Montag, November 25

Weil die Invasoren die Stadt am Dnipro nicht erobern können, wollen sie Cherson in eine Todeszone verwandeln. Die Abwehr der Kleindrohnen ist tückisch.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer in frontnahen Städten haben in den letzten zweieinhalb Jahren viel überlebt: die russische Besetzung, täglichen Beschuss, den Tod von Freunden und Verwandten. Doch nun kommt für jene, die etwa in Cherson ausgeharrt haben, eine neue Bedrohung. Seit dem Sommer machen die Russen mit Drohnen Jagd auf Zivilisten. «Skid» nennen die Ukrainer die tödliche Gefahr, übersetzt «Abwurf».

Die Schlagzeilen dieser Angriffe sind so alltäglich geworden, dass sie die Welt kaum beachtet. Am Sonntag töteten die Russen mit einer Kamikaze-Drohne einen alten Mann in Cherson, davor fielen die Sprengladungen auf Bushaltestellen in der Stadt und auf ein Feuerwehrauto. Die Videos dieser «Safaris», welche die Russen stolz verbreiten, zeigen eine sadistische Lust am Töten. Sie richtet sich gegen Menschen, die auf der Strasse spazieren – oder sich voller Panik in ihre Häuser retten wollen, als sie das Geräusch der Drohne hören.

Fast 300 getötete und verwundete Zivilisten in Cherson

Diese gezielten Drohnenangriffe gegen Zivilisten, die gemäss Genfer Konvention und Römer Statut Kriegsverbrechen darstellen, haben stark zugenommen. Laut dem Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte war der September der opferreichste Monat für ukrainische Zivilisten seit Juli 2022: 208 Menschen kamen ums Leben, 1220 wurden verwundet. Im Gebiet Cherson seien die Drohnen für die Hälfte der Opfer verantwortlich.

Die Regionalbehörden von Cherson verzeichneten im August 2500 solcher Angriffe, im September 2700 und in der ersten Oktoberhälfte bereits 1500. Das sind etwa 100 pro Tag. Zwischen Juli und Anfang September töteten und verwundeten die Russen auf diese Weise fast 300 Zivilisten. Oft verlieren die Menschen Beine und Arme, auch Kopfverletzungen sind häufig.

«Die Behörden bitten die Bewohner von Cherson inzwischen, so wenig wie möglich auf die Strasse zu gehen», erzählt der Lokaljournalist Petro Kobernik am Telefon. «Dann hätten die Russen weniger Ziele.» Die Wohnungen bieten laut Kobernik, der für die ukrainische Agentur Zentrum für journalistische Untersuchungen arbeitet, immerhin einen relativen Schutz.

Um zu erklären, woher die vielen Drohnen kommen, verweist Kobernik auf russische Berichte über die Einrichtung einer unterirdischen Schule für neue Piloten im besetzten Teil der Region Cherson. Auf Videoaufnahmen sind lange Reihen von Soldaten zu sehen, die an Joysticks vor Computern üben. «Die Stadt ist für sie ein Schiessplatz voller Zivilisten», sagt der Journalist.

Auf anderen Propagandavideos erklären russische Drohnenpiloten die ganze Stadt zur «roten Zone». Dort sei alles, was sich bewege, ein legitimes Ziel. Sie sammeln mit den Bildern ihrer Menschenjagd Geld für neues Material und zeigen ihren Vorgesetzten, dass sie «Resultate» erzielen. Im zynischen russischen Kalkül ist dieses Verhalten rational.

Die Russen sind näher an den Fluss Dnipro gerückt

Militärisch gibt es weitere Gründe, weshalb die Zahl der Drohnenangriffe im Sommer stark anstieg. Die positivere Erklärung für Kiew lautet, dass die Positionen der Russen am linken Dnipro-Ufer stark exponiert sind, weil das ukrainisch kontrollierte Cherson höher liegt. Dazu kommt, dass Moskau Truppen und Material aus diesem Frontabschnitt abzog und nach Charkiw sowie Kursk verlegte. Die Drohnen dienen als billige und in grosser Zahl verfügbare Alternative zur knapperen Artilleriemunition.

Die negativere hat mit dem weitestgehenden ukrainischen Rückzug vom linken Ufer zu tun, vor allem aus dem Dorf Krinki im Juli. Dies hat es der russischen Armee erlaubt, näher an den Fluss heranzurücken. Starke Positionen lassen sich im sumpfigen Gebiet zwar nicht errichten. Aber die Drohnenpiloten können nun unbehelligt wenige Kilometer von der Stadt Cherson entfernt operieren.

Für die Verteidiger stellen die kleinen Drohnen ein Dilemma dar. Gegen sie grosskalibrige Luftverteidigungssysteme einzusetzen, wäre Verhältnisblödsinn. Deshalb kämpfen mobile Einheiten mit Pick-ups, auf deren Ladefläche sie Maschinengewehre platziert haben, gegen grössere Drohnen. Die kleineren beschiessen die Ukrainer mit Gewehren, auch wenn sie schwer zu treffen sind. Als recht effizient gelten Schrotflinten, da deren Kugeln weit verstreut werden und so eine grössere Fläche abdecken als Kalaschnikows.

Ein weiteres Mittel sind Störsender. Diese sind stationär und auf Dächern von Fahrzeugen montiert: Frontstädte wie Cherson oder Nikopol rüsten auch Feuerwehr- und Krankenwagen damit aus. Hier liefern sich Russen und Ukrainer ein ständiges Wettrüsten darum, welche Funkfrequenzen der Drohnen sich den Störsignalen entziehen. Stets bleibt ein Element der Unsicherheit.

Immerhin hat die Stadt Cherson im September umgerechnet knapp 170 000 Franken erhalten für Massnahmen gegen Drohnen. Die Armee bekam seit Jahresbeginn 200 neue Systeme zur elektronischen Kriegsführung. Dabei ist die Koordination von grosser Bedeutung: Die Verteidiger müssen darauf achten, dass ihre eigenen Systeme einander nicht gegenseitig stören.

Moskaus Strategie der verbrannten Erde

Russlands Drohnenterror zeigt allerdings auch, dass der Fluss Dnipro ein zu grosses Hindernis darstellt, als dass ihn eine der beiden Armeen in absehbarer Zeit überwinden könnte. Putins Armee musste sich im November 2022 von ihrem Brückenkopf am rechten Ufer zurückziehen, weil dessen Versorgung unmöglich geworden war. Nun versucht sie, Städte wie Cherson in eine unbewohnbare Todeszone zu verwandeln.

Die gesundheitlichen und psychischen Folgen für die Bewohner sind schlimm. Xenia Schurba, die für die Stiftung Stimmen der Kinder eine Hotline betreut, berichtet von Angstzuständen, Konzentrationsstörungen und Selbstmordgedanken bei vielen Minderjährigen. «Die Erfahrung von konstantem Terror, Besatzung und erzwungener Evakuierung ist traumatisch», sagt die Psychologin.

Die Menschen harren zwar in ihren Häusern aus: Immer noch lebt mehr als ein Viertel der einst 400 000 Einwohner der Grossgemeinde Cherson da. Doch die Jungen, Mobilen und Familien sind weg. Die Hälfte der Lokalbevölkerung besteht inzwischen aus Pensionären. Ihnen steht ein schwieriger Winter bevor: Sobald das Laub von den Blättern gefallen ist, gibt es noch weniger Schutz vor Russlands Drohnen. Die Zukunft von Cherson hängt in der Schwebe.

Exit mobile version