Montag, September 30

In St. Gallen müssen Wahlresultate korrigiert werden. In Innerrhoden sind Stimmen verrutscht. Und in Bern Unterschriften «abhandengekommen».

Das Ergebnis ihrer Partei war so gut, dass sie im ersten Moment gedacht habe, das müsse ein Fehler sein. So erzählt es eine St. Galler Freisinnige am Montagmorgen. Vier Sitze hatte die FDP bei den Parlamentswahlen am Sonntag gewonnen. Das «St. Galler Tagblatt» schrieb von einem «Rechtsrutsch» – den man sich aber nicht richtig erklären konnte. Die städtische FDP hatte doch bei den Kantonsratswahlen im März noch rund zwei Prozent verloren. War das wirklich plausibel? Selbst die nationale FDP sei verwundert gewesen, heisst es in St. Gallen, und habe Gratulationen in den Osten geschickt.

Aber am Montagabend hat das St. Galler Stimmbüro die Geschichte umgeschrieben. Es korrigierte, was die besagte Freisinnige bereits am Sonntag für falsch hielt. Statt vierzehn Sitze hält die FDP neu nur noch neun, und damit einen weniger als bisher. Sie ist plötzlich Wahlverliererin. Der Grund: Excel hatte die falsche Zahl unveränderter Stimmzettel übernommen, also 2507 statt der tatsächlichen 1170. Ein Formelfehler.

Andreas Vögeli, Leiter des St. Galler Stimmbüros, spricht dennoch von «menschlichem Versagen». Die Kontrollmechanismen hätten nicht funktioniert. Das Stimmbüro verfügt über einen zehnköpfigen Ausschuss, der am Sonntagabend tagte. Diesem sei das starke Abschneiden der FDP zwar aufgefallen. Im «Vertrauen auf das System» habe man das Resultat aber nicht nachgeprüft. Erst am Montagmorgen wurde nachgezählt. Weil ihm das Resultat mit einem halben Tag Abstand seltsam vorgekommen sei, wie Vögeli sagt.

Als er sich am Montagabend vor den Medien äusserte, wurde er mit den Konsequenzen der Fehler konfrontiert. Im Hintergrund wurde gejohlt. Die SP hatte sich vor dem Rathaus versammelt, um zu feiern. 24 Stunden zuvor hatte sie noch zwei Sitze verloren, nun kann sie alle ihre Sitze halten. Und auf den sozialen Netzwerken forderten die Jungfreisinnigen seinen Rücktritt. Ob er zurücktrete, liess er offen.

Als Sofortmassnahme versprach das St. Galler Stimmbüro, künftig mit einem Acht-Augen-Prinzip zu arbeiten.

Es muss stimmen

Am Montag meldete aber nicht nur St. Gallen, sondern auch Appenzell-Innerrhoden einen Fehler. Im Innerrhoder Bezirk Schlatt-Haslen seien im Abstimmungsbüro hundert Stimmen verrutscht. Am Ergebnis ändert sich nichts Entscheidendes. «Die verantwortlichen Personen werden sich künftig wieder strikte an das Vier-Augen-Prinzip halten», verspricht die Ratskanzlei.

Zudem teilte die Regierung der Stadt Bern mit, dass sie die Sammelfrist für eine Mindestlohn-Initiative verlängere – weil in der Stadtkanzlei ungefähr 1600 Unterschriften «abhandengekommen» seien. Die Regierung schreibt, sie sei «bestürzt». «Das Vertrauen in die direkte Demokratie» sei dem Gemeinderat ein sehr grosses Anliegen.

Ist es nur ein Gefühl, oder häufen sich diese Meldungen? Sie berühren das Selbstverständnis eines Landes, das sich nicht über das Visionäre und das Genialische definiert, sondern über die Solidität und das Funktionierende. Es muss nicht zuerst brillant sein – es muss stimmen.

Aber in den vergangenen Monaten stimmte es immer wieder nicht: Nicht nur diskutierte die Schweiz zuletzt über falsche Prognosen für die AHV und mutmasslich gefälschte Unterschriften für Initiativen. Im vergangenen Herbst musste das Bundesamt für Statistik auch die Resultate der eidgenössischen Wahlen nachträglich korrigieren. Versehentlich hatte man Resultate aus Glarus und den beiden Appenzell mehrfach gewichtet. Immerhin hatte man es selbst bemerkt. Als der Bund die Fehler bekanntgab, versprach er, künftig «noch mehr Kontrollpersonal am Wahltag» einzusetzen.

«Unter dem Strich gut»

Der Politologe Silvano Moeckli hat sein Berufsleben lang Wahlen beobachtet: in Namibia, in Südafrika, vor allem in der Schweiz. Er untersuchte etwa den Fall Frauenfeld, wo der Stadtschreiber im Jahr 2020 die Wahlen fälschte – wohl um einen anfänglichen Irrtum zu vertuschen.

Moeckli sagt, in der Schweiz sei mehr Sorgfalt nötig: «Oft ist unklar, wo Couverts aufbewahrt oder wann sie aufgemacht werden dürfen. Immer wieder wird das Vier-Augen-Prinzip nicht eingehalten, oder es sind nicht Personen aus mehreren Parteien im Raum.» Und doch funktioniere das Wählen und das Abstimmen «unter dem Strich gut»: Das Arbeitsethos in den Gemeinden sei hoch, das Vertrauen gross – «auch wenn die Nachrichten dieser Tage am Selbstverständnis kratzen».

Moeckli war als Beobachter in vielen Wahlbüros, er hat noch nie gesehen, dass die abgegebenen und die gezählten Stimmzettel ganz genau übereinstimmten. «Ein paar fehlende Stimmen kann es immer geben», sagt er. Als die Demokratie noch analog gelebt wurde, habe es nicht weniger Fehler gegeben, sie seien nur weniger oft öffentlich geworden.

Um Fehler zu entdecken, empfiehlt Moeckli vor allem Plausibilitätsprüfungen. Sind die Resultate der einzelnen Gemeinden vergleichbar? Gibt es Auffälligkeiten zu früheren Wahlen? Kann es wirklich sein, dass in der Stadt St. Gallen der kantonale oder der nationale Trend gebrochen wird?

Eine kurze Zeit lang sah es so aus. Inzwischen ist der Eindruck korrigiert.

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