Donnerstag, Januar 9

Letztes Jahr wurde der 54-jährigen koreanischen Schriftstellerin Han Kang überraschend der Literaturnobelpreis zuerkannt. Manche Kritiker fanden das zu hoch gehandelt. Löst der jüngste Roman über die historische Wunde des Massakers von Jeju-do die Erwartungen ein?

Aktueller hätte der Erscheinungstermin der deutschen Ausgabe des neuen Buches der frisch gekrönten Nobelpreisträgerin nicht sein können: Keine zwei Wochen davor zeigte ein versuchter Staatsstreich die erschreckende Fragilität der Demokratie in ihrer südkoreanischen Heimat. Doch Han Kangs vielgelobter neuer Roman «Unmöglicher Abschied» ist literarisch nicht auf der Höhe ihrer besten früheren Werke. Zu bemüht ist die Kombination von Traum, Poesie und politischem Schrecken in dieser Geschichte um zwei Freundinnen, die sich mit der koreanischen Vergangenheit abmühen. Was um jeden Preis poetisch sein will, gerät über weite Strecken zu enervierender Pose.

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Zu Beginn von «Unmöglicher Abschied» steht der Albtraum von einem Massengrab, den die Erzählerin hatte, kurz «nachdem ich ein Buch über das Massaker» von 1980 in Gwangju publiziert hatte. Die Autorin Han Kang verweist hier auf ihren grossartig drastischen Roman «Menschenwerk» (2014), in dem sie von einem der Greuel der südkoreanischen Diktatur erzählt, samt hautnaher Beschreibung von Leichenhaufen. In ihrem neuen Buch geht es wieder um eine politische Katastrophe, um die Massaker auf der Insel Jeju 1948/49. Aber aufdringlich im Vordergrund der Erzählung stehen diesmal ein schier endloser Schneesturm und eine schwierige Frauenfreundschaft. Doch auch über die Nöte weiblicher Individualität hatte Han Kang schon überzeugender geschrieben, etwa im Roman «Die Vegetarierin» (2007).

Apokalyptischer Schneesturm

Die Ich-Erzählerin in dem neuen Roman «Unmöglicher Abschied» heisst Gyeongha, sie hat manche Ähnlichkeit mit der Autorin Han Kang, sammelt Material für ein neues Buch, ist in tiefer Krise, fühlt sich wie eine Schnecke, die «über die Schneide eines Messers gleitet». In diesem Zustand bekommt sie eine Nachricht ihrer Freundin Inseon, einen Hilferuf aus einer Klinik in Seoul, wo diese Filmemacherin und Kunsttischlerin nach einem Arbeitsunfall mit abgeschnittenen Fingern eingeliefert wurde. Gyeongha möge bitte sofort auf die Insel Jeju fliegen, um Inseons kleinen Papagei zu retten, der dort nach dem Unfall allein zurückgeblieben sei. Flugs macht sich die gütige, aber psychisch angeschlagene Erzählerin auf den Weg und landet in einem neuen, diesmal realen Albtraum, nämlich in einem apokalyptischen Schneesturm.

Hier, nach etwa fünfzig zähen Seiten über die Freundschaft der Frauen und ihrer beider Lebensverhältnisse, beginnt für zirka achtzig weitere Seiten der eisige Kreuzweg der Erzählerin (und des Lesers) quer durch die Insel im Schneegestöber und mit haarkleiner, poetisch gewollter Beschreibung der Eiskristalle. Als sie im Haus der Freundin ankommt, findet sie in der Werkstatt zwar noch die frischen Blutspuren des Arbeitsunfalls, aber der Papagei ist bereits tot. Umständlich zeremoniell begräbt sie ihn, immer noch bei Schneefall, und wieder werden fein die Flocken beschrieben.

Erst hier, ungefähr in seiner Mitte, kommt das Buch endlich zu seinem Hauptthema, das bisher im Text nur fragmentarisch angedeutet war, den antikommunistischen Massakern auf der Insel Jeju noch vor dem Ausbruch des eigentlichen Koreakrieges. Dabei wurden im Auftrag der nationalistischen Regierung Zehntausende Zivilisten ermordet, die im Verdacht standen, Sympathisanten der «Roten» zu sein, auch Frauen und Kleinkinder, wobei die amerikanische Schutzmacht nicht einschritt. Bei diesem Thema ist die Autorin Han Kang wieder in ihrem Element und in Hochform, wenn sie in beiläufiger Lakonik den mörderischen Horror beschreibt.

Das Trauma einer Familie

Neben den realen historischen Fakten stehen in der Fiktion des Romans auch die Traumata der damals auf der Insel lebenden Familie von Inseon. Deren Mutter war als junges Mädchen damals Zeugin der grässlichsten Szenen und später lange auf der «Suche nach den Überresten ihres Bruders». Inseons Vater kam für Jahre ins Gefängnis, wurde gefoltert und starb lange danach an den Spätfolgen der Tortur und der beschädigten Psyche. Tausende von Leichen wurden ins Meer gekippt, an einem Strand, der heute eine Attraktion für ahnungslose Touristen ist.

In dieser zweiten und besseren Hälfte des Romans «Unmöglicher Abschied» belässt es Han Kang aber leider nicht bei brillanten Geschichten und beklemmender Geschichtsschreibung. Immer wieder bemüht sie sich, den Text mit Magie zu beleben, mit Phantasien über die Frauenfreundschaft zwischen der Erzählerin und der Freundin Inseon. Diese erscheint nun plötzlich auf der schneebedeckten Insel, ist unverletzt und spricht von ihrem künstlerischen Projekt, das die grässliche Vergangenheit und den Schreckenstraum der Freundin reflektieren soll. Vermutlich ist das jetzt alles nur eine Halluzination. Auch der niedliche Papagei ist wieder lebendig, frisst und singt gar lieblich.

So geht der Rest des Buches dahin zwischen Schneeflockenpoesie und Massengräbern, bei Kerzenlicht im Tiefschnee, tiefsinnig imaginierten Gesprächen der beiden Freundinnen, Erinnerungen an ihr Kennenlernen und gelegentliche Krisen. Da ist die Rede von «einer im leeren Raum schwebenden Seele» und von der Erkenntnis, «welch furchtbarer Schmerz in der Liebe wohnt». Auch Kochrezepte werden erörtert, und nach langem Herumreden um einen kalten «Bohnenbrei» geht es dann wieder um die brutale Vergangenheit, um «Vergewaltigungen, Entführungen und Morde». Diese eindringlich schockierenden Passagen retten den Roman vor dem Absturz in den Kitsch.

Besonders ergreifend und auch nobelpreiswürdig sind jene Seiten gegen Ende des Romans, wo Inseon von ihrer in der Demenz dahindämmernden Mutter erzählt. Dieser alten Frau setzte in den letzten Lebensjahren der Schock des erlebten Massakers derart zu, dass sie nicht mehr ins reale Leben fand. Die Tochter pflegte sie in ständigem Streit und im Gerangel beim Windelwechseln: «Wie eine brodelnde Suppe, die überkochte, machten wir uns gegenseitig die Nacht zur Hölle.» Als Zeitzeugin wurde auch die Mutter vernichtet von den Spätfolgen einer politischen Katastrophe, die auch derzeit wieder als Mahnung aus fernen Zeiten durch das Südkorea der Gegenwart geistert.

Han Kang: Unmöglicher Abschied. Roman. Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee. Aufbau-Verlag, Berlin 2024. 315 S., Fr. 36.90.

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