Freitag, Oktober 18

Neue EU-Regeln fordern von Deutschland eine Drosselung des Ausgabenwachstums im Staatshaushalt oder wachstumsfördernde Reformen. Aus Sicht des Finanzministers verkennen die ewigen Debatten über die nationale Schuldenbremse diese Vorgaben.

Christian Lindner, deutscher Finanzminister und Parteichef der Liberalen, hat als kleinster Partner einer zerstrittenen Dreierkoalition mit den Sozialdemokraten und den Grünen einen schweren Stand. Während die Schuldenbremse und der Verzicht auf Steuererhöhungen zu den letzten Bastionen seiner Partei zählen, liebäugeln die beiden Koalitionspartner zur Finanzierung ihrer sozial-, industrie- und klimapolitischen Projekte unermüdlich mit einer Aufweichung oder Umgehung der Schuldenbremse und mit Steuererhöhungen für Bürger mit höheren Einkommen oder Vermögen – erst vor wenigen Tagen wieder nachzulesen im jüngsten Papier des SPD-Parteivorstandes.

Sinnlose nationale Debatte

Selbst in Teilen der Wirtschaft, der internationalen Organisationen und der Ökonomenzunft ist der Ruf nach einer Reform der Schuldenbremse verbreitet. Doch nun hat Lindner zur Abwehr solcher Vorstösse ein neues Argument zur Hand. Es könnte sein, dass Deutschland im Haushalt 2025 trotz Einhaltung der Schuldenbremse zusätzliche Einsparungen vornehmen müsse, um auch die europäischen Regeln einzuhalten, sagte er am Mittwochabend vor dem Verein der Ausländischen Presse in Deutschland. Denn die nationale Schuldenbremse erlaube derzeit mehr Ausgaben, als es die EU-Fiskalregeln täten.

Deshalb mache es keinen Sinn, die bestehenden nationalen Regeln zu ändern, fügte Lindner an. Die deutschen Debatten über eine Reform der Schuldenbremse berücksichtigten das EU-Recht nicht, die einschlägigen Leitartikel müssten neu geschrieben werden.

Lindner bestätigte damit im Kern einen Sachverhalt, auf den ein Beratergremium (der Beirat des Stabilitätsrats der Finanzminister aus Bund und Ländern) schon letzte Woche hingewiesen hat. Dabei geht es um die neuen EU-Fiskalregeln, die im Frühjahr im Zuge einer Reform des Stabilitätspakts in Kraft getreten sind.

Striktere EU-Regeln

Worum geht es? Während die nationale Schuldenbremse enge Grenzen für die Neuverschuldung setzt, legen die neuen EU-Fiskalregeln zusätzlich mehr Gewicht auf den langfristigen Abbau der Staatsschulden. Mitgliedstaaten, deren Bruttoverschuldung wie im Falle von Deutschland zwischen dem Referenzwert von 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) und 90 Prozent des BIP liegen, sollen diese Schuldenquote im Durchschnitt um 0,5 Prozentpunkte pro Jahr reduzieren, bei Staaten mit einer Verschuldung von über 90 Prozent soll es 1 Prozentpunkt sein.

Was ist die Schuldenbremse?

Artikel 109 des deutschen Grundgesetzes schreibt für den Bund und die Bundesländer den Grundsatz ausgeglichener Haushalte ohne Einnahmen aus Krediten vor. Für den Bund wird diese Schuldenbremse in Artikel 115 präzisiert. Danach beträgt die maximal zulässige strukturelle (um konjunkturelle Einflüsse bereinigte) Nettokreditaufnahme 0,35 Prozent des jährlichen Bruttoinlandprodukts (BIP). Eine Konjunkturkomponente sorgt zudem dafür, dass die Grenze für die Neuverschuldung in konjunkturell schlechten Zeiten erhöht und in guten Zeiten reduziert wird. Im Falle von Naturkatastrophen oder aussergewöhnlichen Notsituationen kann die Schuldenregel ausgesetzt werden.

Ausgehend von diesen Grundsätzen und zahlreichen Annahmen wird ein vierjähriger Finanzplan für jeden Mitgliedstaat vereinbart, der eine Obergrenze für das jährliche Wachstum seiner Nettoausgaben (gesamtstaatliche Ausgaben abzüglich einer Reihe von Posten, darunter Zinszahlungen und Ausgaben im Zusammenhang mit EU-Programmen) festlegt. Um die Tragfähigkeit der Schulden einzuschätzen, werden dabei auch Faktoren wie die Kosten der demografischen Alterung und das potenzielle Wirtschaftswachstum berücksichtigt.

Die Sieben-Jahre-Option

Deutschland stösst nun auf zwei Probleme: Erstens fällt das Ausgabenwachstum im laufenden Jahr deutlich höher aus als ursprünglich erwartet. Zweitens hat das Land mittelfristig ein geringes Wachstumspotenzial. Vor diesem Hintergrund verfehlte Berlin die Mitte Oktober abgelaufene Frist für die Einreichung des Finanzplans mit der Begründung, es gebe noch «technischen Abstimmungsbedarf» mit Brüssel. Lindner sagte hierzu, es würden gegenwärtig mit der EU-Kommission unterschiedliche Optionen geprüft.

Grundsätzlich bieten die neuen EU-Regeln zwei Möglichkeiten: Entweder einigen sich Berlin und Brüssel auf einen vierjährigen Plan, der laut Lindners Andeutungen das Ausgabenwachstum wohl stärker begrenzen müsste als bisher geplant. Dies, obwohl die Konjunkturkomponente der nationalen Schuldenbremse infolge der schlechten Konjunkturlage für 2025 ein höheres Staatsdefizit erlauben würde als geplant.

Oder Lindner wählt als zweite Option eine zeitliche Streckung des Finanzplans auf sieben Jahre, was eine sanftere Konsolidierung ermöglichen würde. Zur Nutzung dieser Variante muss sich ein Staat aber zu wachstumsfördernden Reformen und Investitionen verpflichten.

Willkommener Druck

In den EU-Verhandlungen über die Reform des Stabilitätspakts hatte Lindner zu den Verfechtern strikter Regeln gehört. Vor der Auslandspresse bekräftigte er nun, Deutschland stehe für eine Einhaltung der Regeln. Auch wenn sie die anstehende Einigung über den Haushalt 2025 erschweren könnten, scheint der Minister über die zusätzlichen Leitplanken nicht allzu unglücklich zu sein: Im Ringen innerhalb der Koalition kann ihm der Druck aus Brüssel beim Ruf nach Reformen sowie bei der Abwehr von Ausgabenwünschen und ewigen Angriffen auf die Schuldenbremse helfen.

Überschätzen sollte man den Brüsseler Einfluss indessen nicht. Der EU-Stabilitätspakt hat eine lange Geschichte von Missachtungen durch die Mitgliedstaaten, die weitgehend ohne Folgen blieben. Das könnte auch seiner jüngsten Variante passieren. Die komplexen neuen Regeln enthielten so viele Schlupflöcher, dass ein Staat in den Verhandlungen mit der EU-Kommission immer irgendeine Lösung finden könne, sagte Friedrich Heinemann vom ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung am Donnerstag bei der Vorstellung einer Studie über Reformoptionen für die Schuldenbremse in Berlin.

Exit mobile version