Mittwoch, November 12

Für die Ukraine bleibt der Weg in die westliche Allianz vorläufig versperrt. Entscheidend ist aber ohnehin nicht der Beitritt, sondern konkrete Militärhilfe. Ihre schweren Versäumnisse in diesem Bereich überkleistert die Nato mit luftigen Deklarationen.

Seit Jahren verkünden die Nato und allen voran der amerikanische Präsident Joe Biden, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der transatlantischen Allianz sein werde. In einer neuen rhetorischen Ausschmückung dieses Versprechens haben die Nato-Staaten nun in ihrer Washingtoner Gipfelerklärung beteuert, dass dieser Weg «unumkehrbar» sei und die Gipfelbeschlüsse eine «Brücke» zum Beitritt darstellten. Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken ging noch einen Schritt weiter und sprach von einer klaren, starken, robusten und «gut beleuchteten» Brücke für die Ukraine in Richtung Mitgliedschaft.

Auch wenn offizielle Schönfärberei ein stetes Ärgernis an solchen Veranstaltungen ist, wirkt diese Darstellung besonders seltsam. Niemand kann ernsthaft behaupten, der Weg der Ukraine in die Nato sei klar vorgezeichnet. Zweifellos war es ein politischer Fehler, dass die Allianz nicht bereits 2008, beim ersten Beitrittsgesuch des Landes, die Weichen klar im Sinne einer baldigen Aufnahme stellte. Nun jedoch, inmitten des Abwehrkrieges gegen Russland, ist ein Beitritt unmöglich.

Erst wenn die Waffen schweigen und ein klar definiertes ukrainisch kontrolliertes Territorium feststeht, können westliche Schutzgarantien erteilt werden – alles andere würde in eine direkte Konfrontation mit Russland führen. Dies wiederum wollen die westlichen Führungsnationen um jeden Preis vermeiden. Der Kreml hat dadurch in der jetzigen Situation einen zusätzlichen Anreiz, den Krieg in alle Ewigkeit zu verlängern und so den Nato-Beitritt der Ukraine zu torpedieren.

Nicht bloss Trump wirft einen Schatten

Die vielbeschworene «Brücke» ist noch aus weiteren Gründen alles andere als «gut beleuchtet». Einen dunklen Schatten wirft die mögliche Rückkehr Donald Trumps ins Weisse Haus. Trump hat aus seiner Geringschätzung der Nato, der Ukraine und jeglicher Unterstützung von Verbündeten nie ein Hehl gemacht. Die Staatsführer mögen in ihrer Schlusserklärung zum 75-jährigen Bestehen der Nato noch so feierlich die «eiserne Verpflichtung» zur gegenseitigen Verteidigung bekräftigt haben – Trump fühlt sich daran nicht gebunden. Zwar lässt sich auch eine überraschende Wendung nicht ausschliessen; beispielsweise könnte der Republikaner plötzlich Gefallen daran finden, den starken Mann gegenüber Russland zu spielen. Aber niemand weiss, was dieser Politiker nach seiner Wahl wirklich tun wird. Erhöhte politische Unsicherheiten sind die unausweichliche Folge.

Man muss nicht einmal dieses Schreckgespenst bemühen. Auch das bestehende Führungspersonal im Westen glänzt nicht durch Willensstärke und sicherheitspolitische Konsequenz. Dem Versprechen, der Ukraine die nötige Unterstützung im Abwehrkampf gegen die russischen Invasoren zu leisten, haben die USA, Frankreich und viele weitere Nato-Staaten nie richtig nachgelebt. Militärhilfe floss und fliesst zwar, und dies in einem vor dem Krieg unvorstellbaren Ausmass – aber stets zu wenig und mit folgenschweren Verzögerungen.

Ein Beispiel ist die Luftverteidigung: Von Kriegsbeginn an war klar, dass die ukrainischen Mittel nicht genügten und die aus Sowjetzeiten stammende Flugabwehrmunition bald einmal ausgehen würde. Dennoch dauerte es mehr als ein Jahr, bis die ersten westlichen Flugabwehrsysteme höherer Reichweite eintrafen. Dieselbe amerikanische Regierung, die nun am Gipfel die Belieferung der Ukraine mit vier zusätzlichen Patriot-Batterien als Errungenschaft feierte, hatte solche Transfers 2022 noch klar abgelehnt – unter anderem mit dem falschen Argument, die Patriots seien für die Ukrainer zu kompliziert.

Erst jetzt, zweieinhalb Jahre nach Kriegsbeginn, besteht langsam die Hoffnung auf einen Minimalschutz der Ukraine durch diese leistungsfähigen Abwehrsysteme. Ein russischer Angriff wie jener auf das Kiewer Kinderspital «Ochmatdit» am Montag wäre mit frühzeitigen Patriot-Lieferungen absolut verhinderbar gewesen. Dies ändert nichts daran, dass die Verantwortung für das laut verfügbaren Indizien wohl vorsätzlich erfolgte Bombardement des Spitals allein bei Russland liegt.

Die Herausforderungen nehmen weiter zu

Die von der Nato beschworene «Brücke zur Mitgliedschaft» ist schon deshalb nebelverhangen, weil weiterhin auch ganz andere, schlimmere Szenarien möglich sind – bis hin zum militärischen Zusammenbruch der Ukraine. In jenem Fall würde sich die Frage einer Nato-Mitgliedschaft gleich ganz erübrigen.

Russlands Führung lässt keinen Zweifel daran, dass sie auf dieses Ziel hinarbeitet. Die Forderung Präsident Putins, dass sich die Ukrainer als Vorbedingung für Friedensgespräche aus weiteren Gebieten zurückziehen, und seine Weigerung, seinen Amtskollegen Selenski als legitimen Repräsentanten der Ukraine anzuerkennen, machen eines klar: Der Kreml hat kein Interesse an Dialog und setzt auf eine militärisch erzwungene Kapitulation des Gegners.

Die Herausforderungen für die Nato sind durch den unverhüllten Neoimperialismus Moskaus nochmals gestiegen. Auch wenn die Gipfeldeklaration die Stärkung der Nato-Ostflanke lobend hervorhebt, hat die Gefährdung der baltischen Mitgliedstaaten seit vergangenem Jahr nicht ab-, sondern zugenommen. Hinzu kommt die reale Gefahr, dass die Rivalen des Westens ihre Handlungen immer enger miteinander abstimmen, besonders im Rüstungsbereich. Die Nato geisselt in ihrer Schlusserklärung die Waffenhilfe Nordkoreas und Irans für Moskau und brandmarkt China erstmals als «entscheidenden Beihelfer» für Russlands Krieg. Peking wird aufgerufen, keine militärisch nutzbaren Güter mehr nach Russland zu liefern. Doch Kritik und Appelle allein werden diese Länder nicht beeindrucken.

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