Die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Zinsen im Euro-Raum am Donnerstag unverändert gelassen. Für viel Aufsehen sorgte eine Mitarbeiterumfrage, deren Ergebnisse am Montag publik wurden.
Christine Lagarde hatte bei ihrem Amtsantritt im November 2019 bei vielen Mitarbeitern einen guten Eindruck hinterlassen: Charmant, weltgewandt und mit viel Erfahrung in wirtschaftspolitischen Spitzenpositionen, wenngleich nicht in der Geldpolitik. In den ersten Monaten freuten sich Angestellte über ihre interne Präsenz. Der Vorgänger Mario Draghi hatte dagegen als Phantom gegolten, das man selten zu Gesicht bekommt. Inzwischen hat die Stimmung wohl gedreht, wie eine neue Mitarbeiterumfrage zeigt, deren miserable Ergebnisse die geldpolitische Entscheidung am Donnerstag überschatteten.
Bessere Beurteilung von Draghi und Trichet
In einer unveröffentlichten, aber Medien gezielt zugespielten Gewerkschaftsumfrage zur Halbzeit ihrer achtjährigen Präsidentschaft übten die befragten Mitarbeiter scharfe Kritik. Eine knappe Mehrheit beurteilte die Arbeit von Präsidentin Lagarde als «schlecht» oder «sehr schlecht». Zuerst hatte «Politico» über die Ergebnisse der Befragung berichtet. Zudem befanden mehr als 53 Prozent, dass die Französin derzeit nicht die richtige Person für das Amt sei.
Damit schnitt Lagarde erheblich schlechter ab als ihre beiden Vorgänger Mario Draghi und Jean-Claude Trichet jeweils am Ende ihrer Amtszeit. Die Präsidentin verbringe zu viel Zeit mit Themen, die nichts mit der Geldpolitik zu tun hätten und begebe sich zu häufig in den politischen Bereich, sei unter anderem kritisiert worden. Die Kritik dürfte wohl auch mit der zeitweise ausser Kontrolle geratenen Inflationsrate zusammenhängen, die im Oktober 2022 in der Euro-Zone 10,6 Prozent erreicht und in einigen Ländern sogar über 20 Prozent notiert hatte.
Die EZB bezeichnete die Umfrage, an der 1159 der mehr als 5000 Mitarbeiter teilgenommen haben sollen, als «fehlerhaft». Sie erwecke den Anschein, dass sie von derselben Person mehrfach hätte ausgefüllt werden können. Aufseiten der Gewerkschaft halte man das für möglich, habe jedoch Vertrauen in die Aussagekraft des Ergebnisses, berichtete Bloomberg am Dienstag. Bereits vor Veröffentlichung der Resultate war in bilateralen Gesprächen immer mal wieder Kritik an den Beförderungspraktiken und an den angesichts der hohen Teuerung zu geringen Lohnerhöhungen laut geworden.
Inzwischen ist die Inflation in der Euro-Zone deutlich gesunken, obwohl sie im Dezember wieder von 2,4 auf 2,9 Prozent angezogen hat. Damit liegt die Inflationsrate immer noch deutlich über dem Zielwert der Zentralbank von mittelfristig zwei Prozent. Am Donnerstag hielt die EZB dennoch an ihrer im Oktober eingelegten Zinspause fest und liess die drei Leitzinssätze unverändert. Das war weitherum erwartet worden.
Kerninflation weiter auf dem Rückzug
Die derzeitigen Daten würden die bisherige Einschätzung der mittelfristigen Inflationsaussichten des EZB-Rates weitgehend bestätigen, teilte die Währungsbehörde mit. Abgesehen von einem energiepreisbedingten leichten Anstieg der Gesamtinflation aufgrund eines statistischen Basiseffekts, habe sich der rückläufige Trend bei der Kerninflation fortgesetzt. Die Kerninflation misst die Teuerung ohne die volatilen Preise für Energie, Lebensmittel, Alkohol und Tabak. Sie war im Dezember von 3,6 auf 3,4 Prozent gesunken.
Die Zinserhöhungen von insgesamt 4,5 Prozentpunkten in nur 14 Monaten sollen also erst einmal weiter wirken. Zudem würden die bisherigen Zinsschritte weiter stark auf die Finanzierungsbedingungen durchschlagen, hiess es. Diese würden die Nachfrage dämpfen, und dies trage ebenfalls zum Rückgang der Inflation bei. Der derzeit massgebende Einlagenzinssatz, den Geschäftsbanken für kurzfristige Einlagen bei der Notenbank erhalten, liegt damit weiterhin bei vier Prozent. Der in der Öffentlichkeit bekanntere Hauptrefinanzierungssatz notiert bei 4,5 Prozent.
An den Finanzmärkten wurde im Vorfeld der Sitzung angesichts der gesunkenen Inflation und der schwächelnden Konjunktur mit einer ersten Zinssenkung der EZB im April gerechnet. Zudem erwarteten Marktteilnehmer Zinssenkungen über insgesamt rund 1,4 Prozentpunkte bis Ende des Jahres. Vor allem einige Ökonomen in Deutschland halten das für viel zu optimistisch und rechnen mit einer ersten Zinsreduktion im Juni oder Juli. Hinter den Hoffnungen der Marktteilnehmer steckt wohl die Befürchtung, dass sich der Abschwung in der Euro-Zone akzentuieren könnte. Derzeit hat die Stagnation jedoch kaum negative Folgen für den Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote im Euro-Raum lag jüngst bei rekordtiefen 6,4 Prozent.
Zugleich besteht allerdings auch das Risiko, dass die Inflation wieder anzieht. Dabei könnten anhaltend hohe Lohnabschlüsse eine wichtige Rolle spielen oder auch die geopolitischen Spannungen im Nahen Osten, welche die Energie- und Transportkosten in die Höhe treiben könnten. Die EZB dürfte daran interessiert sein, nicht noch einmal auf dem falschen Fuss erwischt zu werden. Als die Teuerung in der Euro-Zone vor rund einem Jahr stark angezogen hatte, hatten viele EZB-Ratsmitglieder dies lange als vorübergehende Erscheinung abgetan. Diese Einschätzung entwickelte sich zu einem der grössten geldpolitischen Fehler der vergangenen Jahrzehnte, der das Vertrauen der Mitarbeiter in die Führung der Notenbank kaum gestärkt haben dürfte.
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