Unter dem Schutt einer Burgmauer im süddeutschen Reutlingen sind eine Schachfigur, blütenförmige Spielsteine und ein Würfel zum Vorschein gekommen. Sie sind seltene Zeugen des mittelalterlichen Lebens.

An einem regnerischen Abend, wenn alle Tagesgeschäfte auf der Burg ruhten und kein bevorstehender Kriegszug der Planung bedurfte, sehnten sich auch die mittelalterlichen Adligen nach Entspannung und Zerstreuung. Dann setzten sie sich womöglich mit Gästen zusammen, holten eine Spielesammlung hervor und verbrachten einige vergnügliche Stunden mit dem Schieben bunter Steine über hölzerne Bretter, während der Regen vor den Fenstern herabrauschte.

Doch während die Spuren der Kriege in Form von Rüstungen, Waffen und Toten archäologisch gut fassbar sind, gibt es kaum Einblicke in diese intimen Stunden des mittelalterlichen Adels. Die Steine, geschnitzt aus Holz, Knochen oder Horn, sowie die hölzernen Spielbretter, sind meist lange verrottet und nicht mehr auffindbar.

Entsprechend begeistert war das Grabungsteam eines Sonderforschungsbereiches der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des baden-württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege, als es in einer bislang unbekannten Burganlage im süddeutschen Landkreis Reutlingen unter dem Schutt einer Mauer nicht nur einen einzelnen Spielstein, sondern gleich die Reste einer ganzen Spielesammlung fand. Neben vier blütenförmigen Steinen gehörten auch eine etwa vier Zentimeter grosse Schachfigur sowie ein sechsseitiger Würfel dazu. Geschnitzt wurden sie im 11. oder 12. Jahrhundert.

Schach entstand wohl in Indien

Besonders die Schachfigur sorgt für einiges Aufsehen. «Nach allem, was wir wissen, haben frühe Schachformen im Frühmittelalter aus Indien kommend ihren Weg nach Italien, Spanien und dann auch bereits ins wikingerzeitliche Skandinavien gefunden», sagt Lukas Werther, stellvertretender Direktor der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts. «Eine wichtige Mittlerrolle scheinen dabei jüdische Gelehrte und Händler gespielt zu haben. Im Zeitalter der Kreuzzüge erfuhr das Schachspiel dann einen weiteren starken Schub aus dem Orient.»

Zu der Zeit, als die Spielesammlung auf der Burganlage verschüttet wurde, war Schach bereits so populär an den Adelshöfen, dass der Arzt und Gelehrte Petrus Alfonsi das Strategiespiel neben Reiten, Schwimmen, Bogenschiessen, Faustkampf, Vogeljagd und dem Dichten als eine der sieben Fertigkeiten listet, die ein idealer Ritter beherrschen muss.

Die nun entdeckte Schachfigur hat Augen und eine Mähne: Es ist ein sogenannter Springer – der einzige Spielstein des Schachspiels, der über andere Figuren hinwegsetzen kann. «Die Regeln für Schach waren den heutigen im 11. und 12. Jahrhundert schon sehr ähnlich», sagt Werther. «Es sind nur bisweilen andere Zugvarianten für Läufer und Dame belegt, die sich erst im 15. Jahrhundert angeglichen und standardisiert haben.»

Der Fundort unter der Mauer war in diesem Fall ein glücklicher Umstand. Beschützt von den Steinen sind die Spielfiguren so gut erhalten, dass sogar Abnutzungsspuren an dem Springer erkennbar sind. Dort, wo die Finger der Spieler das Pferdchen immer wieder berührten, um es hochzuheben oder zu verschieben, ist das Geweih ganz blank gerieben. Entsprechend gern müssen die Spielfiguren einst von den Burgherren genutzt worden sein.

Auch die vier blütenförmigen Spielsteine sind kleine Kunstwerke. «Mit derartigen Spielsteinen wurde unter anderem Tricktrack gespielt, das dem heutigen Backgammon ähnelt», erklärt Werther. Um das Brettspiel zu gewinnen, brauchte es eine Mischung aus Glück und Taktik. Eine beliebte Kombination: Tricktrack gehört zu den ältesten Brettspielefamilien der Welt.

Aber auch Mühle wurde damals schon gerne und viel mit solchen Steinen gespielt. Lediglich die Farben unterschieden sich meist vom heutigen Schwarz und Weiss. Bei Laboranalysen kamen rote Farbreste an den Spielsteinen zum Vorschein. «Rot war damals eine sehr übliche Farbe für Spielfiguren, insbesondere auch beim Schach», sagt Werther. «Ihnen standen die naturfarbenen Steine des Gegners in den Brauntönen des Geweihs oder Holzes gegenüber.»

Während Mühle ohne Würfel gespielt werden kann, brauchte es zum Tricktrack einen Würfel. Derjenige, der mit den Spielsteinen gefunden wurde, mutet bereits äusserst modern an. Er unterscheidet sich kaum von heutigen Exemplaren. «Aber auch andere Spiele sind damit denkbar», so Werther. «Mit mehreren Würfeln wurden, ähnlich wie heute, verschiedene Glücksspiele gespielt. Meist kamen zwei bis vier Würfel zum Einsatz.» Dabei konnten auch andere Würfelformen vorkommen, es dominierten allerdings die klassischen sechsseitigen Würfel.

Dank Laserscans entdeckt

Nur über die Burgherren, die sich einst mit den Spielsteinen die Zeit vertrieben, ist noch wenig bekannt. Der Historiker Martin Crusius berichtet erst 1596 von einer Burganlage der Familie der Greifensteiner auf dem Burgstein bei Holzelfingen. «Aber bereits in Verwaltungslisten von 1454 sind die Bezeichnungen ‹Burgholz› und ‹Burgstein› belegt.»

Spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren dann von der Burg aber nicht einmal mehr die Grundmauern zu sehen. Erst systematische Geländesurveys, Laserscans aus dem Flugzeug und geophysikalische Untersuchungen lieferten im Jahr 2022 zahlreiche Hinweise auf Schuttwälle und Mauerzüge. In zwei archäologischen Ausgrabungen konnten dann kleine Flächen innerhalb der Anlage freigelegt werden. Dabei wurden im Boden neben der Spielesammlung auch Reste der Steinbauten der Burg gefunden.

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