Dienstag, Oktober 8

Wer allein aufwächst, gilt als egoistisch, verwöhnt und einsam. Unsere Autorin kämpfte auf dem Cordsofa gegen diese Vorurteile an. Fünfter und letzter Teil der Serie «Geschwister».

Wer Geschwister hat, scheint ein Leben ohne Brüder und Schwestern oft als Maximalstrafe zu sehen. Allein aufzuwachsen muss doch einsam sein, heisst es. Und wer so etwas durchmacht, trägt bestimmt einen Schaden davon.

Wir Einzelkinder gelten als egoistisch, verwöhnt und einsam. Es heisst, wir könnten nicht teilen und seien sozial etwas eingeschränkt. Positives hört man selten.

Ist es wirklich so schlimm?

Ich bin ein Einzelkind, und wir sind viel umgezogen, als ich klein war. Von Finnland nach Kanada, zurück nach Finnland und schliesslich in die Schweiz. Ich lernte früh, Freundschaften aufzubauen und wieder aufzugeben. Loszulassen. Neu anzufangen. Und allein zu sein.

Haben mir meine Eltern zu viel zugemutet? Hat mir das geschadet? Wäre meine Kindheit glücklicher gewesen, wenn ich einen Bruder oder eine Schwester gehabt hätte?

Diese Fragen stellen andere, ich nicht.

Allein, nicht einsam

Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich ein Sofa mit braunem Cordbezug vor mir, kaum breiter als ein Sessel, aber gerade gross genug, dass ich darauf liegen konnte, wenn ich die Beine über die Armlehne baumeln liess. Dieses Sofa stand Mitte der neunziger Jahre in unserem Wohnzimmer im finnischen Espoo und später im aargauischen Lupfig. Ich bin darauf durch die Welt gereist. Zwischen Buchdeckeln fand ich dort eine imaginäre Welt, die oft aufregender war als die reale. Es wurden Verbrecher gefasst, erste Küsse ausgetauscht und Kannibalen getötet.

Ich war viel allein, fühlte mich aber selten einsam. Mit zehn Jahren bekam ich meinen ersten Hund, Xuno. Er hat mich meine Kindheit und Jugend hindurch begleitet.

In der Serie «Geschwister» beleuchten wir die Beziehungen zwischen Schwestern und Brüdern und wie sie uns prägen.

Serie

Wo auch immer wir hingezogen sind, ich habe immer schnell Freunde gefunden. Wieso, weiss ich selbst nicht. Ich war schüchtern, eine Beobachterin, und wenn ich ehrlich bin, habe ich die Bücherwelt auf dem Cordsofa der realen manchmal vorgezogen.

Trotzdem fehlte mir zu Hause manchmal ein Spielkamerad. Ich bin schlecht in Ligretto und hab nie gelernt, Tischtennis zu spielen. Es fehlte mir ein Übungspartner. Wenn mein Vater zu Hause war, baute er mit mir Kissenburgen, und meine Mutter hat mit mir gebastelt. Aber ich musste auch früh lernen, mich selbst zu beschäftigen. Als Kind habe ich viel Zeit mit Erwachsenen – mit meinen Eltern – verbracht. Am Familientisch wurde über Politik gesprochen, und im Hintergrund lief immer irgendeine Nachrichtensendung.

Meine beste Kindheitsfreundin hatte zwei Geschwister. Ich verbrachte viel Zeit bei ihr zu Hause. Dort war es immer laut. Es wurde geschrien, und Türen wurden geschletzt. Manchmal hat uns auch der kleine Bruder grundlos geärgert, zum Beispiel dann, wenn wir am Computer «Moorhuhn» spielen wollten.

In den Sommerferien fuhr ich einmal mit ihrer Familie an den Neuenburgersee. Die Freundin, ihre Schwester und ich mussten uns ein Bett in der Kajüte eines Bootes teilen. Es war heiss und eng. Ich kann mich noch erinnern, wie froh ich war, als meine Eltern mich abholten. Es war ein toller Ausflug, aber zwei Tage mit Geschwistern waren genug.

Die Einzelkämpferin

Ich habe mich nie nach Geschwistern gesehnt, aber vielleicht wäre manches mit einer Schwester oder einem Bruder einfacher gewesen. Zum Beispiel der erste Schultag in der Schweiz. Ich konnte kein Wort Deutsch und blickte auf den Boden, als die Lehrerin mich meiner neuen Klasse vorstellte. Ich stand mit gehäkelten rosaroten Socken da. Die anderen Kinder trugen Finken. Mit acht Jahren kann so etwas darüber entscheiden, ob man dazugehört oder nicht.

In der ländlichen Schweiz der späten neunziger Jahre waren nicht alle Ausländerinnen gegenüber gleich wohl gesinnt. Der Unterricht für Deutsch als Zweitsprache fand im Dachstock des Schulhauses statt. Auf dem Weg dorthin musste ich an der 5. Klasse vorbeigehen. Eine Gruppe älterer Schülerinnen und Schüler versperrte mir jedes Mal den Weg, machte sich über meinen Akzent und meine Pu-der-Bär-Mütze lustig.

Ich war anders als die anderen, und diese Erfahrung, dieses Gefühl konnte ich nie mit jemandem teilen. Nicht mit Geschwistern. Aber auch nicht mit meinen Schweizer Freunden, die nicht verstanden haben, weshalb es so schmerzhaft war, nachgeäfft zu werden. Auch meine Eltern können bis heute nicht nachvollziehen, wie es war, in einem Land gross zu werden, in dem man sich nie komplett zugehörig gefühlt hat.

Dort, auf dieser Treppe in den Dachstock des Schulhauses, lernte ich, für mich einzustehen. Ich hatte keinen Bruder und keine Schwester, hinter denen ich mich hätte verstecken können. Ich musste da allein durch – buchstäblich. Wollte ich so sein wie die anderen? Oder wollte ich ich selbst sein? Die Mütze gefiel mir, und ich trug sie noch mehrere Jahre. Den Akzent habe ich bis heute.

Die Charakterschwächen

Mit acht Jahren hatte ich einen eigenen Fernseher, mit zehn das erste Handy. Ich durfte mir immer genau die Kleider aussuchen, die ich haben wollte. Als wir mit der Primarschulklasse an die Expo.02 fuhren, gab mir meine Mutter 50 Franken mit. Für eine Zehnjährige war das viel Geld, und ich wusste auch gar nicht, was ich damit anfangen sollte. Also verteilte ich es an meine Klassenkameraden, und alle durften Büchsen werfen, bis das ganze Geld weg war.

Als Einzelkind bekam ich mehr als andere. Das war mir schon früh bewusst, und es war mir unangenehm. Ich hatte immer das Gefühl, in der Schuld meiner Eltern zu stehen. Doch genau das wollte ich nicht. Als ich ins Gymnasium kam, habe ich mir einen Nebenjob gesucht, bei der Migros an der Kasse, samstags und in den Ferien.

Als Einzelkind lastet ein besonderer Druck auf einem: Du bist allein dafür verantwortlich, keine Enttäuschung zu sein. Doch als Teenager sah ich mich oft genau als das: als eine Enttäuschung. Meine Eltern waren nicht streng, aber stets besorgt. Vor allem meine Mutter. Ich habe mir das damals nie überlegt, aber jetzt im Nachhinein ist klar: Hätte ich Geschwister gehabt, wäre ich gezwungen gewesen, auf diese Rücksicht zu nehmen. Auch sie hätten Probleme und Erfolge gehabt, und meine eigenen wären daneben etwas kleiner geworden.

Als Einzelkind aber stand ich zu Hause ständig ungewollt im Rampenlicht: ein Sechser im Aufsatz? Du bist so talentiert, aus dir wird etwas Grosses! Wieder einmal ein Vollsuff am Eishockey-Match? Was haben wir bloss falsch gemacht, zu Hause hast du das bestimmt nicht gelernt!

Natürlich macht es etwas mit einem, wenn man ständig die Hauptrolle spielen muss. Ich bin ungeduldig und kompromisslos. Wenn Kollegen am Mittag darüber diskutieren, wo sie zusammen Essen holen wollen, bin ich schnell weg. Ich liebe Mezze, aber wenn die kleinen Gerichte auf den Tisch kommen, werde ich ganz nervös. Am besten packt man sich sofort von allem etwas auf den Teller, bevor es zu spät ist. Aber wie viel darf man nehmen?

Wenn ich mit Freunden in die Ferien fahre, kann ich auch gut einmal mein eigenes Ding machen, wenn mich das Gemeinschaftsprogramm nicht anspricht. Und ich will mein eigenes Zimmer.

Auch zu Hause brauche ich meine Ruhe. Eine leere Wohnung mag für jemanden trostlos wirken, der es gewohnt ist, von vielen Menschen umgeben zu sein. Für mich ist diese Leere wie ein Schutzraum, ein Ort, wo ich mich zurückziehen kann, um die sozialen Batterien aufzuladen.

Bevor ich im letzten Sommer nach Tallinn zog, äusserten mehrere Freunde die Sorge, ich könnte hier vereinsamen. Sie rieten mir, einem Verein beizutreten oder auf Tinder zu gehen. Ich tat das Gegenteil. Die ersten Wochen verbrachte ich allein mit meiner Hündin Martta. Wir spazierten durch die Stadt, und ich kaufte mir ein Fitness-Abo, um allein zu trainieren. Trotzdem habe ich auch diesmal Freunde gefunden.

Die Zukunftsangst

Meine Familie – das waren immer meine Eltern und ich.

Meine zweite Familie sind meine Freunde. Es ist eine Familie, die ich mir aussuchen konnte und die sich umgekehrt auch mich ausgesucht hat. Das ist schön, bedeutet aber auch, dass man sich jederzeit dazu entscheiden kann, nicht mehr befreundet zu sein. Das ist der grosse Unterschied.

Geschwister gehören immer zusammen, egal, ob sie sich lieben oder streiten. Ob sie jahrelang keinen Kontakt mehr haben und sich dann plötzlich wegen des Erbes vor Gericht wiedersehen müssen. Sie bleiben für immer miteinander verbunden.

Jetzt, da ich älter bin und noch keine eigene Familie habe, denke ich manchmal darüber nach, was passieren wird, wenn meine Eltern sterben. Dann bin ich ganz allein. Ich glaube, diese Einsamkeit, die wäre sogar mir zu viel. Doch als Einzelkind habe ich gelernt, mich allein durchzusetzen. Auch ohne Pu-der-Bär-Mütze.

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