Samstag, November 30

Die Spitzenbergsteiger bewältigen ohne Unterbruch zehn exponierte Gipfel inklusive Eiger, Mönch und Jungfrau. In den Alpen war wohl noch niemand so lange am Stück in akutem Absturzgelände unterwegs.

Sie sind gerade einmal neunzig Minuten unterwegs, da hat er bereits Blasen an den Füssen, und Nicolas Hojac fragt sich: «Wie soll ich mehr als dreissig Stunden bergsteigen, wenn mir jetzt schon die Fersen schmerzen?» Er hadert mit sich, leidet auch an der Hitze, denkt ans Aufgeben. Weil er seinem Kletterpartner Adrian Zurbrügg die gute Laune nicht nehmen will, behält Hojac die Gedanken für sich. Aber er muss sich anstrengen, den Anschluss zu halten.

Der 32-jährige Spitzenbergsteiger aus Spiez ist ein Phänomen. Hojac dürfte in der Schweiz in seinem aussergewöhnlichen Metier der einzige Vollprofi sein. Auch andere sorgen mit alpinistischen Expeditionen und Speed-Begehungen für Aufsehen, verdienen aber zumindest einen Teil ihres Lebensunterhalts anderswo, etwa als Bergführer oder als Angestellte von Outdoor-Marken.

Umso mehr könnte Hojac versucht sein, seine Leistungen zu heroisieren und das Zerrbild zu untermauern, Alpinisten seien angstfreie Übermenschen. Aber er macht nichts dergleichen. Offen thematisiert er beim Gespräch in einem Berner Café stattdessen Momente der Schwäche und der Selbstzweifel, was umso authentischer begreifbar macht, wie er seine Abenteuer erlebt. Sie sind nicht zuletzt ein ständiger Kampf mit der eigenen Psyche.

Gemeinsam mit Zurbrügg ist Hojac vor kurzem eine historische Überschreitung gelungen: In 37 Stunden und 5 Minuten überquerte das Duo Eiger, Mönch, Jungfrau, Rottalhorn, Louwihorn, Gletscherhorn, Äbni Flue, Mittaghorn, Zuckerstock und Breithorn. 10 Gipfel, 65 Kilometer, 7029 Höhenmeter, unterwegs nur zwei Pausen von 20 bis 30 Minuten – und keinerlei Schlaf.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit war in den Alpen vorher noch niemand so lange in akutem Absturzgelände, ohne unterwegs zu biwakieren. Die «Spaghetti-Tour» mit ihren achtzehn Viertausendern im schweizerisch-italienischen Grenzgebiet wurde mehrfach am Stück bewältigt, unter anderem von Hojac und Zurbrügg selbst, sie ist aber lediglich 30 Kilometer lang. Der Wettersteingrat mit der Zugspitze umfasst 70 Kilometer, ist jedoch weniger exponiert. Trail-Läufe können sogar 50 Stunden dauern, führen aber zumindest teilweise über Wanderwege.

Im Sommer 2022 überquerten Hojac und Zurbrügg bereits in Rekordzeit Eiger, Mönch und Jungfrau. Sie waren danach weniger müde, als sie befürchtet hatten. Im Sommer 2023 scheiterte der erste Versuch der Zehn-Gipfel-Tour: Die Nullgradgrenze war auf 5000 Meter gestiegen, weshalb der Schnee nachts nicht mehr gefror, die Bergsteiger versanken bei jedem Schritt. Alpine Grenzgänge sind mittlerweile stets auch Begegnungen mit den Folgen des Klimawandels.

Dieses Jahr startet das Duo um 14 Uhr 55 in Grindelwald. Der Uhrzeit liegt eine präzise Kalkulation zugrunde: Sie wollen den verschneiten Gletscher zwischen Mönch und Jungfrau noch vor Sonnenaufgang überqueren, bei hartem Schnee. Früher zu starten, ist keine Option: Zurbrügg ist Landschaftsgärtner, er arbeitet morgens noch auf einer Baustelle.

Zunächst tragen sie kurze Hosen und T-Shirts, dazu das Nötigste im Rucksack: Essen, Trinken, sechs Expressschlingen, ein Sechs-Millimeter-Seil, Regenjacken, Midlayer, lange Hosen. Je technischer das Gelände wird, desto besser kommt Hojac in Schwung. Am Mittellegigrat des Eigers führt wie geplant er, der herausragende Kletterer.

Aufstieg im letzten Tageslicht, Abstieg im Dunkeln: Nicolas Hojac und Adrian Zurbrügg am Eiger.

«Ein Fall für den Helikopter»

Bevor sie das Jungfraujoch erreichen, schluckt Hojac eine Koffeintablette, auch das hat er sich genau überlegt. Er will den Touristen-Hotspot passieren, ohne erneut ans Aufhören zu denken. «Es kann allzu verlockend sein, sich dort in die beheizte Lounge zu setzen und zu warten, bis um 8 Uhr 17 die erste Bahn nach unten fährt», sagt er. Hojac und Zurbrügg füllen ihren Proviant am vorbereiteten Depot auf und marschieren weiter zum kalten, windigen Ostgrat der Jungfrau.

Nach dem mythischen Gipfel folgen schlechter erschlossene Passagen. Immer wieder steht hier im Bergführer: «In den letzten Jahrzehnten keine Begehung bekannt.» Eine Probetour am Gletscherhorn brach das Duo zwei Wochen zuvor ab, weil der Schnee nicht gefroren war. «Wir wussten, wenn wir jetzt weitergehen, sind wir ein Fall für den Helikopter», sagt Hojac über den Erkundungsversuch. Er hat in seiner Karriere wohl mehr Touren vorzeitig beendet als ins Ziel gebracht, was belegt, dass er kein Hasardeur ist, sondern bei aller Leidenschaft nüchtern und rational.

Diesmal bleibt das Risiko vertretbar. An der Äbni Flue ist ein Bergschrund bedenklich weit geöffnet, aber die Passage lässt sich überwinden. Immer wieder gerät das Duo in brüchiges Gestein, am Grosshorn bricht Hojac ein Felsblock unter den Füssen weg. «Je müder man ist, desto mehr setzt einem so etwas zu», sagt er. «Sonst nimmt man es eher auf die leichte Schulter, nach 24 Stunden im Fels fährt einem der Schreck in die Glieder.»

An den verwechteten Graten nehmen die unguten Gefühle ebenfalls zu, je länger die Tour dauert: Was, wenn eine Schneekuppe plötzlich in die Tiefe rutscht? Im letzten Jahr erlebte Hojac am Mönch einen Wechtenbruch. Er rutschte eineinhalb Meter ab, die Situation brannte sich ins Gedächtnis ein.

«Es bringt dir nichts, wenn du abstürzt»

Sein oberstes Ziel lautet, gesund nach Hause zu kommen. Er hat viele Kollegen in den Bergen verloren, zum Beispiel seinen ehemaligen Mentor Ueli Steck, der 2017 verunglückte. Stecks wahnwitzig wirkenden Rekord von 2:22 Stunden in der Nordwand des Eigers wird Hojac nicht angreifen, das sei zu gefährlich: «Es bringt dir nichts, wenn du abstürzt.» Auch Dani Arnolds Bestmarke von 1:46 Stunden an der Matterhorn-Nordwand tastet er nicht an.

Gleichzeitig wird sich Hojac wohl nie vollständig auf Expeditionen ausserhalb Europas konzentrieren. Zu gross wäre ihm der ökologische Fussabdruck, zu ungewiss wären darüber hinaus die Erfolgsaussichten. Ausgedehnte Gipfelkombinationen in den Alpen entpuppen sich als verheissungsvolle Alternative für einen, der stets Neues sucht.

Die Überschreitung ist für ihn klettertechnisch einfach, wird aber dennoch zur Grenzerfahrung. Auf dem Breithorn, nach 32 Stunden, lassen Koordination und Gleichgewichtssinn nach. «Ein Gefühl wie in einem Fiebertraum», sagt Hojac. Der finale Abstieg wird zum Orientierungslauf. Seit die benachbarte Mutthornhütte geschlossen ist, weil sie wegen des auftauenden Permafrosts abstürzen könnte, wird der Gipfel seltener begangen. Steinmännchen, die der Orientierung dienen, verschwinden. Hojac kann die Swisstopo-App nicht mehr konsultieren, sein Handyakku ist leer. Zurbrügg bleiben noch 16 Prozent Akku, er geht voraus.

Die beiden finden ins Tal. Dort sind die wartenden Angehörigen überrascht, dass sie kaum Freude zeigen. Das passiert erst später. Im Augenblick des Erfolgs sind sie schlicht zu müde.

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