Sonntag, Oktober 6

Der Falter flattert diesmal fast bis ans Meer – allerdings in Richtung Norden: Er landet in Hamburg, im Oberhafen und einer berühmten Bar. Nur etwas sucht er vergeblich: ein Bett.

Die Nacht, die für den Falter kein Hotelbett mehr bereithalten wird, legt sich über Hamburg. Das ist wie sein Heimatort Zürich eine protestantisch geprägte Medienstadt mit leicht unterkühltem Charme und wenig Hang zum Überschwang. Doch dadurch lässt sich unser Bartester nicht zur Mässigung drängen.

Den Boden bereitet er seinem Magen nicht mit einem dieser köstlichen Fischbrötchen am Hafen, sondern mit einer Mahlzeit im Oberhafen: In diesem Entwicklungsgebiet zwischen Backstein, Graffiti und Gleisen hinter dem mächtigen «Spiegel»-Hochhaus (aus Zeiten, da der Medienkonzern noch höher hinauswollte) lockt die angesagte «Hobenköök» (Hafenküche). Sie verspricht norddeutsche Kost mit maritimem Flair, wobei an der Ostsee die Sehnsucht nach dem Mittelmeer wohl ähnlich verbreitet ist wie an der Limmat. Ans Zürcher «Viadukt» wiederum erinnert die Atmosphäre: Das luftig gestaltete Restaurant ist auch hier Teil einer Markthalle mit Industrie-Patina, und draussen rattern Züge über eine Brücke.

Die Häfeli, pardon: Toiletten, sind angeschrieben mit «Mannslüüd» «Fruunslüüd» und «Rullstohl». Den Falter, für ein Interview in den Norden gereist, schliesst diese Form der Diversität nicht ein. Er tröstet sich zunächst mit einem Drink: Die originelle «Frau Williams» (€ 13.50) hat die Birne als Püree und als Schnaps intus, zum Longdrink komplettiert mit Ginger Beer der auch in Zürich omnipräsenten Berliner Marke Thomas Henry. Ein hausgemachtes Ingwer-Gebräu wäre als Beigabe passender an einem Ort, der Wert auf eigenes Handwerk legt.

Das Team um Chefkoch Thomas Sampl arbeitet nämlich unter dem Slow-Food-Label, dem Motto «bio, regional und saisonal» und dem Superlativ der «wohl nachhaltigsten Wertschöpfungskette Hamburgs». Die Gerichte sind fürs Auge ein Gedicht, viele auch für den Gaumen, wie der cremige Ziegenkäse mit zerbröseltem Pumpernickel und gepickelter Rande (€ 16.90). Wunderschön ist ein von eingelegten Kirschen eskortiertes Verwandtentreffen von Gurke und (leider fader) Wassermelone, fabelhaft das Labskaus mit saurem Brathering und pochiertem Ei (€ 29.50).

Ob man das Besteck behalten oder wechseln wolle, fragt der Serviceangestellte zwischen den Gängen – ein guter Kompromiss aus Gast- und Umweltfreundlichkeit. Seine Erklärung für den «Ökobeitrag» von 40 Cent auf der Rechnung leuchtet weniger ein: Man produziere die Stoffservietten in der Region, was fast zwanzigmal so viel koste wie made in China. Der Falter wundert sich, dass das zu einem separaten Kostenpunkt führt, verlässt das Lokal aber doch rundum zufrieden.

Unterwegs zu seinem zweiten Ziel lässt er beinahe sein Leben auf einem dieser halsbrecherischen Gehsteige, die ohne viel Vorwarnung auch als Radweg dienen: Ein Velo flitzt haarscharf an ihm vorbei. Nach zwanzig Flugminuten erreicht er heil die berühmte Bar «Le Lion», an deren Fassade in goldenen Lettern steht: «The cradle of the Gin Basil Smash».

Wie Zürich, wo Peter Roth von der «Kronenhalle-Bar» vor vierzig Jahren den «Ladykiller» erfand, oder Venedig mit dem «Bellini» der «Harry’s Bar» ist auch Hamburg die Wiege eines Drinks, der die Welt erobert hat: «Le Lion»-Besitzer Jörg Meyer kreierte 2008 den herrlich erfrischenden Mix aus gebrochenen Basilikumblättern, Zitronensaft, Zucker und Gin.

Den Raum von edler Schlichtheit erfüllt das Klackern der Eiswürfel im Shaker. «Never sit at a table when you can stand at the bar», murmelt der Falter in memoriam Ernest Hemingway und nippt an der Theke an seinem «Basil Smash». Diese grüne Schwester des roten Negroni, die Gin mit bitteren und süssen Noten vermählt, wird von der Bartenderin in Vollendung zubereitet: perfekt gekühlt und ausbalanciert, mit frischer Basilikum-, aber nicht übertriebener Bitternote.

Zu bitter ist bloss der Umstand, dass soeben die Hotelreservation geplatzt ist: Die Business-Plattform Travelperk hat dem Falter ein Zimmer als gebucht garantiert – und dies kurzfristig zurückgezogen, ohne Hand für eine Lösung zu bieten. Als die Bar um eins schliesst, hat er kein Bett für diese Nacht, durch die Gruppen in Cowboystiefeln und Glitzerkleidern ziehen: Herrje, Swifties! Kein Wunder, sind alle Hotels ausgebucht: Wenige Wochen nach ihrem Zürcher Konzert ist Taylor Swift, die den Falter wohl verfolgt, ausgerechnet an diesem Dienstag in Hamburg aufgetreten. Er muss sich die Nacht hundemüde um die Ohren schlagen – nicht auf der Reeperbahn, wo sie zum Tag wird, aber in der Lobby eines Hotels, das ihm dort Asyl gewährt.

Le Lion – Bar de Paris
Rathausstrasse 3, 20095 Hamburg (D)
Sonntags geschlossen.
Telefon 0049 40 334 75 37 80

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.

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