Sonntag, September 29

Die Volksabstimmung vom September ist eine hohe Hürde für die Pensionskassenreform. Wie bei früheren Urnengängen zur Altersvorsorge wird die bewusste Irreführung des Publikums eine zentrale Rolle spielen.

Die Zeit ist knapp. Nach den Sommerferien der Bundespolitik dauert es nur fünf Wochen bis zum nächsten Urnengang vom 22. September. Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider will deshalb den Abstimmungskampf bereits Anfang nächster Woche lancieren. Schon wieder geht es um die Altersvorsorge, und erneut tritt die Bundesrätin pro forma gegen ihre eigene Partei an.

Im Fokus steht nicht die AHV, sondern die berufliche Vorsorge via Pensionskassen (BVG-Reform). Bei Rentenreformen ist zunächst an eine zentrale Grundregel zu erinnern: Solche Reformen schaffen oder vernichten direkt keinen Wohlstand, sondern sie verändern nur die Verteilung. Lobbyisten und Medien suggerieren oft das Gegenteil. Bei der Volksinitiative für höhere AHV-Renten dominierte das Märchen, dass das Geld für die Rentenzuschläge vom Himmel fällt. Im kommenden Abstimmungskampf zur BVG-Reform werden Irreführungen erneut Hochkonjunktur feiern.

Verzerrte Realität

Die Gewerkschaften ergriffen das Referendum gegen die Reform mit dem Spruch «mehr bezahlen für weniger Rente». Das suggeriert, dass dem Volk irgendwie Geld entzogen wird. Das ist Humbug. Richtig ist vielmehr: Es wird Nettogewinner und Nettoverlierer geben, doch für die Gesamtbevölkerung ist der Saldo null.

Bei den Pensionskassen sparen die Versicherten im Prinzip für sich selber. Ein solches System ist den Gewerkschaften grundsätzlich zuwider, weil versteckte Umverteilungen von Jung zu Alt und von oben nach unten schwieriger machbar sind als in der AHV. Darum wird die Linke immer für einen Ausbau der AHV sein und das Pensionskassensystem torpedieren.

Der ursprüngliche Treiber der Reform war der bürgerliche Wunsch, die versteckte Umverteilung von Jung zu Alt zu reduzieren. Im Obligatorium der beruflichen Vorsorge ist die gesetzliche Mindestvorgabe für die Jahresrenten angesichts der heutigen Lebenserwartung und der Renditeerwartungen rechnerisch viel zu hoch. Die Mindestvorgabe (Umwandlungssatz) beträgt 6,8 Prozent des Alterskapitals; pro 100 000 Franken Pensionskassenkapital müssen Neurentner somit eine Jahresrente von mindestens 6800 Franken erhalten. Experten orten den rechnerisch korrekten Umwandlungssatz typischerweise in der Nähe von 5 Prozent.

Nur Minderheit betroffen

Für die meisten Pensionskassen ist die überhöhte Gesetzesvorgabe ein lösbares Problem. Denn die grosse Mehrheit der Versicherten hat genug überobligatorisches Alterskapital, bei dem es keine Mindestvorgaben gibt. So können die Kassen in einer Mischrechnung meist schon heute Renten auf Basis eines Umwandlungssatzes von 5 Prozent oder auch tiefer ausrichten. 2023 lag der Durchschnitt der effektiven Umwandlungssätze für Neurentner bei etwa 5,3 Prozent.

Doch laut Branchenschätzungen haben etwa 15 Prozent der Versicherten nur wenig überobligatorisches Kapital, so dass sie rechnerisch stark überhöhte Renten beziehen. Solche Subventionen für Rentner gehen vor allem zulasten der Erwerbstätigen (und damit der Jüngeren). Eine Folge davon: Das Alterskapital der Erwerbstätigen wird tiefer verzinst, als es gemessen an den Anlagerenditen eigentlich möglich wäre.

Die vom Parlament beschlossene BVG-Reform senkt den gesetzlichen Mindestumwandlungssatz im Obligatorium von 6,8 auf 6,0 Prozent. Das wäre rechnerisch immer noch zu hoch, doch es ginge in die richtige Richtung. Die betroffenen künftigen Neurentner würden tiefere Jahresrenten erhalten. Im Gegenzug könnten Jüngere mit höheren Renten rechnen.

Zusätzliche Umverteilung

Doch Subventionen sind Drogen: Ein Entzug führt sofort zu einem Aufschrei. Die politische Linke ruft reflexartig «Rentenabbau», sie blendet bewusst die Gewinner aus, und die Medien transportieren diese Erzählung gerne. Eine solche Reform hat es deshalb an der Urne schwer. So hat das Parlament für 15 Übergangsjahrgänge «Kompensationen» via Rentenzuschläge von 100 bis 200 Franken pro Monat beschlossen. Die Senkung der bisherigen Subvention soll also durch eine neue Subvention aufgefangen werden. Das erscheint bizarr, doch man nennt dies Politik.

Das Parlament hat sogar starke Überkompensationen beschlossen. Rund die Hälfte aller Neurentner der Übergangsjahrgänge soll einen Rentenzuschlag bekommen, obwohl nur etwa 15 Prozent von der Senkung des Mindestumwandlungssatzes direkt betroffen wären. Das soll die Chancen der Reform an der Urne erhöhen. Gut 60 Prozent der Kosten für die Rentenzuschläge gehen zulasten der betroffenen Pensionskassen. Der Rest der Kosten wird in der Branche via den zentralen BVG-Sicherheitsfonds sozialisiert. Damit entsteht ein zusätzlicher Kanal von versteckten Umverteilungen – von Hochlohn- zu Tieflohnbetrieben.

Die neuen Subventionen für die Rentner wären letztlich durch die Erwerbstätigen zu zahlen. Laut einer Studie der Basler Beratungsfirma BSS im Auftrag von Alliance F bringt deshalb diese Reform, die eigentlich die Umverteilung von Jung zu Alt reduzieren sollte, zuerst jahrzehntelang einen Ausbau dieser Umverteilung. Gemäss grober Abschätzung der Autoren reduziert die Senkung des Umwandlungssatzes die Umverteilung in den ersten 30 Jahren um total etwa 11,5 Milliarden Franken, doch die Rentenzuschläge betragen im gleichen Zeitraum fast 20 Milliarden Franken. Erst in den Jahrzehnten danach bessert sich das Bild. Vor allem wegen solcher Überkompensationen lehnte die Kammer der schweizerischen Pensionskassenexperten die BVG-Reform ab.

Ausbau der Versicherung

Der zweite Teil des Reformpakets umfasst einen Ausbau der von Lohnabzügen betroffenen Lohnsumme. Künftig soll die berufliche Vorsorge schon ab einem Jahreslohn von 19 845 Franken obligatorisch sein, statt wie bisher ab 22 050 Franken. Zudem sollen neu 80 Prozent des Jahreslohns obligatorisch versichert sein, maximal gut 70 000 Franken; zurzeit ist der Jahreslohn zwischen 25 725 und 88 020 Franken versichert. Mit diesen Änderungen wären vor allem Tiefverdiener besser abgesichert; profitieren sollen nicht zuletzt Teilzeitbeschäftigte und damit viele Frauen. Deshalb kämpft Alliance F als Verbund der Schweizer Frauenorganisationen für die Reform.

Ein Ausbau der Versicherung heisst aber auch ein Ausbau der Lohnbeiträge. Formal zahlen die Arbeitgeber die Hälfte dieser Beiträge, doch letztlich dürfte der grösste Teil der Zusatzkosten auf die Arbeitnehmer (und die Konsumenten) überwälzt werden. Solche Überwälzungen geschehen indes versteckt. Deshalb werden sie in der öffentlichen Diskussion verdrängt.

Die Änderungen haben per saldo je nach Situation der einzelnen Versicherten unterschiedliche Folgen. Tendenzen bei der Rentenhöhe: Frauen werden eher höhere Renten haben; Männer werden eher tiefere Renten haben; bei tieferen Einkommen gibt es eher höhere Renten; bei höheren Einkommen innerhalb des Obligatoriums gibt es eher tiefere Renten; bei der Mehrheit der Versicherten wird sich nicht viel ändern. Laut Schätzungen der erwähnten BSS-Studie könnten 275 000 Frauen mit höheren Renten rechnen, und 67 000 Frauen müssten mit tieferen Renten rechnen.

Die Pensionskassenrenten sind zurzeit im Mittel bei den Frauen deutlich tiefer als bei den Männern, weil die Frauen weniger einbezahlt haben. Die vorgeschlagene Reform würde die Geschlechterdifferenz reduzieren, weil die Frauen mehr einzahlen.

Zwiespalt in der Wirtschaft

Der Ausbau des versicherten Lohnsubstrats erhöht die Lohnabzüge in den ersten 15 Jahren laut Bundesschätzung im Mittel um 1,4 Milliarden Franken pro Jahr. Betroffen sind vor allem Tieflohnbranchen. Im Gewerbe sind wegen der Kosten längst nicht alle begeistert. Einzelne Branchenverbände wie etwa Gastrosuisse haben die Nein-Parole beschlossen. Skeptisch sind auch viele Bauern. Der Vorstand des Bauernverbands hatte zunächst das Reformpaket abgelehnt. Der Verband beschloss am Ende Stimmfreigabe.

Das Parlament des Gewerbeverbands (Gewerbekammer) hat trotz skeptischen Stimmen mit 39 Ja gegen 2 Nein und 5 Enthaltungen klar die Ja-Parole beschlossen, wie der Verbandspräsident Fabio Regazzi betont. Laut Regazzi wird sich der Gewerbeverband an der Ja-Kampagne beteiligen, aber keine Gelder sprechen. Die Priorität für den kommenden Herbst sei die Referendumsabstimmung vom November über den Ausbau von Nationalstrassen.

Die Mitglieder des Arbeitgeberverbands waren lange Zeit gespalten. Nach dem Beschluss des Parlaments stellten sich aber die zuvor kritischen Branchenverbände ebenso wie auch der Pensionskassenverband hinter die Vorlage – wegen der breiten Rentenzuschüsse jedoch ohne Begeisterung. Die Westschweizer Arbeitgeberorganisation Centre Patronal lehnt die Reform dagegen ab. Dies vor allem wegen der Kosten und der Zunahme der Umverteilung. Das Reformpaket steckt somit im Zangengriff von Linksblock, Teilen aus dem Gewerbe und Grundsatzkritikern der Umverteilung im Vorsorgesystem. Der Urnengang wird zur hohen Hürde.

Ein Kernargument für die Reform bei Bürgerlichen lautete lange Zeit etwa so: Man müsse zeigen, dass die berufliche Vorsorge noch reformfähig sei, sonst würden die Ausbaudiskussionen nur noch über die AHV laufen. Das Argument verlor stark an Gewicht, denn das Volk hat diesen März ohnehin schon einen massiven AHV-Ausbau beschlossen. Dennoch möchten Befürworter der BVG-Reform zeigen, dass das Pensionskassensystem entwicklungsfähig ist.

Die Folgen eines Nein

Für die meisten Pensionskassen wäre ein Scheitern der Reform kein Drama. Kassen mit wenig überobligatorischem Kapital müssten dagegen wohl früher oder später zur Finanzierung der rechnerisch überhöhten Renten Sanierungsbeiträge von Versicherten und/oder Arbeitgebern beschliessen. Denkbar wäre zudem eine neue Reformvorlage, die den Umwandlungssatz nicht anrührt, so die unsägliche Kompensationsdebatte umschifft und auf den Ausbau der Versicherung für Tiefverdiener beschränkt ist. Das würde den Widerstand von links reduzieren, aber im Gegenzug den Widerstand des Gewerbes vergrössern. Ob eine solche Reform mehrheitsfähig wäre, steht in den Sternen.

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