Mittwoch, März 19

Wenn wir uns verletzen, empfinden wir Schmerz. Aber was empfindet ein Fisch, wenn er am Haken hängt? In dieser Frage treffen Philosophie und Biologie aufeinander. Doch die Wissenschaft tut sich schon mit der Definition schwer, was Schmerz überhaupt ist.

Nur seine linke Schere hängt noch in der brodelnden Brühe, in der all die anderen Krebse tot hin und her schwappen. Mit den Beinen schabt Yang Guo über den glatten Edelstahl des breiten Kochtopfrandes, doch die Schere steckt fest und zieht ihn immer wieder zurück an die Kante. Schliesslich stösst er sie energisch mit der anderen von sich. Er strampelt und drückt, bis sie abreisst und in den Topf sinkt. Dann kraxelt er aussen am Topf hinunter und springt dem Tod von der Schippe.

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Yang Guo hat sich wortwörtlich ein Bein ausgerissen, um nicht lebendig gekocht zu werden. Die junge Frau, die ihn vor Jahren in einem Restaurant in China dabei filmte, nahm ihn gleich mit nach Hause und setzte ihn in ihr Aquarium, so sehr bewunderte sie seinen Überlebenswillen.

Und tatsächlich sieht es nicht so aus, als kletterte Yang Guo nur instinktiv aus dem Topf. Man hat unweigerlich den Eindruck, er könne den Schmerz einfach nicht länger ertragen. Dass Hummer im Kochtopf vor Schmerz schreien würden, wenn sie es denn könnten, gilt jedenfalls inzwischen als wahrscheinlich. Ihr Herz rast, in ihrem Hirn feuern die Neuronen wie Feuerwerksraketen. Nicht ohne Grund dürfen Hummer in der Schweiz und Deutschland nicht mehr ohne Betäubung in den Topf geworfen werden.

«No brain, no pain», hiess es früher

Früher glaubten wir, dass Tiere weder denken noch fühlen könnten. «No brain, no pain», hiess es: ohne Hirn kein Schmerz. Veterinärstudenten lernten, dass Tiere auf Schmerzreize nur instinktiv reagierten, um Schaden abzuwenden, nicht aber, weil sie ihnen wirklich weh täten. Heute scheint es, als hätten wir es bloss nicht besser gewusst.

Erst legten Studien nahe, dass Säugetiere Schmerz spüren. Es folgten Studien über Vögel und Fische, Kraken und Krebse und nun sogar über Bienen und Bremsen. In den letzten Jahren wurden immer mehr Arten in den Kreis der schmerzempfindlichen Tiere aufgenommen. Wo also verläuft die Schmerzgrenze im Tierreich? Oder kennt das Leid gar kein Limit?

Die Frage nach tierischen Gefühlen ist eng verknüpft mit unserem Gewissen: Tieren, die kein Leid empfinden können, kann man auch keines zufügen. Was aber, wenn alles ganz anders wäre?

Jahrzehntelang gingen Forscher davon aus, dass es dreierlei braucht, um Schmerz bewusst wahrzunehmen: sogenannte Nozizeptoren, die den Schmerzreiz aufnehmen, einen zentralen Nervenstrang, der ihn blitzschnell ins Gehirn leitet, und einen Neokortex, der ihn dort verarbeitet – jenem Teil der Grosshirnrinde also, dem der Mensch sein Bewusstsein verdankt. Ohne Neokortex kein Bewusstsein, so lautete die These, ohne Bewusstsein kein Leid.

Was braucht, es um Schmerz zu empfinden?

Das absolute Gros der Tiere besitzt weder das eine noch das andere, und selbst unter den Wirbeltieren mit ihrem Rückenmark haben nur die Säugetiere einen Neokortex. Da der aber selbst beim Menschenaffen wenig entwickelt ist, galt das Tierreich lange als Welt ohne Schmerzen. Tiere, so hiess es, würden nur reflexartig auf Schmerzreize reagieren – so wie wir dank unserer Schmerzrezeptoren die Hand von der Herdplatte ziehen, noch bevor es weh tut. Der Schmerz lehrt uns, beim nächsten Mal besser aufzupassen.

Inzwischen jedoch sind sich die Forscher weitgehend einig, dass neben den Säugetieren auch alle anderen Wirbeltiere unter Schmerzen leiden. Sie fanden heraus, dass Schmerzreize nicht allein im Neokortex verarbeitet werden. Bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln übernehmen einfach andere Gehirnareale diese Aufgabe.

Angler fragen gern, ob Fische derart an der Schnur ziehen würden, wenn es ihnen wirklich tierisch weh täte. Ebenso gut kann man vermuten, dass sich die Fische eben lieber das Maul zerreissen, als sich wehrlos dem Tod hinzugeben. Nicht nur ihre Anatomie, auch ihr Verhalten legt nahe, dass sie den Schmerz wirklich fühlen. Wenn ihnen Forscher Essigsäure in die Lippen spritzen, winden sie sich und reiben ihr Maul am Boden des Aquariums. Spritzen sie ihnen zuvor ein Schmerzmittel, reiben sie sich deutlich weniger. Vermutlich empfinden Fische Schmerzen aufgrund ihrer einfacheren Hirnstruktur ganz anders als Menschen. Das macht sie aber noch lange nicht zu gefühlskalten Reflex-Automaten.

Die Schmerzgrenze musste oft neu gezogen werden

Die Schmerzgrenze zwischen den Tieren musste ein weiteres Mal neu gezogen werden, als Forscher immer mehr Hinweise darauf fanden, dass auch wirbellose Tiere mit ihrem dezentralen Nervensystem Schmerz empfinden. Dass etwa Kraken leiden, wenn sie wie in Asien lebendig gegessen werden, bezweifeln nur noch wenige Wissenschafter. Dabei verteilt sich der Grossteil ihrer Nervenzellen auf acht neuronale Knoten in ihren Armen. Neokortex und Rückenmark? Fehlanzeige!

Trotzdem lässt ihr Verhalten kaum einen anderen Schluss zu, als dass sie Schmerzreize schmerzen. In Experimenten meiden sie Kammern, in denen ihnen Essigsäure injiziert worden ist – selbst wenn sie dort nichts mehr zu befürchten haben. Forscher denken, dass sie sich an den Schmerz erinnern.

Kraken sind ohne Zweifel ziemlich intelligent. Doch selbst Strandkrabben, die deutlich weniger Nervenzellen besitzen als Insekten, schrubben sich am Boden, wenn man ihnen Säure spritzt. Und sie meiden ihren sonst sicheren Unterschlupf, wenn ihnen dort Stromschläge drohen.

Alte Gewissheiten bröckeln

Vieles, was in der Forschung in Stein gemeisselt schien, bröckelt. Und auch die wohl letzte Mauer zwischen den Tieren zerfällt, und zwar die zwischen Insekten und allen anderen Klassen.

Wenig sprach dafür, dass Insekten Schmerz empfinden könnten. Da ist nicht nur ihre augenscheinlich unendliche Schmerztoleranz: Bienen, die weiterlaufen, obwohl eines ihrer Beine gebrochen ist. Hummeln, die weiterfliegen, obwohl ein Teil ihres Kopfes abgetrennt wurde. Oder Heuschrecken, die weiterfressen, während sie selbst gefressen werden. Auch fand man lange bei Insekten keine Schmerzrezeptoren.

Immer mehr Studien jedoch deuten darauf hin, dass Insekten Schmerzreize nicht nur wahrnehmen, sondern auch fühlen. Wissenschafter um den Biologen Lars Chittka von der Queen-Mary-Universität in London werteten Hunderte Studien aus und führten selbst zahlreiche Experimente durch.

Schmerzen können sich lohnen

In einem im Journal «PNAS» beschriebenen Versuch konfrontierten sie Hummeln mit einem Getränkespender, der unangenehm heisses, aber konzentriertes Zuckerwasser enthielt. Wenn die Tiere an einem anderen Spender ebenso süsses, aber kühles Wasser trinken konnten, vermieden sie die Hitze. War die einzige Alternative jedoch kühles, aber stark verdünntes Süssgetränk, so bevorzugten sie die heisse Quelle. Die Hummeln reagieren also nicht automatisch auf die Hitze. Sie wägen ab, ob eine in Aussicht stehende Belohnung es wert ist, dafür Schmerzen auf sich zu nehmen. Chittka deutet dies als Indiz für eine mehr oder minder bewusste Wahrnehmung ihrer eigenen Empfindungen – für ihn eine wichtige Voraussetzung für echtes Schmerzempfinden.

Hummeln und Bienen verfügen zudem höchstwahrscheinlich auch über Nozizeptoren sowie über spezielle Hirnregionen, die deren Schmerzreize verarbeiten – zwei weitere Kriterien dafür, dass sie Schmerzen empfinden können. Für weitere vielzitierte Kriterien ist die experimentelle Beweislage noch unklar. Etwa ob die Tiere wie Krebse auch physiologisch auf den Schmerzreiz reagieren, beispielsweise in Form von Herzrasen. Oder ob sie auf Schmerzmittel ansprechen. Chittka und seine Kollegen sprechen jedenfalls von «einem deutlichen Hinweis auf ein Schmerzempfinden».

Es sieht immer mehr danach aus, als brauchte ein Bewusstsein – und damit ein Schmerzempfinden – nicht annähernd so viel neuronale Kapazitäten, wie lange gedacht. Die Grosshirnrinde ist für unser menschliches Bewusstsein unerlässlich, aber einfachere Formen tierischen Bewusstseins sind durchaus auch ohne denkbar. Dass Tiere nicht so fühlen können wie wir, heisst nicht, dass sie es gar nicht können.

Wie fühlt es sich an, eine Biene zu sein?

Die Crux liegt in unserer ausgeprägten Neigung, Tiere mit menschlichen Massstäben zu messen: Je fremder uns eine Spezies ist, desto schwerer fällt es uns offenbar, auch ihr zuzugestehen, was wir uns vorbehalten glaubten. Wenn ein Hund jault und sich an einer Pfote leckt, glauben wir schnell, dass er Schmerzen leidet. Aber eine Biene kann nicht schreien. Wenn sich Wirbeltiere ähnlich verhalten wie wir, nehmen wir an, dass sie auch ähnlich fühlen. Bei uns fremderen wirbellosen Tieren bezweifeln wir das intuitiv – möglicherweise intuitiv falsch.

Die Erkenntnisse der letzten Jahre haben bereits 548 Fachleute aus aller Welt veranlasst, die vergangenen April veröffentlichte «New Yorker Erklärung zum Tierbewusstsein» zu unterschreiben. «Empirische Belege deuten darauf hin», heisst es darin, «dass zumindest eine realistische Möglichkeit von bewusstem Erleben bei allen Wirbeltieren und vielen Wirbellosen (inklusive der Insekten) besteht.»

Immer mehr Forscher sorgen sich jedenfalls nicht mehr nur um das Wohl ihrer Laborratten. Sie betäuben nun auch Taufliegen, bevor sie an ihnen herumdoktern.

Ein Artikel aus der «»

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