Sie wurden im Bombenhagel zurückgelassen, schlafen auf offener Strasse und bekommen kaum Hilfe – eine Reportage.
Das Flüchtlingslager von Shatila war schon zu Friedenszeiten ein trister Ort. In dem dichtbebauten Viertel südlich von Beirut hängen die Kabel offen über den schmalen Gassen. In die finsteren, ineinander verschachtelten Wohnungen, wo ganze Familien in ein paar feuchten Kammern leben, dringt kaum Licht. Rund 25 000 Menschen wohnen hier auf engstem Raum.
Jetzt ist die Lage in der bettelarmen Gegend, in der vor allem Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge zu Hause sind, noch schlimmer geworden. Unweit der Hauptstrasse im Lager, wo Händler ihre Ware in offenen Geschäften feilbieten, ragt ein zu einem riesigen Berg angewachsener Müllhaufen empor. Ein paar Schafe und eine dürre Kuh weiden darauf. Der Gestank ist bestialisch.
Man könne leider nichts machen, sagt Abu Ali al-Muhandis, der Chef des palästinensischen Volkskomitees, das für die Verwaltung des Lagers zuständig ist. Vor dem Krieg habe die angrenzende Gemeinde von Ghubeiry den Müll hin und wieder abgetragen. «Doch seit die Israeli die nahe Vorstadt Dahiye bombardieren, hat die dafür beauftragte Firma Angst, ihre Angestellten hierherzuschicken.»
Der Unterbau der Gesellschaft
Der Müll ist nicht das einzige Problem, mit dem Abu Ali zu kämpfen hat. Der pensionierte Ingenieur, in dessen Büro ein vergilbtes Porträt des verstorbenen Palästinenserführers Yasir Arafat hängt, fürchtet, dass der Krieg auf sein Viertel übergreifen könnte. Dahiye, die vom Hizbullah dominierte Vorstadt von Beirut, liegt nur fünfhundert Meter entfernt. «Als die Israeli Nasrallah umbrachten, haben wir gedacht, die Bomben seien bei uns gefallen, so laut war es.»
Doch anders als ihre schiitischen Nachbarn, die fast alle geflohen sind, harren die Palästinenser von Shatila in ihrem Viertel aus. «Wo sollen wir denn hin?», fragt Abu Ali. Man sei schon einmal vertrieben worden und habe keinen anderen Ort als das Lager. «Wenn es sein muss, bleiben wir hier und sterben.»
Abu Ali al-Muhandis aus dem Flüchtlingslager Shatila fürchtet, dass der Krieg auf sein Viertel übergreifen könnte. In seinem Büro hängt ein Porträt des Palästinenserführers Yasir Arafat – eine Erinnerung an die Zeit, in der Arafat als Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) viele seiner Landsleute hinter sich versammelte.
Die rund 200 000 Palästinenser gehören – gemeinsam mit den syrischen Gastarbeitern und den afrikanischen Hausangestellten – zum Unterbau der libanesischen Gesellschaft. Mitten im Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah sind diese drei Gruppen nun komplett auf sich allein gestellt. Ihr Schicksal zeigt: Auch im Angesicht der Katastrophe ist Libanon ein zutiefst ungleiches Land.
Denn die Palästinenser, die mehrheitlich nach der Staatsgründung Israels 1948 hierher geflohen sind, werden höchstens geduldet. Sie können nicht libanesische Staatsbürger werden und haben beschränkte Rechte. Etliche Berufe bleiben ihnen verwehrt. Viele Nachkommen der Flüchtlinge verharren deshalb in Armut und Perspektivlosigkeit. Wer konnte, hat das Land längst verlassen.
«Was sollen wir tun? Weglaufen?»
Bis heute haben viele Libanesen den Palästinensern nicht verziehen, dass deren Milizen unter Arafat in den siebziger Jahren in den libanesischen Bürgerkrieg eingriffen. So wurde Shatila immer wieder zum Ziel von brutalen Angriffen. 1982 verübten christliche Milizen hier ein Massaker. Ein paar Jahre später waren es schiitische Kämpfer der Amal-Bewegung, die das Lager in Schutt und Asche legten.
Nun droht Abu Ali und seinen Leuten erneut Unheil. Es mangele bereits jetzt an Hilfe, klagt der 65-Jährige. «Eigentlich wäre das Palästinenserhilfswerk UNRWA für uns zuständig. Aber deren Angestellte sind einfach verschwunden», sagt er. Das Spital der Organisation funktioniere nur noch in Notfällen. Er habe deshalb gemeinsam mit weiteren Lagervertretern kürzlich einen Protest vor der Zentrale des Hilfswerks organisiert. Ohne die UNRWA können die Palästinenser in Libanon kaum überleben.
In den Gassen des Viertels herrscht derweil fast Normalität. Junge Männer sitzen auf Plastikstühlen unter verblichenen Arafat-Bildern und einem frischen Poster des inzwischen getöteten Hamas-Chefs Yahya Sinwar. Die Kämpfer in Gaza sind hier für viele Helden. Immerhin täten sie etwas, sagen die jungen Männer. Natürlich hätten die Leute in Shatila auch Angst vor dem Krieg, fügt einer von ihnen an. «Aber was sollen wir tun? Weglaufen?»
Noch herrscht offenbar Ordnung in Shatila. Im Lager werde sogar gekocht, um den geflohenen Schiiten aus Dahiye zu helfen, sagt Abu Ali. «Der Hizbullah ist die einzige Organisation, die für uns Palästinenser kämpft. Da wollen wir etwas zurückgeben.» Zudem sei seit Kriegsbeginn die Stromversorgung etwas besser geworden. «Vorher haben hier auch viele Syrer gewohnt. Die sind jetzt geflohen. Seither ist das Netz nicht mehr so überlastet.»
Die Syrer schlafen unter freiem Himmel
Die rund 2 Millionen Syrer sind neben den Palästinensern die zweite grosse Gruppe in Libanon, die auf sich allein gestellt ist. Viele von ihnen kamen einst als Bürgerkriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge aus ihrer kriegszerstörten Heimat ins Nachbarland und verdingten sich als Tagelöhner oder Bauarbeiter. Jetzt sind sie erneut auf der Flucht, diesmal vor den israelischen Bomben.
In Sidon, einer Stadt rund 45 Kilometer südlich von Beirut, sind 150 syrische Familien auf einem leeren Busbahnhof untergekommen. Sie campieren unter freiem Himmel auf ein paar Matratzen, die das Uno-Flüchtlingshilfswerk hergebracht hat. Viele von ihnen sind aus den Dörfern und Städten des schwer bombardierten Südlibanon geflohen. «Unser Haus wurde zerstört, weil darin ein Hizbullah-Kommandant gewohnt hat», sagt Furia al-Ara, eine siebenfache Mutter.
Ihre Kinder spielen zwischen den wenigen Habseligkeiten der Familie. Die Syrer waren in Libanon schon vor dem Krieg unbeliebt. Viele Libanesen hätten sie am liebsten längst aus dem Land geworfen. Sie beschuldigen die Syrer, ihre sowieso schon knappen Ressourcen zu verbrauchen. Zudem erinnern sie die Flüchtlinge an die Zeit in den neunziger Jahren, als die syrische Armee Libanon besetzt hielt.
«Aus den Unterkünften werfen sie uns raus, die Stadtverwaltung kümmert sich nicht, und das Uno-Flüchtlingshilfswerk lässt sich kaum blicken», sagt Mohammed Abu Hamud, ein geflohener Syrer, der gemeinsam mit ein paar älteren Männern die Belange der Gestrandeten in Sidon vertritt. Viele Kinder seien inzwischen krank, zudem müsse man zum Waschen ans Meer. «So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen endlich ein Dach über dem Kopf.»
Afrikanische Lohnsklavinnen ohne Rechte
Seit Kriegsbeginn sind deshalb über hunderttausend Syrer zurück in die Heimat gegangen. Am Grenzübergang Masnaa zwischen Libanon und Syrien bilden sich lange Schlangen. Inzwischen hat Israel dort die Strasse bombardiert. Männer und Frauen ziehen Rollkoffer durch tiefe Bombenkrater. Andere Syrer wollen hingegen nicht zurück. «Vor allem die jungen Männer haben Angst davor, in die Armee eingezogen zu werden», sagt Hamud.
Wiederum andere Gestrandete haben nicht einmal die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren. Wie Saud Sisi, eine Hausangestellte aus Sierra Leone. Die 30-Jährige gehört zur untersten Schicht der libanesischen Gesellschaft – jenen Gastarbeiterinnen, die mit dem sogenannten Kafala-Gesetz ins Land geholt wurden und einem Sponsor unterstehen, der für sie bürgt. Es sind meist asiatische oder afrikanische Frauen, die von Agenturen an Familien in Libanon vermittelt wurden.
Als Lohnsklavinnen ohne Rechte sind sie ihren Arbeitgebern völlig ausgeliefert. Schon vor dem Krieg war ihre Lage erbärmlich: Sie wurden misshandelt, auf die Strasse gesetzt und mitunter sogar verkauft. Sisi arbeitete für 150 Dollar im Monat für eine Familie im Schiitenviertel Dahiye. «Als der Krieg losging, liess sie mich einfach zurück», sagt sie. Das Haus, in dem die Familie gewohnt habe, sei später bombardiert worden. «Zum Glück war ich nicht dort.»
Inzwischen ist Sisi in einer Notunterkunft untergekommen – einer im Rohbau befindlichen Halle in Beirut, die von einer Gruppe junger Libanesen betrieben wird. 150 Frauen aus Sierra Leone sind hier gestrandet. Sie schlafen und kochen und flechten sich gegenseitig die Haare. «Wir versuchen, sie nach Hause zu bringen», sagt Dea Hage-Chahine, eine der Helferinnen. «Aber der Botschafter von Sierra Leone ist ausgerechnet zu Kriegsbeginn an Krebs gestorben. Seither gibt es hier keinen Ansprechpartner mehr.»
«Ich will nicht in einem fremden Land sterben»
Chahine und ihre Kollegen versuchen, genügend Geld für einen Evakuierungsflug zusammenzubekommen. Derweil harren die Afrikanerinnen weiter aus. Die meisten haben Schreckliches hinter sich. Viele wurden unregelmässig bezahlt und bei Kriegsausbruch einfach zurückgelassen. Sie sei von Südlibanon zu Fuss bis nach Beirut gelaufen, erzählt eine junge Frau namens Aisasou. Trotz den Bombardierungen habe sie am Strassenrand geschlafen und um Essen gebettelt.
Man habe sie wie Tiere behandelt, sagen viele der Frauen, denen nach ihrer Ankunft in Beirut einst die Pässe abgenommen wurden und die jetzt ohne Dokumente gestrandet sind. Nach allem, was sie erlebt haben, wollen die meisten von ihnen nur noch zurück nach Hause, ins arme Sierra Leone: «Ich habe einen achtjährigen Sohn, der dort auf mich wartet und mich braucht», sagt Sisi. «Ich will nicht in einem fremden Land sterben.»