Freitag, Oktober 18

Bereits in der Pionierzeit der deutschen Eisenbahn beklagten sich Passagiere über verspätete Züge und verpasste Anschlüsse.

Das Eisenbahnzeitalter gehörte in seinen ersten Jahrzehnten Grossbritannien. Von dort kamen nicht nur bahnbrechende technische Erfindungen. Auch bei der Logistik des Bahnverkehrs setzten die Briten neue Massstäbe. Etwa dank der Einführung der Einheitszeit ab 1847, der sukzessiven Beschleunigung der Züge, der Verdichtung des Pendlerverkehrs im Einzugsbereich der grossen Städte oder der Öffnung der Schnellzüge für Passagiere der dritten Klasse ab den 1870er Jahren.

Alle diese Reformen fanden in Kontinentaleuropa erst mit beträchtlicher Verzögerung statt. Die starke Industrialisierung und Urbanisierung Grossbritanniens wären ohne diese Vorreiterrolle undenkbar gewesen. Das sah man damals auch in Deutschland so, wo man sich auch bei der Modernisierung des Passagierverkehrs stark an der Insel orientierte.

1862, noch frisch unter dem Eindruck der internationalen Industrieausstellung in London, hielt die «Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen» fest, man müsse den «englischen Fachgenossen» um die «Virtuosität beneiden», mit der er «sein rastloses Gewerbe betreibt». Vor allem, wenn man bedenke, dass «er einen Verkehr bewältigt, mit welchem der unserer frequentesten Bahnen häufig kaum zu vergleichen ist».

1893 brachte der Geograf Michael Geistbeck den zentralen Unterschied zwischen den beiden Eisenbahnnationen so auf den Punkt: «Das englische Eisenbahnwesen kennzeichnet hiernach ein fortwährend gesteigertes Streben nach Ausnutzung des Wertes der Zeit durch Vermehrung der Zahl und der Schnelligkeit der Züge und durch Abkürzung der Routen.»

Der Beamtengeist

Als Geistbeck und andere ihr Lob auf Grossbritannien anstimmten, waren die deutschen Eisenbahnen allerdings bereits in einem tiefgreifenden Wandel begriffen: Zwischen Mitte der 1880er Jahre und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es zu einer eigentlichen «Anglisierung» des deutschen Eisenbahnverkehrs: Das Tempo nahm allenthalben zu, der Takt der Züge erhöhte sich.

Auch deutsche Bahnpassagiere verlangten nun nach kürzeren Wartezeiten. 1890 notierte die «Vossische Zeitung», die Reisenden erwarteten eine «schnellere Beförderung» auch auf Nebenlinien. Gerade auf diesen «Sekundärlinien» werde die Geduld des Publikums oft arg strapaziert. Wenn die regelmässigen Bahnkunden heute von der «Bimmelbahn» redeten, dann sei das nur noch in seltenen Fällen liebevoll gemeint. In England sei man schon viel weiter.

Auch das Verhalten der Bahnbeamten zog vermehrt Kritik auf sich. Die preussische «Kreuz-Zeitung» sah in der bürokratisch geprägten Kultur der deutschen Staatsbahnen einen Grund für den gemächlichen Rhythmus der deutschen Eisenbahn. Der verbreitete Beamtengeist vertrage sich schlecht mit dem rasch wechselnden Takt des modernen Verkehrs.

Dies wusste das konservative Blatt mit einprägsamen Worten zu untermauern: «Die wesentliche Ursache aber, weshalb unser Zugverkehr zu langsam und schleppend ist, liegt nach unserem Dafürhalten daran, dass der Betrieb nicht in frischer und lebendiger Weise durch unmittelbare Einwirkung praktischer Männer gehandhabt, sondern vom grünen Tisch aus und schriftlich geleitet wird.»

Handeln statt schreiben

Für die «Betriebsbeamten und die Bahnverwaltungen» seien die «langsam fahrenden Züge mit langen Stations-Aufenthalten» bequem. Ein schnellerer Betrieb mit höherem Rhythmus und grösserer Reisefrequenz verlange aber nach Beamten, die rasch handeln könnten: «Unser gesamter Eisenbahnbetrieb krankt an zu starkem Schematismus, verbunden mit übertriebenem Schreibwesen.» Es brauche mehr Männer, die in der Lage seien, «einzugreifen und zu handeln», anstatt «zu schreiben und zu protokollieren». Das «Wesen des Eisenbahnverkehrs» liege nun einmal in seiner «Beweglichkeit».

In den Beschwerdebüchern mehrten sich die Klagen über Züge, die auf Anschlusspassagiere nicht warteten; und zwar auch dann nicht, wenn die Verspätung eines Verbindungszuges vorher telegrafiert worden war. Einige Passagiere beschwerten sich auch über zu früh abgefahrene Züge. 1895 wartete der um 20 Uhr 24 ab Germersheim verkehrende Schnellzug nach Ludwigshafen den um 20 Uhr 31 eintreffenden Personenzug aus Philippsburg nicht ab. Und 1908 beschwerten sich Reisende nach Lustadt und Zeiskam, der um 5 Uhr 34 in Germersheim abgehende Zug habe in den letzten Wochen oft nicht gewartet; dabei seien sie heute bloss mit elfminütiger Verspätung in Germersheim eingetroffen.

Von geradezu reizender Dramatik ist der Fall des pensionierten Oberpostsekretärs Esch und seiner Frau. Im Sommer 1906 wollten die Eschs in Gelsenkirchen in den Schnellzug um 19 Uhr 17 in Richtung Osnabrück umsteigen. Gemäss dem früheren Postbeamten reichte die im Fahrplan vorgesehene Umsteigezeit von drei Minuten für dieses Manöver aber keineswegs aus.

Der Beamte im Ruhestand schilderte den Vorgang so: «Gleich beim Halten des Zuges verliessen wir das im letzten Wagen II. Klasse befindliche letzte Abteil und begaben uns ohne Aufenthalt im flotten Schritt zur Unterführung. Als wir uns noch in derselben befanden, wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben, wodurch uns die Mitfahrt abgeschnitten wurde.»

Ohne Rücksicht auf die Post

Als die Königliche Eisenbahndirektion Essen seine Beschwerde mit der Begründung zurückwies, die beiden seien beim Umsteigen «langsam gegangen und hier und da sogar stehen geblieben», fragte Herr Esch zurück: «Hat das hohe Ministerium vielleicht die Auffassung, dass Personen von 50 Jahren und darüber, in erster Linie Damen, Trab laufen müssen, um den Anschluss zu erreichen?»

Aufgrund der von Berlin verordneten Bevorzugung des Passagierverkehrs bei verspätet eintreffenden Zügen kam es immer wieder zu Spannungen zwischen der Eisenbahn- und der Postdirektion. Die Königliche Eisenbahndirektion teilte deshalb der Kaiserlichen Oberpostdirektion mit: «Zum Zwecke der pünktlichen Durchführung der dem Personenverkehr dienenden Züge ist höheren Orts angeordnet worden, dass bei Verspätungen die planmässige Aufenthaltszeit [. . .] ohne Rücksicht auf die Geschäfte der Postverwaltung oder der für die Erfrischung der Reisenden vorgesehenen Pausen zu kürzen ist.»

1892 machte sich ein Sprachrohr der preussischen Regierung Gedanken über das «Warten auf Anschlussbahnhöfen». Es schloss mit einem Ratschlag, der den Fahrplanlogistikern Kopfzerbrechen bereitet haben dürfte: «In dieser Beziehung ist darauf hinzuweisen, dass zwar einerseits durch das Abwarten verspäteter Züge andere wichtigere Anschlüsse eines grossen durchgehenden Zuges nicht in Frage gestellt werden dürfen, dass indessen andererseits da, wo diese Bedenken nicht obwalten, namentlich wo weitere wichtige Anschlüsse des wartenden Zuges nicht in Betracht kommen, die Wartezeiten so weit auszudehnen sein werden, als dies mit Rücksicht auf den Betrieb und den sonst zu bedienenden Verkehr irgend verträglich ist.»

Auch erhöhte der Versuch, zeitliche Lücken gering zu halten, das Risiko von Verspätungen. Um dieses Problem ging es in einer Sitzung im preussischen Ministerium für öffentliche Arbeiten. Zur Debatte stand der Fahrplan für das Jahr 1914. Wie lässt sich ein pünktlicher Verkehr am ehesten erreichen? Das war die immergleiche Frage, die hier erneut verhandelt wurde.

Wie man Pünktlichkeit erreicht

Die Sitzungsteilnehmer räumten ein, dass die meisten Verspätungen aus dem dichten Verkehr resultierten. Zeitpläne, die «nur unter günstigen Verhältnissen eingehalten» werden könnten, führten zu chronischen Verspätungen. Im Protokoll heisst es dazu: «Vor allem aber wird in Zukunft bei der Aufstellung der Fahrpläne unbedingt darauf zu halten sein, dass sie auch in der Wirklichkeit gut durchführbar sind und dass zum Ausgleich ein grösserer Spielraum zwischen der gewöhnlichen und der kürzesten Fahrzeit vorhanden ist.»

Etwas weniger Fiktion und etwas mehr Luft für die nun auch in Deutschland zu dicht gewordenen Fahrpläne, dazu noch eine leichte Reduktion des Tempos – so lässt sich die Empfehlung der Ministerialbeamten zusammenfassen. Einige der Anwesenden sprachen sich dezidiert für diese Lösung aus. Darauf verlangte jedoch einer ihrer Kollegen, die Wartezeiten für Schnellzüge seien weiter zu verkürzen.

Auch diese spannungsgeladene Widersprüchlichkeit – zwischen dem Verlangen nach zeitlicher Berechenbarkeit und einer in der Tendenz stets abnehmenden Wartetoleranz des Publikums – erinnert stark an Grossbritannien. Die Londoner «Times» hatte das Dilemma bereits Jahrzehnte früher mit der ihr eigenen, konzisen Eleganz beschrieben: «Es gibt zwei Möglichkeiten, Pünktlichkeit zu gewährleisten. Die eine besteht darin, die Züge dem Fahrplan anzupassen; die andere darin, den Fahrplan den Zügen anzupassen.»

Oliver Zimmer ist Forschungsdirektor bei Crema (Center for Research in Economics, Management and the Arts).

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