Mittwoch, Oktober 2

Die Befürworter der Abstimmungsvorlage zur Finanzierung des Gesundheitswesens wollen den Kostenanstieg dämpfen. Die Gegner wollen die Prämienzahler der Krankenkassen erschrecken.

Kaum ist der Urnengang vom September vorbei, wirft schon der nächste seine Schatten voraus. Im November stimmt das Volk unter anderem über eine Reform der Finanzierung der im Krankenversicherungsgesetz (KVG) geregelten Leistungen ab. Zur Abstimmung kommt es wegen eines gewerkschaftlichen Referendums gegen die vom Parlament beschlossene Reform. Dabei geht es um einen Kuchen von etwa 50 Milliarden Franken pro Jahr, Tendenz stetig wachsend.

Der inoffizielle Abstimmungskampf hat schon längst begonnen; dies auch wie üblich mit manchen irreführenden Behauptungen. Das Referendumskomitee hat am Dienstag mit einer Medienkonferenz die heisse Phase des Kampfs quasi offiziell lanciert. Die Kernbehauptung der Gegner: Die Krankenkassenprämien würden mit der Reform noch stärker steigen.

Die KVG-Leistungen werden im Wesentlichen durch drei Quellen finanziert: die Prämienzahler in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP), die Steuerzahler (vor allem via Kantons- und Gemeindebeiträge an Spitäler und Pflege) sowie die Patienten (Eigenanteil).

Fehlanreize als Reformtreiber

Bei ambulanten medizinischen Leistungen gibt es zurzeit keine Steuerfinanzierung: Die vollen Kosten (minus Eigenanteil der Patienten) zahlen die Krankenkassen. Bei den stationären Leistungen übernehmen die Kassen brutto 45 Prozent der Kosten, und die Kantone müssen mindestens 55 Prozent übernehmen.

Diese Finanzierungsunterschiede zwischen ambulant und stationär waren der Haupttreiber der Reform. In der Gesamtbetrachtung sind stationäre Eingriffe typischerweise deutlich teurer als vergleichbare ambulante Eingriffe – oft doppelt so teuer oder sogar mehr.

Aus Sicht der Krankenkassen ist ein stationärer Eingriff jedoch wegen der Beiträge der Steuerzahler kurzfristig attraktiver, solange er nicht weit mehr als doppelt so teuer ist wie ein ambulanter Eingriff. Die Reform will diese Fehlanreize lindern durch einen einheitlichen Finanzierungsschlüssel.

Vor allem auf Druck der Kantone hat das Parlament auch die Pflege in den neuen Verteilschlüssel integriert. 2022 gingen schätzungsweise 54 Prozent der Pflegekosten zulasten der Krankenkassen, und 46 Prozent übernahmen die Steuerzahler in den Kantonen und den Gemeinden. Der Einbezug der Pflege besänftigte zwar die Kantone, weckte aber im Gegenzug Befürchtungen über Zusatzbelastungen für die Prämienzahler der Krankenkassen.

Künftig sollen bei ambulanten und bei stationären Leistungen die Kantone mindestens 26,9 Prozent übernehmen. Damit gingen 73,1 Prozent zulasten der Krankenkassen. Der neue Verteilschlüssel entspricht der effektiven Verteilung in der Referenzperiode 2016 bis 2019.

Nebelpetarde

Das gilt für den Landesdurchschnitt, aber nicht für die einzelnen Kantone. Je nach bisherigem Finanzierungsanteil in den Kantonen hätte die Reform in der Referenzperiode zu Umverteilungen von Steuerzahlern zu Prämienzahlern oder umgekehrt geführt. Die Reformgegner benutzen dies für ihre Behauptung, dass die Reform in manchen Kantonen zu Prämienerhöhungen führe.

Diese Behauptung blendet indes drei Dinge aus. Erstens: Wo es Prämienerhöhungen gäbe, käme es im gleichen Ausmass zu Entlastungen für die Steuerzahler. Zweitens: Prämienerhöhungen in gewissen Kantonen stehen im gleichen Umfang Prämienentlastungen in anderen Kantonen gegenüber. Und vor allem drittens: Der neue Verteilschlüssel würde für ambulante und stationäre Eingriffe erst 2028 eingeführt (für die Pflege erst 2032), und bis dann dürfte die Reform das Bild aus Sicht der Prämienzahler noch deutlich verbessern.

So hat der prozentuale Anteil der Prämienfinanzierung im Vergleich zur Referenzperiode 2016 bis 2019 deutlich zugenommen und dürfte noch weiter zunehmen. Der zentrale Grund ist die Verschiebung von stationären zu ambulanten Leistungen. Das Potenzial ist laut den Behörden und gemäss externen Experten noch gross. Der Bund verweist auf Daten des Ländervereins OECD, wonach 2021 bei den erfassten Eingriffen in der Schweiz der «Marktanteil» der ambulanten Operationen nur bei knapp 20 Prozent lag. Deutschland und Österreich brachten es laut Bund auf rund 30 Prozent, Italien auf etwa 40 Prozent, Frankreich, Dänemark und Schweden auf über 50 Prozent.

Laut Schätzungen von Befürwortern hat nur schon die Entwicklung von 2019 bis 2022 den Finanzierungsanteil der Prämienzahler so stark erhöht, dass der neue einheitliche Verteilungsschlüssel die Prämienzahler total um etwa 800 Millionen Franken pro Jahr entlasten würde. Setzt sich der Trend zur Verschiebung von stationär zu ambulant im gleichen Ausmass fort, könnte bei der Umsetzung ab 2028 die geschätzte Entlastung der Prämienzahler laut Befürwortern 1,5 bis 2 Milliarden Franken betragen. Die Kehrseite wären Mehrbelastungen für die Steuerzahler.

Attraktivere Sparmodelle

Das bisher Gesagte bezieht sich nur auf mögliche Umverteilungen zwischen Prämien- und Steuerzahlern im Vergleich zum geltenden System. Der Kern der Reform ist aber die Hoffnung auf eine Kostendämpfung im Gesamtsystem durch die Reduktion der genannten Fehlanreize. Der direkte Einfluss der Krankenkassen zur verstärkten Einforderung von ambulanten statt stationären Leistungen im Voraus ist im Prinzip auf Fälle mit erforderlicher Kostengutsprache begrenzt. Wichtiger könnte der Effekt der Kassen bei den Rechnungskontrollen sein.

Möglich ist zudem, dass die Kassen nach der Reform in den künftigen Verhandlungen über Tarife ambulanter Eingriffe eher zu Konzessionen bereit wären. Das könnte Fehlanreize von Ärzten und Spitälern etwas lindern und damit den Trend in Richtung ambulanter Eingriffe beschleunigen.

Und die Reform könnte vor allem alternative Versicherungsmodelle mit Budgetmitverantwortung von Ärzten attraktiver machen. Denn mit dem neuen Finanzierungsschlüssel könnten die Kassen die Einsparungen von Modellen mit verstärkter Steuerung in Richtung ambulanter Leistungen zu einem grösseren Teil den Kunden weitergeben als bisher. Laut Schätzungen sind zurzeit nur etwa 20 Prozent der Versicherten in einem Modell mit Budgetmitverantwortung der Ärzte wie etwa einer HMO.

Würden alle Versicherten in ein HMO-ähnliches Modell wechseln, wären Einsparungen von jährlich etwa 3 Milliarden Franken möglich, sagt eine vom Bund bestellte Studie der Beratungsfirma Polynomics von 2022 mit Verweis auf Berechnungen der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und des Beratungsbüros Infras. Die Abstimmungsvorlage brächte indes keinen solch starken Effekt. Polynomics schätzt, dass mit der Reform «0 bis 10 Prozent» der Versicherten, die noch nicht in einem HMO-ähnlichen Modell sind, in ein solches wechseln würden.

Bei 10 Prozent lägen die geschätzten Einsparungen laut Polynomics bei gut 300 Millionen Franken pro Jahr. Andere mögliche Wirkungskanäle durch die Reform hat Polynomics mangels Daten nicht quantifiziert. Unter Einschluss einer Grobabschätzung möglicher Einsparungen in der Pflege kommt die Studie auf ein jährliches Einsparpotenzial durch die Reform von 0 bis 440 Millionen Franken.

Die Null steht für ein unwahrscheinliches Szenario, in dem die Akteure auf die Veränderung der Anreize überhaupt nicht reagieren. Oder für ein Szenario, in dem die Linderung von Fehlanreizen bei den Krankenkassen und ihren Versicherten kompensiert wird durch eine Reduktion der Anreize der Kantone, die Verlagerung von stationär zu ambulant zu fördern.

Zeitbombe für Prämienzahler?

Laut Kritikern fällt den Krankenkassen mit dem Einbezug der Pflege in den Finanzierungsschlüssel eine finanzielle Zeitbombe ins Haus. Reformgegner haben schon wiederholt mit Verweis auf eine Studie des Krankenkassenverbands Santésuisse suggeriert, dass die Reform Mehrkosten für die Prämienzahler von rund 10 Milliarden Franken im Jahr 2040 bewirke.

Diese Behauptung ist Unsinn. Das Papier von Santésuisse war als Waffe gegen die Integration der Pflege in den neuen Kostenverteilschlüssel gedacht; die Reform als «Projekt der Krankenkassenlobby» zu bezeichnen, wie es die gewerkschaftlichen Gegner am Dienstag taten, ist deshalb eine klassische Nebelpetarde. Die Hauptlobbyisten für die Integration der Pflege in die Reform waren die Kantone.

Das besagte Santésuisse-Papier vergleicht nicht die Reform mit dem Status quo, sondern die Reform einschliesslich Pflege mit einer alternativen Reform ohne Pflege. Die Studie arbeitet mit zwei Szenarien. Im ersten nimmt das jährliche Wachstum der Pflegekosten im Vergleich zur Referenzperiode 2012 bis 2021 künftig bis 2040 um einen Prozentpunkt zu, im zweiten Szenario gar um zwei Prozentpunkte. Dies wegen der Umsetzung der vom Volk angenommenen Pflegeinitiative. Die Annahmen in den Szenarien sind laut Santésuisse nicht als Prognosen zu verstehen.

Im negativen zweiten Szenario wären laut den Rechnungen von Santésuisse im Jahr 2040 die Zusatzkosten für die Krankenkassen (und die Entlastung für die Steuerzahler) mit 9,6 Milliarden Franken höher als die geschätzten Entlastungen von 6,7 Milliarden Franken durch die anderen Elemente der Reform. Das Negativszenario von Santésuisse unterstellt implizit, dass die Umsetzung der Pflegeinitiative die Gesamtkosten der Pflege um total etwa 40 Prozent erhöht. Dies erscheint sehr hoch. Im ersten Szenario wären aus Sicht der Prämienzahler Entlastungen und Zusatzbelastungen 2040 etwa gleich gross, doch für die Gesamtperiode wären die Entlastungen grösser.

Dafür ohne Begeisterung

Santésuisse ist laut eigenen Angaben für die Reform, aber wegen des Einbezugs der Pflege «ohne Begeisterung». Der andere Krankenkassenverband, Curafutura, kämpft als Mitglied des Pro-Komitees aktiv für die Vorlage.

Laut einem Papier des Bundes sind die Kosten für ambulante medizinische Leistungen von 2013 bis 2022 im Mittel prozentual stärker gewachsen als jene für die Pflege. Unter gewissen Annahmen über die Folgen der Pflegeinitiative und über die Art der gesellschaftlichen Alterung ist es gut möglich, dass die Pflegekosten mittelfristig prozentual stärker wachsen als in der Vergangenheit. Im Reformszenario würde dies die Prämienzahler im Vergleich zum geltenden System stärker belasten.

Im Gegenzug dürften die Kosten für ambulante medizinische Leistungen laut Fachprognosen selbst bei etwas tieferen prozentualen Wachstumsraten in absoluten Zahlen stärker zunehmen als die Pflegekosten. Denn der gesamte Kostenblock «ambulant» ist zurzeit fast viermal so gross wie die Pflegekosten. Im Reformszenario würde der Kostenanstieg im ambulanten Sektor die Prämienzahler im Vergleich zum geltenden System entlasten.

Für die Saldowirkung der Reform spielt auch das Kostenwachstum im stationären Bereich eine Rolle. Laut dem erwähnten Bundespapier auf Basis externer Expertenschätzungen dürfte per saldo die Reformvorlage aus Sicht der Prämienzahler wahrscheinlich günstiger sein als der Status quo.

Nicht in Stein gemeisselt

Sicher kann das keiner wissen. Bei unerwartet starker Belastung der Prämienzahler könnte der Gesetzgeber laut Bundesangaben die Kostenverteilung zwischen Steuer- und Prämienzahler ändern.

Das heisst: Im Theoriebuch ist die Effizienzfrage von der Verteilungsfrage zu trennen. Doch wie so oft in der Schweiz liegt auch bei dieser Vorlage der politische Fokus schwergewichtig auf dem Verteilungskampf.

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