Sparen ist out. Nun wechselt sogar Deutschland ins Lager der Defizitsünder. Europa schwächt seine Währung und beschleunigt damit seinen Abstieg.
Am 5. August 2011 erhielt Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi einen geschichtsträchtigen Brief aus Frankfurt. Er war unterschrieben von Jean-Claude Trichet, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), sowie seinem designierten Nachfolger Mario Draghi. Eigentlich sollte das Schreiben geheim bleiben.
Auf die harmlose Anrede «Lieber Ministerpräsident» folgte ein knüppelhartes Spardiktat: Berlusconi müsse das italienische Staatsdefizit bis im Jahr 2013 zum Verschwinden bringen. Um diese Rosskur durchzupeitschen, gaben ihm die Notenbanker eine Frist von nur zwei Monaten. Trichet und Draghi scheuten sich auch nicht, konkrete Massnahmen anzuordnen. Italien müsse die Ausgaben für das Staatspersonal kürzen und die Beamtenlöhne senken. Zudem brauche das Land eine «automatische Schuldenbremse», hielten die beiden Sparapostel fest.
Berlusconi beugte sich dem Diktat und beschloss – zähneknirschend – Kostensenkungen von 50 Milliarden Euro. Trotzdem konnte er sich nur noch für kurze Zeit im Amt halten. Zu sehr hatte der Druck aus der EU-Zentrale seine Macht untergraben. Nicolas Sarkozy, der damalige Präsident Frankreichs, offenbarte in seinen späteren Memoiren freimütig, er sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel hätten Berlusconi gezielt aus dem Amt gedrängt. «Grausam, aber notwendig» nannte er den deutsch-französischen Putsch.
Die Episode verdeutlicht es: Es gab eine Zeit, da die Euro-Zone den sparsamen Umgang mit den Steuergeldern durchaus ernst nahm. Schliesslich sind die Mitgliedsländer vertraglich dazu verpflichtet: Gemäss dem Stabilitätspakt von Maastricht darf das Staatsdefizit nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) erreichen. Und der Schuldenstand darf nicht über 60 Prozent des BIP steigen.
Spätestens heute jedoch weiss man: Maastricht ist ein Schwindel. Kaum ein Land hält sich noch an den vereinbarten Pakt. Was Berlusconi einst den Kopf gekostet hat, praktizieren die gegenwärtigen Staatschefs ohne jegliche Skrupel. Das belegt folgender Vergleich: Italien verzeichnete damals, im Jahr 2011, ein Budgetdefizit von 3,6 Prozent, während sich die Verschuldung auf 120 Prozent summierte.
Macron darf ungehemmt Schulden anhäufen
Frankreich steckt mittlerweile in einer ebenso desolaten Lage: Das Land hat allein im letzten Jahr ein Defizit von 6,1 Prozent eingefahren. Der Schuldenstand erreicht bereits 115 Prozent und wird laut Prognose der EU-Kommission bis 2034 auf 139 Prozent klettern. Die Behörde warnte in einem Bericht vor «hohen Risiken» für die finanzielle Stabilität.
Dennoch darf der französische Präsident Emmanuel Macron seine Maastricht-widrige Schuldenpolitik ungehemmt weiterführen. Weder die EZB-Präsidentin Christine Lagarde noch die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen stören sich an diesem eklatanten Verstoss gegen die Vertragsregeln.
Schon jetzt liegt der Stabilitätspakt im Koma. Nun versetzt ihm der designierte deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz definitiv den Gnadenstoss, indem er die deutsche Schuldenbremse aushebelt. Das Fatale daran: Wenn jetzt sogar das vorbildliche Deutschland seine Budgetdisziplin über Bord wirft, so bedeutet das eine Einladung an die notorischen Defizitsünder, künftig noch mehr über die Stränge zu schlagen. Den Vorwand liefert diesmal das Militär – so wie zuvor die Finanzkrise, das Klima oder Corona. Bereits hat die EU-Kommission beschlossen, für die Aufrüstung die Budgetregeln zu sistieren.
Das Muster wiederholt sich. Sobald die europäische Politik auf ein Hindernis stösst, lautet die Antwort: noch mehr Schulden. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger allerdings verspielen die Politiker auf diese Weise. Denn hohe Schulden sind ein Zeichen der Schwäche. Sie führen namentlich dazu, dass die eigene Währung an Wert und Glaubwürdigkeit verliert. Nur mit einem starken Euro aber kann Europa auch ein starker Kontinent sein.
Deutschland besass mit der D-Mark einst eine der härtesten und solidesten Währungen der Welt. Diesen Trumpf hat das Land mit dem Beitritt zur Währungsunion leichtfertig verspielt. Bei der Einführung im Jahr 1999 kostete ein Euro 1.60 Franken. Inzwischen hat sich der nominale Wert beinahe halbiert und beträgt gerade noch 95 Rappen.
Teuerung frisst den Wohlstand weg
Warum eine solche Abwertung die Kaufkraft und den Wohlstand schädigt, hat die jüngste Inflationswelle eindrücklich gezeigt. In Deutschland kletterte die Teuerung auf 8,8 Prozent, in Österreich gar auf 11,2 Prozent. Derweil erreichte das Maximum in der Schweiz, dem starken Franken sei Dank, lediglich 3,5 Prozent. Inzwischen ist die Jahresteuerung wieder auf 0,3 Prozent gesunken, während sie in Deutschland hartnäckig über 2 Prozent verharrt und in Österreich noch immer 3,3 Prozent beträgt.
Kaum etwas gefährdet den sozialen Frieden mehr als die Geldentwertung. Steigende Preise fressen das Einkommen und die Ersparnisse weg – sie sind damit nichts anderes als eine Steuer. «Die Inflation ist der Taschendieb der kleinen Leute», heisst es im Volksmund. Und von Friedrich Merz stammt der kluge Ausspruch: «Die beste Sozialpolitik ist Geldwertstabilität.» Auf diesem Prinzip basiert der Stabilitätspakt von Maastricht: Weil Schulden die Währung schwächen und dies wiederum die Inflation anheizt, müssen sich die Mitgliedsländer der Einheitswährung auf eine solide Finanzpolitik verpflichten.
Dumm nur, dass die Politiker ihre hehren Versprechungen kaum je eingehalten haben. Allein in den 2000er Jahren lag das Staatsdefizit Deutschlands viermal in Folge über der 3-Prozent-Marke. Gravierender allerdings für die Demontage des Maastricht-Vertrags ist die Rolle der EZB. Anstatt ihre Unabhängigkeit im Interesse der Bürger wahrzunehmen, liess sie sich immer mehr von der Politik instrumentalisieren.
Seit Mario Draghi auf dem Höhepunkt der europäischen Schuldenkrise sein berühmtes «Whatever it takes» («Wir tun alles Notwendige») formuliert hat, fühlen sich die Finanzminister erst recht nicht mehr an die Budgetregeln gebunden. Sie wissen: Im Notfall wird die Zentralbank ihre geldpolitische «Bazooka» hervorholen und die maroden Staatsanleihen aufkaufen.
Der Markt leistet wertvolle Dienste
Diesen Mechanismus hat die EZB immer weiter ausgebaut: Mit dem Transmission Protection Instrument (TPI) kann sie unbegrenzt Obligationen eines Landes kaufen, sobald dieses unter einer «ungerechtfertigten» Verschärfung seiner Finanzierungsbedingungen leidet. Auf diese Weise eliminiert die Zentralbank gezielt die disziplinierenden Kräfte des Marktes.
Welche wertvollen Dienste diese jedoch leisten, sah man kürzlich in Grossbritannien. Als Premierministerin Liz Truss im Herbst 2022 Steuerrabatte ankündigte, die sich das Land nicht leisten konnte, legten die Märkte ihr Veto ein: Das britische Pfund stürzte ab, und die Risikoaufschläge der Staatsanleihen schossen nach oben. Wenig später war die Regierung Truss Geschichte. Was zeigt: Die Märkte verhindern finanzpolitische Exzesse bereits im frühen Stadium und überdies transparent. Klandestine Briefe, wie im Falle Berlusconis, sind nicht erforderlich.
Was für ein Segen ein gesunder Staatshaushalt ist, verdeutlichen ausgerechnet jene Länder, die in der letzten Schuldenkrise das abwertende Akronym PIIGS trugen: Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien. Deren drakonische Sparprogramme haben sich gelohnt: Seit 2019 sind alle fünf Volkswirtschaften um mindestens 20 Prozent gewachsen, derweil Deutschland, Österreich und Frankreich stagnieren. Ein besonderer Triumph für die «Pleite»-Griechen, wie sie die «Bild»-Zeitung damals titulierte: Der Risikoaufschlag ihrer Staatsanleihen sank jüngst sogar unter denjenigen der Franzosen.
Dass die grossen Euro-Länder Deutschland und Frankreich kaum noch wachsen, schmälert ihre Kapazität für neue Schulden. Hier lohnt sich ein Blick darauf, wie die Defizitgrenze von 3 Prozent im Maastricht-Vertrag entstanden ist: Man ging damals von einem nominalen jährlichen Wachstum von 5 Prozent aus – bestehend aus einem realen BIP-Anstieg von 3 Prozent plus 2 Prozent Inflation. Ein Defizit von 3 Prozent hätte damit die Schuldenquote konstant bei 60 Prozent des BIP gehalten.
Heute jedoch sind 3 Prozent Realwachstum illusorisch: Damit die Rechnung folglich aufgeht, braucht es entweder mehr Inflation – oder aber ein tieferes Defizit. Angesichts der sozialen Kosten, welche die Inflation verursacht, ist ein sparsamer Haushalt die bessere Option. Nun besteht zwar die Hoffnung, dass das Schuldenpaket von Friedrich Merz neue Wachstumsimpulse auslöst. Dass er Deutschland aufrütteln will, damit das Land wieder zu einer Wirtschaftslokomotive für Europa wird, ist ebenfalls zu begrüssen.
Dann aber darf Merz nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Denn gleichzeitig braucht Europa eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Geist von Maastricht: Nur mit einem starken Euro, dem die Menschen vertrauen, kann der Kontinent seinen Wohlstand mehren. Die EZB muss sich auf ihren Kernauftrag, die Bekämpfung der Inflation, beschränken. Die Euro-Länder müssen sich zudem auf einen neuen, absolut verbindlichen Stabilitätspakt einigen und dessen Kontrolle vermehrt den Marktkräften überlassen. Die Erfolgsgeschichten des Schweizerfrankens und der früheren D-Mark zeigen, dass es funktioniert.