Montag, November 25

Grossbritannien ächzt unter rekordhohen Steuern und Schulden, welche die Labour-Regierung noch weiter erhöhen will. Warum steckt das Land so tief in der Krise?

Der Haushalt, den die neue britische Labour-Regierung Ende Oktober präsentierte, war für britische Verhältnisse ein finanzpolitischer Paukenschlag. Schatzkanzlerin Rachel Reeves versprach jährliche Investitionen von rund 70 Milliarden Pfund (knapp 79 Milliarden Franken), die etwa zur Hälfte durch neue Steuern und neue Schulden gedeckt werden sollen.

Damit gleicht sich Grossbritannien immer mehr kontinentaleuropäischen Ländern mit hohen Steuern und einem grossen Staat an. Laut den Berechnungen des unabhängigen Office for Budget Responsibility (OBR) stabilisiert sich die Staatsquote bei rund 44 Prozent des Bruttoinlandprodukts – sie liegt damit fast 5 Prozentpunkte höher als vor der Pandemie.

Derweil wird die Fiskalquote, die Summe aller Steuern und öffentlichen Abgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP), bis Ende des Jahrzehnts einen historischen Höchststand von 38 Prozent der Wirtschaftsleistung erreichen. Schliesslich will Reeves dank einer Lockerung der Regeln zur Defizitbegrenzung zusätzliche Schulden machen. Die negativen Marktreaktionen zeigen aber, dass dies den Staat mit höheren Schuldzinsen belasten wird.

Schwieriges konservatives Erbe

Die meisten Experten sind sich einig, dass Reeves kaum gute Optionen hatte. Denn die Konservative Partei hat das Land nach vierzehn Jahren an der Macht in einem bedauerlichen Zustand hinterlassen. Die Gefängnisse sind überfüllt, die Spitäler überlastet und viele Schulen renovationsbedürftig. Linke Kommentatoren machen für den schlechten Zustand der Infrastruktur die konservative «Austeritätspolitik» verantwortlich.

Allerdings wirken die Staatsfinanzen keineswegs so, als ob Grossbritannien einen strengen Sparkurs hinter sich hätte. Die Schulden betragen 98 Prozent der Wirtschaftsleistung – so tief in der Kreide war das Land seit den frühen 1960er Jahren nicht mehr. Und die Steuerlast war in der Endphase der konservativen Regierung so hoch wie letztmals nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wie konnte es so weit kommen?

Aufschluss gibt ein Blick auf die Entwicklung der staatlichen Ausgaben. Während in den achtziger Jahren Margaret Thatcher den Staat verkleinerte, stiegen die Ausgaben in der New-Labour-Ära von Tony Blair und Gordon Brown um die Jahrtausendwende wieder an. In der Finanzkrise von 2008 machte der Staat 137 Milliarden Pfund zur Rettung der Banken locker. 2020 kam es wegen der Pandemie erneut zu einer unplanmässigen Explosion der öffentlichen Ausgaben.

Grossbritannien wies bereits vor der Finanzkrise eines der grössten strukturellen Defizite aller Industrienationen auf, wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) damals festhielt. Auch darum leiteten der 2010 gewählte konservative Premierminister David Cameron und sein Schatzkanzler George Osborne ein «Austeritätsprogramm» ein, das die öffentlichen Finanzen wieder ins Lot bringen sollte.

Defizite trotz Sparmassnahmen

Laut der Ökonomin Beatrice Boileau von der Denkfabrik Institute for Fiscal Studies wurden die Staatsausgaben nach 2010 tatsächlich erheblich verringert. «Die Sozialleistungen wurden gekürzt, die Budgets der Gemeinden reduziert, das Militär musste sparen», sagt sie. Dank Entlassungen und Kürzungen bei den Reallöhnen von Beamten senkte die Regierung die laufenden Kosten. Doch auch die staatlichen Investitionen sanken zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts um fast einen Drittel, was laut Boileau zum schlechten Zustand der Infrastruktur beigetragen hat.

Doch kann wirklich von einer «Austeritätspolitik» die Rede sein? Der Sparkurs reduzierte zwar das Ausmass der Neuverschuldung, doch Grossbritannien schrieb dennoch jedes Jahr neue Defizite. Boileau führt dies teilweise auf das Gesundheitswesen zurück, das trotz Austeritätspolitik immer mehr Geld erhielt und heute rund einen Drittel aller Ausgaben in öffentlichen Dienstleistungen verschlingt. Der ineffiziente Nationale Gesundheitsdienst (NHS) ist in Grossbritannien eine heilige Kuh und wird praktisch ohne Kostenbeteiligung der Patienten direkt aus der Staatskasse finanziert.

Zudem hat das tiefe Wirtschaftswachstum laut Boileau weniger Steuereinnahmen generiert als erhofft. Dies verunmöglichte es der Regierung, nach den Sparmassnahmen neue Investitionen in die Infrastruktur zu tätigen. Die Gründe für die Wachstumsschwäche seit der Finanzkrise reichen von der notorisch schlechten Produktivität bis zur Unsicherheit nach der Brexit-Abstimmung von 2016. So haben sich die Unternehmensinvestitionen bis heute nicht vom Dämpfer der Volksabstimmung erholt.

Gravierende Folgen der Pandemie

Als Boris Johnson 2019 zum Premierminister aufstieg, war der Anteil der Staatsschulden gemessen am Bruttoinlandprodukt bereits von rund 70 Prozent im Jahr 2010 auf über 80 Prozent angewachsen. Dennoch verkündete Johnson offiziell das Ende der «Austeritätspolitik». Er stellte massive Investitionen in die Infrastruktur in Aussicht und versprach, den wirtschaftlichen Graben zwischen den ehemaligen Industriegebieten in Nordengland und dem prosperierenden Süden zuzuschütten.

Es war aber vor allem die Pandemie, welche den Schuldenberg weiter anwachsen liess. Eine Zusammenstellung des IWF zeigt, dass Länder wie die Schweiz, aber auch Italien und Deutschland den Grossteil ihrer finanziellen Aufwendungen zur Abfederung der Pandemie in Krediten, Darlehen und Garantien leisteten. Grossbritannien hingegen gab 2020 und 2021 fast 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts à fonds perdu für die Bewältigung der Pandemie aus – in Form von direkten Zahlungen und entgangenen Steuereinnahmen.

Johnsons Regierung verschwendete Geld zur Beschaffung von Schutzausrüstung und führte über Nacht die Möglichkeit von staatlich entgoltener Kurzarbeit ein. Sie gab den Firmen aber keine Möglichkeit, die Angestellten auf teilzeitlicher Basis weiterzubeschäftigen, was Fehlanreize setzte und zu den hohen Kosten für den Staat beitrug.

Dazu kam im Herbst 2022 ein Hilfspaket von 150 Milliarden Pfund, das die kurzzeitig amtierende Premierministerin Liz Truss zur Abfederung der hohen Energiepreise vorsah. Die Regierung subventionierte die Energierechnungen sämtlicher Haushalte, anstatt sich auf die Bedürftigen zu konzentrieren. Da die damals oppositionelle Labour-Partei sowohl die Covid-Milliarden wie auch die Energiezahlungen mit der Giesskanne vorbehaltlos unterstützte, ist am Vorgehen der Tory-Regierung bis heute kaum Kritik zu hören.

Die Pandemie hat auch der öffentlichen Infrastruktur weiter zugesetzt. Im Gesundheitswesen stiegen die Wartelisten dramatisch an. Im Justizsystem herrscht ein Stau bei der Abarbeitung von Gerichtsfällen, was zur Überbelegung der Gefängnisse beiträgt. Die zunehmenden Fürsorgekosten für Langzeitkranke haben einen erheblichen Anteil daran, dass viele der unterfinanzierten britischen Gemeinden in den Bankrott schlittern.

Kehrt Labour zur «Austerität» zurück?

Dass Labour nun die Investitionen in die Infrastruktur markant erhöhen will, stösst beim IWF daher auf Zustimmung. Laut Boileau vom Institute for Fiscal Studies fällt aber auf, dass sich die zusätzlichen Investitionen auf die ersten beiden Jahre der wohl bis 2029 dauernden Legislatur konzentrieren. Eine optimistische Interpretation dieses «frontloading» beruht auf der Hoffnung, dass sich viele temporäre Probleme rasch mit Geld beheben lassen werden. Allerdings ist bis jetzt völlig unklar, wie die Regierung den NHS strukturell reformieren will, um der Explosion der Gesundheitskosten langfristig Einhalt zu gebieten.

Die pessimistische Lesart besagt, dass die Regierung mit dem kurzfristigen Geldsegen verschleiert, dass sie mittelfristig zusätzliche Ausgaben oder Einsparungen beschliessen muss. Der ehemalige konservative Schatzkanzler George Osborne argwöhnt bereits, die Labour-Partei werde in zwei Jahren zur von ihm einst geprägten «Austeritätspolitik» zurückkehren.

Wirtschaftliches Wachstum könnte Labour aus diesem Dilemma befreien. Doch bittet Schatzkanzlerin Reeves über die Erhöhung der Lohnabgaben für Arbeitgeber oder die Erhöhung des Mindestlohns ausgerechnet die Unternehmen zur Kasse, die für diesen Aufschwung sorgen müssten. Die wenig ermutigenden Prognosen des OBR gehen ab 2026 von Wachstumsraten von jährlich bloss 1,5 Prozent aus. Und die Gefahr von Zöllen und Handelsbeschränkungen nach dem Wahlsieg von Donald Trump in den USA verschlechtert die Aussichten zusätzlich.

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