Samstag, Oktober 5

China hat sich auf Kosten vieler Menschen zu einem Service-Wunderland entwickelt. Der Film «Upstream» wirft ein Schlaglicht darauf und trifft in der angespannten Wirtschaftslage einen Nerv.

Es ist eine Filmszene, die die chinesische Gesellschaft aufrüttelt: Ein Lieferant humpelt in ein Restaurant in Schanghai, er blutet. In seinen Händen hält er eine Tüte mit der Lieferung, für die der arme Mann im Strassenverkehr buchstäblich sein Leben aufs Spiel gesetzt hat – Inhalt: Fleischspiesse.

Triumphierend übergibt er sie dem Mann, der sie bestellt hat, als sei die lapidare Lieferung aus dem Supermarkt nichts Geringeres als die olympische Flamme.

Die Szene aus dem Film «Upstream» des Regisseurs Xu Zheng beschreibt den alltäglichen Wahnsinn im chinesischen Niedriglohnsektor. In den sozialen Netzwerken sorgt der Film für Diskussionen, weil er einmal mehr ein Schlaglicht auf die prekäre Zustellbranche in China wirft, in der Menschen, getrieben von Algorithmen und schier unerfüllbaren Zeitplänen, um ihr finanzielles Überleben kämpfen.

China ist Weltmarktführer im E-Commerce, nirgendwo wird mehr bestellt, nirgendwo sausen mehr Lieferfahrer auf ihren Elektrorollern durch die Städte. Fahrer, die zehn Stunden am Tag arbeiten und kaum einen Tag frei haben, verdienen nicht mehr als 7000 Yuan im Monat – umgerechnet 880 Euro.

Hauptfigur im Film ist der Lieferfahrer Gao Zhilei, ein Mann mittleren Alters, der seinen Job in der Computerbranche verloren hat – und dann auch noch sein Erspartes, weil er die Arztrechnungen für seinen kranken Vater bezahlen muss. In seiner Not verdingt er sich als Fahrer bei einem der Lieferdienste, die das Strassenbild der chinesischen Grossstädte prägen.

Ein Heer bunt gekleideter Rollerfahrer

Ein Heer von bunt gekleideten Lieferanten, oft schwer bepackt mit Kisten und Tüten, bei Regen und Schnee mit aufgespanntem Regenschirm auf dem E-Roller, sind von frühmorgens bis spätabends im Einsatz. Das Unternehmen wird im Film nicht explizit genannt, aber die gelbe Kleidung und der gelbe Helm erinnern an Meituan, den Branchenführer unter den Lieferdiensten.

Wer in China lebt, kommt an Meituan und seinen Konkurrenten kaum vorbei. Chinesen kaufen immer seltener persönlich im Supermarkt ein, sondern lassen sich Lebensmittel liefern. Die führenden Lebensmittel-Lieferdienste Meituan und Ele.me, hinter denen die auch in Deutschland bekannten Tech-Giganten Tencent aus Shenzhen und Alibaba aus Hangzhou stehen, beschäftigen zusammen rund zehn Millionen Lieferanten in China. Nach Angaben des nationalen Statistikamts arbeiteten Ende 2021 mehr als 13 Millionen Fahrer in der Branche – Tendenz seitdem steigend.

Die Lieferdienste sind praktisch und bequem. Wenn einem abends um 22 Uhr 30 einfällt, dass für das Frühstück am nächsten Morgen Kiwis fehlen, reichen ein paar Klicks auf der App – und eine halbe Stunde später klopft der Bote an die Tür und bringt die Lieferung.

Das Absurde daran: Auch wer eine Batterie für seinen Rasierer bestellt, bekommt sie kurze Zeit später geliefert. Einzeln, in einer Tüte verpackt. Versandkosten: keine. China ist in dieser Hinsicht zum (fragwürdigen) Service-Wunderland geworden.

Das Service-Wunderland baut diesen Ruf auf dem Rücken seiner Zulieferer auf, die wie die fiktive Figur Gao ihre Gesundheit für den Knochenjob opfern. Der Film blickt auch über den Tellerrand der Lieferbranche hinaus. Nach Angaben des chinesischen Gewerkschaftsbundes sollen inzwischen 84 Millionen Menschen in Niedriglohnjobs arbeiten, als Kuriere, Essenslieferanten oder Autozusteller. Denn auch wer ein Auto mietet, bekommt es vor die Tür gestellt – und muss nicht zur nächsten Mietstation fahren.

Und es wird noch bequemer: Wer in Schanghai auf einer Party einen Drink nehmen will, kann per App einen Fahrer bestellen. Der kommt mit einem Elektroroller, klappt das Gefährt zusammen, verstaut es im Kofferraum – und bringt das Auto samt angeheitertem Besitzer sicher nach Hause.

Die schwierige Lage auf dem chinesischen Arbeitsmarkt zwingt selbst gut ausgebildete Hochschulabsolventen dazu, zumindest übergangsweise solche Dienstleistungsjobs anzunehmen. Viele Immobilienmakler mussten in der Krise Personal abbauen. Seit die Hausverkäufe und damit die Provisionen ausbleiben, haben sich viele Mitarbeiter andere Jobs gesucht.

Jüngst ist auch die Jugendarbeitslosigkeit wieder gestiegen – 17,1 Prozent der 16- bis 24-Jährigen waren im Juli ohne Job, ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vormonat. Studierende sind von der Statistik ausgeklammert. Im Sommer 2024 haben rund zwölf Millionen Studierende an Chinas Hochschulen ihren Abschluss gemacht und drängen auf den Arbeitsmarkt.

Fahrer missachten die Verkehrsregeln

«Upstream» passt also in die Zeit, auch wenn die Debatte in China nicht neu ist. Bereits 2019 machte auf Chinas reichweitenstarker sozialer Plattform Weibo der Hashtag «Sollten wir dem Lieferanten danken?» die Runde. 2020 veröffentlichte ein chinesisches Magazin eine Studie zu den Arbeitsbedingungen in der Lieferindustrie.

Ihr Tenor: Die Algorithmen der Unternehmen verleiten die Fahrer dazu, Verkehrsregeln zu missachten, um die Zeiten einzuhalten. Das führt immer wieder zu Zwischenfällen, die in Chatgruppen des Messenger-Dienstes Wechat heiss diskutiert werden.

Wie kürzlich: Erst vor wenigen Tagen beschädigte ein junger Meituan-Lieferant in Hangzhou bei Schanghai versehentlich einen Zaun, als er eine Essensbestellung ausliefern wollte. Der Wachmann hielt ihn an und verlangte angeblich 200 Yuan, etwa 25 Euro. Passanten filmten, wie der Lieferant vor dem Wachmann auf die Knie ging und um Nachsicht bat, weil er das Geld nicht hatte und ausserdem das Essen schnell ausliefern musste.

Das Video rief wütende Reaktionen hervor, ebenso wie der Film «Upstream», der im Internet diskutiert wird. «Können die Belohnungen, die wir für unsere Anstrengungen erhalten, unsere Würde bewahren?», schreibt ein sichtlich betroffener Zuschauer auf Weibo. Andere kritisieren den Film als Trostpflaster fürs Gewissen, ohne dass sich in China etwas ändern werde. «Die Reichen filmen die Armen und lassen sich von den Armen dafür bezahlen», schreibt ein anderer.

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