Dienstag, November 19

Vor und nach der Urteilsverlesung spielten sich vor dem Gerichtsgebäude teilweise chaotische Szenen ab. Polizisten wirkten nervös und überfordert.

Mit der Urteilsverkündung fand am Dienstag in Hongkong das mit Abstand grösste und aufwendigste Gerichtsverfahren auf der Grundlage des Gesetzes für die nationale Sicherheit seinen Abschluss. Der West Kowloon District Court verurteilte 45 ehemalige Politiker, Wissenschafter und Demokratieaktivisten zu teilweise langen Haftstrafen. Die Strafverfolger warfen den Angeklagten «Verschwörung mit dem Ziel des Umsturzes» vor.

Peking hatte das umstrittene Gesetz für die nationale Sicherheit im Jahr 2020 nach den regierungskritischen Protesten ein Jahr zuvor in der früheren britischen Kronkolonie eingeführt.

Joshua Wong, Studentenführer und der Prominenteste der Aktivisten, erhielt eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten. Benny Tai, ein früherer Rechtsgelehrter und Bürgerrechtler, wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Die meisten der anderen Angeklagten erhielten Gefängnisstrafen zwischen vier und acht Jahren. Die Oppositionellen waren bereits vor mehr als drei Jahren angeklagt worden. Von den insgesamt 47 Angeklagten wurden im Mai zwei freigesprochen.

Konkret werfen die Strafverfolger den Oppositionellen das Abhalten einer inoffiziellen Vorwahl im Jahr 2020 vor. Mit der Abstimmung wollten die Organisatoren die aussichtsreichsten Kandidaten für die Wahlen zum Hongkonger Parlament, dem Legco, 2021 bestimmen. Die Wahl wurde wegen der Pandemie später abgesagt.

Der Regierungschef suchte die Richter aus

Anders als bei ähnlichen Gerichtsverfahren fällten nicht Geschworene, sondern drei Richter die Urteile über die 45 Demokratieaktivisten. Die Richter hatte John Lee, der Hongkonger Regierungschef, ausgewählt. Hongkongs Gesetz für die nationale Sicherheit sieht ein solches Verfahren ausdrücklich vor.

Die monatelangen Proteste in Hongkong 2019 hatten in der chinesischen Führung grosse Nervosität ausgelöst. Seitdem hat Peking die Freiheitsrechte in der früheren britischen Kolonie massiv eingeschränkt. So wird die Arbeit für unabhängige Journalisten immer schwieriger, öffentliche Kritik an den Machthabern in Peking ist praktisch nicht mehr möglich, und das Rechtssystem erodiert zusehends.

Die meisten ausländischen Richter haben Hongkong aus Protest verlassen. Als Hongkong britische Kolonie war, praktizierten an den Gerichten auch Richter aus Grossbritannien, Australien und Kanada. Viele von ihnen blieben, auch als die Briten Hongkong 1997 an China zurückgaben.

Pekings Verbindungsbüro in Hongkong kontrolliert in der Stadt inzwischen sämtliche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche. Viele seiner Anweisungen erhält das Büro direkt von Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping.

Die Urteilsverkündung dauerte nur wenige Minuten

Die Verkündung der Urteile am Dienstag dauerte nur wenige Minuten. Mit Blick auf die Urteilsbegründung verwies der vorsitzende Richter zu Beginn der Sitzung auf ein 82-seitiges Dokument, das auf der Website der Justizbehörden heruntergeladen werden könne.

Anschliessend verlas der Richter die Strafmasse der einzelnen Angeklagten, ohne ihre Namen zu nennen. Stattdessen hatte das Gericht die Angeklagten mit Nummern versehen. Anschliessend beendete der vorsitzende Richter die Sitzung. Die Angeklagten verfolgten die Urteilsverkündung hinter einer Glasscheibe im Gerichtssaal.

Die Bekanntgabe der Strafmasse für die Demokratieaktivisten sorgte für grosses Interesse in der Hongkonger Öffentlichkeit. Bereits am Montagabend stellten sich Bürgerinnen und Bürger vor dem Gerichtsgebäude an, um einen der weniger Besucherplätze zu ergattern.

Überforderte Polizisten

Am Dienstagvormittag sicherten Hunderte Polizisten und zahlreiche Beamte in Zivilkleidung sowie nicht zu identifizierende junge, kräftige Männer das Gebäude und die Umgebung. Mindestens einer der Zivilbeamten filmte Journalisten und Schaulustige. Die Praktiken der Hongkonger Behörden erinnern zunehmend an die Vorgehensweisen auf dem chinesischen Festland.

Nach der Bekanntgabe der Urteile spielten sich vor dem Gerichtsgebäude teilweise chaotische Szenen ab. Augenscheinlich nervöse und überforderte Polizisten versuchten lautstark, friedliche Besucher und Journalisten zu vertreiben. Teilweise kam es zu Handgreiflichkeiten.

Exit mobile version