahlhelfern droht auch immer die Gefahr eines «Insider-Jobs». Das zeigte sich vor einigen Monaten: Ein temporärer Mitarbeiter der Wahlbehörde stahl einen Schlüssel, den man benötigt, um auf Computer mit heiklen Informationen zuzugreifen. Er wurde dabei ertappt und festgenommen.

Der County Recorder Richer fürchtet für die Wahlnacht vor allem ein Szenario: dass die Wahlergebnisse aus den östlichen Gliedstaaten keinen eindeutigen Gewinner hervorbringen. Dann dürfte Amerika auf die westlichen Swing States Arizona und Nevada schauen. Und bis hier alle Wahlzettel ausgezählt seien, werde es Tage dauern – auch wegen der zwei Seiten in diesem Jahr. «Dann werden die Emotionen hochkochen», befürchtet Richer.

Sollte Trump verlieren, glaubt er, werde «ein bedeutender Teil des amerikanischen Stimmvolks das Gefühl haben, das System habe sie betrogen, zum zweiten Mal». Vielen Trump-Fans dürfte auch bewusst sein, dass ihr Kandidat, 78 Jahre alt, nicht wieder antreten wird. «Manche werden sich dann denken: Lasst uns mit einem Knall gehen.»

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