Mittwoch, Januar 15

Elektroden im Gehirn messen und steuern die Aktivität der Nervenzellen. Im Rennen um die beste Hirn-Computer-Schnittstelle verfolgen Entwickler unterschiedliche Strategien.

Die Neurotechnologie boomt. In immer kürzeren Abständen genehmigen die Behörden neue Implantate für das menschliche Gehirn. Im vergangenen Jahr platzierte ein Roboter im Gehirn von zwei Patienten neuartige, fadenförmige Elektroden. Entwickelt hatte sie die amerikanische Firma Neuralink.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Auch aus Europa kommen neue sogenannte Hirn-Computer-Schnittstellen. Seit kurzem testet die Schweizer Firma Inbrain biegsame Elektroden für die tiefe Hirnstimulation beim Menschen. Und die deutsche Firma Cortec prüft ein System, das Hirnsignale messen und verändern kann.

In Zukunft sollen Hirn-Computer-Schnittstellen Menschen mit einer schweren Depression die Freude am Leben wiedergeben oder nach einem Schlaganfall neue Verbindungen zwischen Gehirnzellen schaffen. Vorerst werden vor allem die dafür notwendigen Materialien und Schaltkreise erprobt.

Das Hirn ist dauernd aktiv

Das Rennen um die ideale Hirn-Computer-Schnittstelle nahm in den vergangenen Jahren Fahrt auf – gut 100 Jahre nachdem es einem Chirurgen in Deutschland erstmals gelungen war, die Hirnaktivität des Menschen zu messen. Das Ereignis markiert den Anfang der Erforschung elektrischer Ströme im Gehirn. Vorerst schritt sie nur langsam voran.

Damals, im Jahr 1924, musste einem Teenager im Universitätsspital Jena ein Tumor aus dem Gehirn entfernt werden. Während der Operation platzierte der Arzt Hans Berger versuchsweise ein paar Elektroden auf das Gehirn des Jungen.

Und tatsächlich – der an die Elektroden angeschlossene Galvanometer bewegte sich. Er hatte elektrische Aktivität gefunden. Die Ärzte staunten. Dass die Nervenzellen im Gehirn andauernd Signale austauschen, war ihnen neu.

Mit der Zeit wurden die Messelektroden immer besser und konnten die Hirnaktivität sogar ausserhalb des Schädels, auf der Kopfhaut, auffangen. Bleistifte brachten die Hirnströme als wellenförmige Linien auf Papier. Diese sogenannte Elektroenzephalografie blieb jahrzehntelang das einzige Fenster zum menschlichen Gehirn. Unkontrollierte, krampfartige Hirnaktivität, wie sie bei Patienten mit Epilepsie auftreten, wurde so messbar.

Schliesslich entstand in den 1980er Jahren die erste richtige Hirn-Computer-Schnittstelle: Der Bildschirm ersetzte das Papier. Dadurch wurden ganz neue Analysen möglich. Die Signale aus dem Gehirn konnten im Computer gespeichert, verstärkt und beliebig gefiltert werden.

Mit dem Gehirn eine Maus bewegen

Heute können gelähmte Patienten eine Computermaus steuern oder Wörter buchstabieren. Auf ihrem Gehirn sitzt eine Metallplatte mit Elektroden. Manchmal ragen Elektrodenstifte direkt in das Nervengewebe hinein. Diese Schnittstelle zum Gehirn, das sogenannte «Utah Array», wurde vor gut 20 Jahren im gleichnamigen Bundesstaat von der Firma Blackrock entwickelt.

Weltweit gibt es aber weniger als 50 Patienten, die über eine solche Schnittstelle mit einem Computer kommunizieren. Denn sie hat gravierende Nachteile.

Je länger die heutigen «Utah Arrays» im Hirngewebe verbleiben, desto weniger Hirnaktivität fangen sie auf. «Nicht selten sendet dann von ursprünglich 100 Elektroden nur noch ein Bruchteil Signale an den Computer», sagt Martin Schüttler, der CTO von Cortec.

Und es gibt noch eine weitere Schwierigkeit: Den Patienten ragen permanent elektrische Kabel aus dem Kopf; die Kopfhaut darum herum entzündet sich leicht. Firmen wie Cortec, Inbrain und Paradromics wollen diese Probleme endlich beheben.

Sender liegen zwischen Kopfhaut und Schädeldecke

Keine der neu zugelassenen Hirn-Computer-Schnittstellen hinterlassen noch eine offene Wunde. Cortec etwa platziert einen dünnen Sender zwischen Kopfhaut und Schädeldecke der Patienten. Die Haut kann sich darüber wieder schliessen.

Die gemessenen Signale gelangen also wireless zum Computer. Bei Bedarf kann der Patient das Gerät mithilfe eines Magneten gleich selbst ein- und ausschalten. Die amerikanische Firma Paradromics platziert ihr Sendesystem im Brustbereich des Patienten, ebenfalls unter der Haut.

Nichtmetall soll Hirnaktivität zuverlässig weiterleiten

Wie viel Hirnaktivität eine Schnittstelle im Idealfall auffangen soll, ist sehr unterschiedlich. Die fadenförmigen Elektroden von Neuralink schaffen bis zu 1000 unterschiedliche Verbindungen zum Gehirn. Eine hohe «Bandbreite» ist das Ziel, damit der Computer so viel Hirnaktivität wie möglich auswerten kann.

Anderen Firmen geht es weniger um die Anzahl Messpunkte als um deren Zuverlässigkeit. Mit nur 4 oder 5 Messpunkten gibt sich aber keines der neu entwickelten Systeme mehr zufrieden. Ganz neue Wege geht dabei die Schweizer Firma Inbrain.

Ihr Ziel ist, dass die gemessene Hirnaktivität nach der Operation möglichst stabil bleibt und nicht mehr abnimmt. Um das zu vermeiden, fertigt Inbrain seine Elektroden aus einem Nichtmetall – aus Graphen.

Anders als bei metallischen Elektroden könnte sich um das Graphen herum weniger narbenähnliches Gewebe bilden. Dadurch bleibt die Aktivität der Nervenzellen langfristig besser ableitbar.

Graphen besteht aus Kohlenstoffatomen, die wie richtiges Metall elektrischen Strom leiten. Gleichzeitig ist es besonders biegsam und porös. «Pro Quadratmillimeter Graphen kann viel mehr Hirnaktivität abgegriffen werden als bei Elektroden aus Metall», sagt Carolina Aguilar. Sie ist CEO der Firma Inbrain und testet die Elektroden derzeit an Patienten in England.

Das Gehirn mit elektrischen Impulsen steuern

Schliesslich arbeiten einige Firmen am eigentlichen heiligen Gral der Hirn-Computer-Schnittstellen. Allen voran die deutsche Firma Cortec. Ihr System soll Hirnaktivität nicht nur messen, sondern auch steuern können.

Zwar gibt es bereits heute Patienten, die einen solchen Schrittmacher im Gehirn tragen. Die sogenannte tiefe Hirnstimulation hilft Patienten, die an Parkinson erkrankt sind. Zufriedenstellend ist das Resultat allerdings noch nicht.

Über Elektrodenstifte, die tief ins Gehirn ragen, wird das Gehirn in regelmässigen Abständen durch elektrische Impulse angeregt. Patienten, die zuvor während des Gehens plötzlich erstarrt sind, können dank dieser Stimulation wieder regelmässig einen Fuss vor den anderen setzen.

«Die Hirnstimulation ist heute noch in den Kinderschuhen», sagt Martin Schüttler, der CTO der Firma Cortec. Er vergleicht die heutige Funktionsweise der Hirnstimulation mit den Herzschrittmachern der späten 1950er Jahre.

Damals wurde das Herz des Patienten Tag und Nacht mit 90 Schlägen pro Minute «betrieben». Ob beim Joggen oder beim Einschlafen, das Herz schlug immer gleich schnell. Die heutige Hirnstimulation macht dasselbe mit dem Gehirn, sagt Schüttler.

Wie moderne Herzschrittmacher, sollen auch die Hirnstimulatoren in Zukunft «adaptiv» funktionieren: Je nach gemessener Hirnaktivität soll die Stimulation schneller oder langsamer, stärker oder schwächer ausfallen. Das ist das Ziel dieser sogenannten «Closed-loops»-Systeme.

Nun testet Cortec ein solches Gerät an Patienten, die eine Hirnblutung erlitten haben. Stimulation soll das Wachstum der Nervenzellen anregen und so kompensieren, dass der Patient Teile seines Gehirns verloren hat. Der Schrittmacher reagiert sofort, wenn die regelmässige Hirnaktivität in der Grosshirnrinde abflacht. Spezielle Algorithmen stimmen die Stimulation präzise auf die Hirnaktivität ab.

Die technische Entwicklung der Hirn-Computer-Schnittstellen geht rasant voran – und doch ist es bis zu einer Revolution in der Medizin noch ein weiter Weg. Hirnsignale messen zu können, ist das eine, sie zu verstehen, etwas ganz anderes.

Welche Hirnaktivität auf eine psychische Erkrankung hinweist oder welche Art von Stimulation das Gehirn von Depressiven braucht, wissen wir noch nicht. Wandern dereinst elektrische Signale zuverlässig vom Gehirn zum Computer und zurück, ist erst der erste Schritt geschafft. Danach werden wir lernen müssen, die Hirnaktivität richtig zu deuten.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version