Israel hat seit Kriegsbeginn Tausende Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland festgenommen. Einige ehemalige Häftlinge und israelische Whistleblower berichten von schrecklichen Zuständen in den Gefängnissen.
Fadi Bakr spricht gefasst und ruhig. Im Hintergrund sind Detonationen und Kindergeschrei zu hören, als der junge Mann am Telefon von seiner Tortur berichtet. Der 26-Jährige war laut eigener Aussage am 5. Januar 2024 auf der Suche nach Mehl, als er in ein Feuergefecht geriet. Eine Kugel erwischte sein linkes Bein. Kurz darauf sammelten ihn israelische Soldaten ein, legten Bakr Augenbinde, Fuss- und Handschellen an und fuhren ihn aus dem Gazastreifen hinaus.
In Israel sei er an mehreren Orten verhört worden, sagt Bakr. Er berichtet von Elektroschocks, stundenlanger Beschallung mit lauter Musik, Misshandlungen im Genitalbereich, auf seiner Haut ausgedrückten Zigaretten und den immergleichen Fragen nach seinen Verbindungen zur Hamas. Schliesslich erreicht er den Ort, der in Israel inzwischen berüchtigt ist: Sde Teiman. «Das ist kein Gefängnis», sagt er. «Dort gibt es offene Baracken, wo alle rund um die Uhr gefesselt knien müssen. Täglich wurden wir geschlagen.»
Israels neue Härte
Seitdem die Hamas am 7. Oktober 1200 Israeli ermordete und über 250 verschleppte, geht Israel mit neuer Härte gegen Palästinenser vor – auch in den Gefängnissen. Meist werden Terroristen oder Hamas-Kollaborateure verhaftet, die teilweise wichtige Informationen an die Armee weitergeben. Mitunter erwischt es aber auch unbeteiligte Personen, die schlicht zur falschen Zeit am falschen Ort sind.
Rund ein Jahr nach Beginn des Kriegs hat Israel etwa 4600 Palästinenser aus dem Gazastreifen festgenommen. Von ihnen wurden 2000 wieder entlassen, nachdem die israelische Armee keine Verbindungen zu terroristischen Gruppen hatte feststellen können – unter ihnen auch Fadi Bakr. Im Detail lassen sich seine Aussagen nicht unabhängig prüfen. Bakrs Erlebnisse ähneln allerdings den Schilderungen von anderen Gefangenen, die wie er nach ihrer Freilassung berichteten.
Berichte über Misshandlungen in israelischen Gefängnissen werden oft von der Hamas propagandistisch instrumentalisiert, während sie selbst israelische Geiseln unter unmenschlichen Zuständen hält. Doch auch israelische Whistleblower zeichnen ein düsteres Bild von den Zuständen in Israels überfüllten Haftanstalten: Die Gewalt hat zugenommen, das Essen ist karger, die Demütigungen sind häufiger geworden.
Das Militärgefängnis ähnele einem offenen Kuhstall
Bereits kurz nach Beginn der israelischen Bodenoffensive im Dezember 2023 kursierten Bilder von Massenverhaftungen im Gazastreifen. Viele der Festgenommenen landeten in Sde Teiman, einer ehemaligen Militärbasis in der Negev-Wüste, die zu einem improvisierten Militärgefängnis umfunktioniert wurde.
Dort habe es grosse offene Zellen gegeben, die etwa siebzig bis hundert Personen hätten fassen können. Das Gelände sei wie ein offener Kuhstall mit Asphaltboden gewesen, berichtet ein anonymer Unteroffizier der israelischen Armee der Organisation Breaking the Silence. Die Scheinwerfer seien rund um die Uhr angeschaltet gewesen.
Mit verbundenen Augen und gefesselten Händen hätten die Gefangenen stets aufrecht sitzen müssen. Wer sich nach vorne oder hinten gelehnt habe, sei bestraft worden. Dann hätten Häftlinge für lange Zeit mit erhobenen Armen stehen müssen, oder ihre Arme seien mit Kabelbindern an einen Zaun gefesselt worden. Weitere Soldaten berichteten in der «New York Times» und dem «Spiegel» von regelmässigen Prügelstrafen.
Nach israelischem Recht werden die Häftlinge in Sde Teiman als «unrechtmässige Kämpfer» festgehalten. Israel argumentiert, dass ihnen die Rechte von Kriegsgefangenen nicht zustünden, weil es sich beim Gaza-Krieg nicht um einen internationalen Konflikt handle und sich die Terroristen aus Gaza nicht an die Regeln des Kriegs hielten.
Ursprünglich durften Terrorverdächtige aus dem Gazastreifen ohne Gerichtsverfahren bis zu 45 Tage lang festgehalten werden. Nach einer Revision des Gesetzes über die «unrechtmässigen Kämpfer» im vergangenen Juli dürfen die Verdächtigen nur noch 30 Tage lang festgehalten werden, nach 21 Tagen haben sie Anspruch darauf, einen Anwalt zu sehen.
Vorwürfe von Vergewaltigungen in der Haft
Für besonders viel Aufmerksamkeit sorgten mehrere Berichte von sexueller Gewalt in Sde Teiman. Vor einigen Wochen tauchte ein Video auf, das mutmasslich eine Gruppenvergewaltigung eines männlichen Häftlings durch israelische Soldaten in dem Militärgefängnis zeigte.
Gegenüber Medien und Menschenrechtsorganisationen berichteten mehrere ehemalige Gefangene von sexueller Gewalt, die sie in der Haft angeblich erfahren haben – darunter Schläge auf die Genitalien sowie versuchte anale Penetration. Auch Fadi Bakr erzählt von einer Vergewaltigung, die er gesehen haben will. Er sei im Raum gewesen, als einem Häftling ein Gegenstand in den Anus eingeführt worden sei.
Am 6. Juli wurde ein palästinensischer Häftling aus Sde Teiman mit lebensbedrohlichen Verletzungen im Unterleib, an der Brust und im Nacken sowie einem gerissenen Rektum in das Assuta-Spital in der südisraelischen Stadt Ashdod eingeliefert. Der Spitalbericht zum Fall liegt der israelischen Nichtregierungsorganisation Physicians for Human Rights vor. Die Informationen hat sie mit der NZZ geteilt.
Wegen des Verdachts auf Beteiligung an der mutmasslichen Gruppenvergewaltigung in Sde Teiman hatte Israel zunächst gegen neun Soldaten ein Verfahren eröffnet und sie unter Hausarrest gesetzt. Anfang September wurde der Arrest für alle Verdächtigen wieder aufgehoben. Die Untersuchungsergebnisse würden momentan von der Militärstaatsanwaltschaft geprüft, ein Urteil sei noch nicht gefällt, heisst es aus Armeekreisen.
Die medizinische Versorgung in Sde Teiman ist nur sehr rudimentär gewährleistet. Die NZZ hat einen israelischen Arzt getroffen, der das Militärlager Ende 2023 besuchte. Im Gespräch berichtet er von katastrophalen Bedingungen im Feldlazarett von Sde Teiman.
«Ungenügende medizinische Versorgung»
«Als ich im Feldlazarett ankam, lagen dort etwa fünfzehn bis zwanzig Patienten, die nur mit einer Windel bekleidet waren. Ihre Füsse und Hände waren mit Handschellen an die Betten gefesselt und ihre Augen verbunden», erzählt der Arzt. Aus Angst vor Repressionen möchte er anonym bleiben.
Die meisten Gefangenen seien wegen im Gazastreifen erlittener Schusswunden behandelt worden, berichtet der Mann. Doch der einzige Arzt im Lager sei ein Diabetes-Spezialist gewesen, der für die Behandlung dieser Verletzungen nicht ausgebildet gewesen sei. «Es fehlte an grundlegender Ausrüstung.»
Der Arzt sieht ein, dass es sich bei den Gefangenen um potenzielle Terroristen handelt und deswegen Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen. «Aber warum müssen auch ihre Füsse gefesselt sein? Warum müssen sie mehrere Tage eine Windel tragen und dürfen keine Flasche benutzen?», fragt er. «Es ist unglaublich entmenschlichend, wie die palästinensischen Gefangenen dort behandelt werden.»
Nach mehreren Foltervorwürfen hat die israelische Staatsanwaltschaft inzwischen angekündigt, Sde Teiman schrittweise zu schliessen. Infolge einer Petition des israelischen Verbands für Bürgerrechte bei Israels oberstem Gericht wurden die Haftbedingungen in Sde Teiman leicht verbessert. Im September teilte die Armee auf Anfrage allerdings mit, dass weitere Haftanstalten in Sde Teiman gebaut würden. Ein weiteres Militärgefängnis für Häftlinge aus dem Gazastreifen wurde an das Ofer-Gefängnis im Westjordanland angeschlossen.
Regelmässige Prügel in den Zellen
Auch über das israelisch besetzte Westjordanland ist seit dem 7. Oktober eine Verhaftungswelle hereingebrochen. Laut dem Palestinian Prisoners Club, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Ramallah, waren vor Kriegsausbruch rund 5300 Palästinenser aus dem Gebiet inhaftiert, nun sind es knapp 10 000. Sie kommen nicht wie die Häftlinge aus Gaza zunächst in Militärlager, sondern direkt in reguläre israelische Gefängnisse, wo die Bedingungen besser sind. Dennoch gibt es auch hier Berichte von Misshandlungen.
Einer, der aus erster Hand von den Zuständen in den israelischen Gefängnissen berichten kann, ist Omar Asaf. Der 74-Jährige war lange Zeit Mitglied der PFLP. Die linksextreme Volksfront für die Befreiung Palästinas wird von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft.
Heute sei er immer noch ein politischer Aktivist gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands, nun allerdings unabhängig, so Asaf. «Mit Unterbrechungen habe ich zehn Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht», sagt der Mann mit Schnauz und grauen Haaren in seinem Büro im Zentrum von Ramallah.
Aufenthalte in israelischen Gefängnissen seien nie schön gewesen, sagt er. «Aber jetzt hat sich alles verändert.» Asaf wurde am 22. Oktober 2023 festgenommen und drei Monate später entlassen. Nach zehn Tagen wurde ihm gesagt, er sei im Gefängnis, weil er ein Unterstützer der islamistischen Hamas sei. «Ich musste darüber lachen», sagt Asaf. «Ich bin doch Marxist.»
Eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung sei nicht mehr sichergestellt, sagt er: «Als ich ins Gefängnis kam, wog ich 101 Kilo, drei Monate später nur noch 72 Kilo.» Ein Foto von seiner Entlassung zeigt den Mann mit einem langen Vollbart und eingefallenem Gesicht.
«Als ich im Gefängnis ankam, habe ich Personen mit gebrochenen Rippen und zugeschwollenen Augen gesehen, Männer, die wegen ihrer Verletzungen nicht mehr laufen oder sitzen konnten», sagt Asaf. «In diesem Ausmass hatte ich das vorher nie gesehen.» Regelmässig seien Wachen in ihre Zellen gekommen und hätten die Gefangenen mit Knüppeln verprügelt. Auch diese Aussagen decken sich mit jenen anderer entlassener Gefangener.
Die schlechten Bedingungen sind politisch gewollt
So wie die meisten palästinensischen Häftlinge im Westjordanland wurde Asaf in Administrativhaft gesteckt. Dieses Instrument erlaubt es der Militärverwaltung im besetzten Westjordanland, Palästinenser ohne Gerichtsverfahren oder Urteil bis zu sechs Monate lang zu inhaftieren. Dafür reicht ein Verdacht der Sicherheitsdienste, oft sind die genauen Vorwürfe nicht öffentlich bekannt. Die Haftdauer kann zudem verlängert werden.
Eine Sprecherin der israelischen Gefängnisverwaltung sagt auf Anfrage, dass sie von den Misshandlungsvorwürfen keine Kenntnis habe. Die Behörde ist für sämtliche Gefängnisse in Israel zuständig. «Alle Gefangenen werden nach Recht und Gesetz festgehalten», sagt die Sprecherin. Jedem Häftling stehe es frei, eine Beschwerde einzureichen. Wie viele Beschwerden eingegangen sind, sagt die Sprecherin nicht.
Dass sich die Bedingungen verschlechtert haben, ist allerdings von höchster Stelle bestätigt worden. Itamar Ben-Gvir, der für das Gefängnissystem zuständige Minister, verkündete vor einigen Wochen stolz, dass die Berichte über die furchtbaren Zustände für palästinensische Gefangenen wahr seien. «Seit meinem Amtsantritt war eines meiner höchsten Ziele, die Haftbedingungen für Terroristen zu verschlechtern und ihre Rechte auf ein gesetzlich gefordertes Minimum zu reduzieren», sagte Ben-Gvir im Juli.
Andere israelische Politiker, etwa Oppositionsführer Yair Lapid oder der Chef der linken «Demokraten», Yair Golan, reagierten Ende Juli zwar schockiert auf die Stürmung von Sde Teiman. Damals drangen rechtsextreme Demonstranten in die Militärbasis ein, um gegen die Verhaftung von neun israelischen Soldaten zu protestieren, denen vorgeworfen wurde, einen palästinensischen Häftling misshandelt zu haben. Dies sei ein «gefährlicher, faschistischer Aufstand» gewesen, sagte etwa Lapid. Doch beide Oppositionspolitiker sagten bis heute nichts zu den Misshandlungsvorwürfen.
Israelische Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem führen die gehäuften Missbrauchsfälle und harten Bedingungen direkt auf die Ägide Ben-Gvirs zurück. Dass die Zustände nicht immer so schlimm waren, zeigt etwa das Beispiel von Hamas-Chef Yahya Sinwar. Der Architekt des Massakers vom 7. Oktober verbrachte über 20 Jahre in israelischen Gefängnissen. Im Jahr 2004 entfernten Ärzte einen bösartigen Tumor in Sinwars Gehirn, der ihn ohne Behandlung das Leben gekostet hätte.
Ist die Misshandlung systematisch?
Es existieren Dutzende Berichte von Folter und Misshandlungen palästinensischer Insassen in israelischen Gefängnissen seit Beginn des Gaza-Kriegs. Die israelische Armee teilt auf Anfrage mit, dass seit Kriegsbeginn acht Ermittlungen gegen Soldaten eingeleitet worden seien, die mit Misshandlungen von Gefangenen in Militärgefängnissen im Zusammenhang stünden.
Vorwürfe systematischen Missbrauchs in Sde Teiman weisen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) zurück. «Die IDF sind dem Völkerrecht verpflichtet. Jeder Vorwurf in Bezug auf die Haftbedingungen und die Behandlung von Gefangenen wird gründlich untersucht», sagt ein Sprecher des Militärs.
Aharon Garber glaubt ebenfalls, dass es sich bei den Vorwürfen um Einzelfälle handelt. Laut dem Anwalt vom Kohelet-Forum, einer rechten Denkfabrik, lässt das israelische Rechtssystem keinen systematischen Missbrauch zu. Garber stellt klar, dass sich Israel seit dem 7. Oktober in einem Ausnahmezustand befinde. Er erachtet daher auch die Administrativhaft und die Inhaftierung von Palästinensern aus Gaza als «unrechtmässige Kämpfer» für notwendig. «Das sind weitreichende juristische Instrumente. Aber um mit diesem Feind fertigzuwerden, müssen wir diese Instrumente nutzen.»
«Im Gefängnis hat sich mein Hass verdoppelt»
Die Achtung der Menschenrechte sei zwar wichtig, sagt Garber. Doch Menschenrechte könnten aus einer juristischen Perspektive eingeschränkt werden, solange dies unter Berücksichtigung des Kontexts verhältnismässig geschehe. «Ein Beispiel ist etwa die Bedrohung der Sicherheit des eigenen Staatsvolks.»
Es ist evident, dass Israel Terrorverdächtige verhaften und verhören muss. Doch selbst wenn man wie Aharon Garber argumentiert, dass Einschränkungen der Menschenrechte in Ausnahmesituationen hinzunehmen seien, fragt sich, inwiefern die strengen Haftbedingungen Israels Sicherheit wirklich nützen.
Eine Palästinenserin aus dem Westjordanland, die ab Februar drei Monate in Administrativhaft verbringen musste, glaubt nicht daran. «Die Israeli sagen immer, sie verhafteten uns aus Sicherheitsbedenken», sagt die Frau im Gespräch. Laut eigener Aussage hat eine Wärterin sie mit einem Smartphone nackt im Gefängnis gefilmt. «Wie bringt ihnen das mehr Sicherheit? Im Gefängnis hat sich mein Hass auf die Israeli verdoppelt.»
Mitarbeit: Samer Shalabi