Freitag, Oktober 18

Im Gefängnis war bisher noch kein amerikanischer Präsident. Aber die erste Frau, die für die Präsidentschaft kandidierte, verbrachte den Wahltag hinter Gittern.

Wahljahr oder nicht: Das Auge des Gesetzes ruhte unbestechlich auf dem Politiker, der erneut ins Weisse Haus gewählt zu werden hoffte. Der uniformierte Beamte des Metropolitan Police Department des District of Columbia, der Polizei der Stadt Washington, war nach seinen späteren Erinnerungen höflich, aber bestimmt: «Es tut mir sehr leid, Mr. President, dies zu tun, denn Sie sind das Oberhaupt der Nation, und ich bin nur ein Polizist, aber Pflicht ist Pflicht, und ich muss Sie verhaften.»

Die Szene, deren Authentizität nicht ganz unumstritten ist, spielte sich 1872 ab. Der afroamerikanische Polizeibeamte William H. West stoppte den amtierenden Präsidenten der USA, Ulysses S. Grant, da dieser – nicht zum ersten Mal – viel zu schnell mit seinem Einspänner über eine belebte Washingtoner Strasse gefahren war. Grant sei mit zur Polizeiwache genommen worden und habe dort 20 Dollar Kaution bezahlt, sagt man. Damit blieb ihm eine Gefängnisstrafe erspart, und seiner Wiederwahl stand nichts mehr im Wege.

Da Washington eine junge Stadt ist, liebt man dort die eigenen Legenden umso mehr. So ist der Vorfall mit dem sprichwörtlichen Salzkorn zu geniessen, auch wenn die Geschichte einen wahren, später vermutlich nur leicht ausgeschmückten Kern haben dürfte.

Im Gefängnis war bisher noch kein amtierender oder ehemaliger amerikanischer Präsident. Gesetzesverstösse durch Präsidenten gab es allerdings mehrfach, wobei immer wieder der Vorwurf erhoben wurde, die Interpretation des Gesetzes sei politisch gefärbt, durch politische Gegner und die Presse. In einzelnen Fällen war es tatsächlich so.

Behinderung der Justiz

Beim ersten Versuch eines Impeachment, einer Amtsenthebung, war das offensichtlich. Andrew Johnson, der als Vizepräsident des ermordeten Abraham Lincoln ins Amt gekommen war, wurde wegen «schwerster Verbrechen gegen die Vereinigten Staaten» angeklagt. Seine politischen Gegner konnten indes keinen Verfassungsabsatz vorlegen, gegen den Johnson verstossen hatte, als er den mächtigen Kriegsminister Edwin Stanton zu entlassen suchte. Die für eine Absetzung notwendige Zweidrittelmehrheit im Senat wurde um eine Stimme verfehlt.

Eindeutiger war die Beweislage rund einhundert Jahre später während der Watergate-Affäre. Es war gleichwohl nicht die Rolle Präsident Richard Nixons beim Einbruch ins Hauptquartier der Demokraten im Juni 1972, die ihn in Schwierigkeiten brachte. Von dem wahnwitzigen Unternehmen dürfte er nichts gewusst haben, und angesichts seiner glänzenden Umfragewerte, die wenige Monate später in einen Erdrutschsieg Nixons mündeten, war das Ansinnen, den politischen Gegner abzuhören, ein völlig sinnloser Gesetzesbruch.

Die Behinderung der Justiz durch Nixon, die im Rahmen der Ermittlungen zutage trat, war es vielmehr, die das Räderwerk des Impeachment in Gang setzte. Auch hier beruhte der wesentliche Vorwurf, «Missbräuche von Regierungsvollmachten», auf einer Definition der von den Demokraten gestellten Kongressmehrheit.

Kritik am Krieg

Nixon kam dem Absetzungsverfahren durch seinen Rücktritt am 9. August 1974 zuvor. Die Begnadigung durch seinen Nachfolger Gerald Ford verhinderte eine mögliche Gefängnisstrafe – und dürfte Ford, einen wegen seiner Vertrauenswürdigkeit über die Parteigrenzen angesehenen Mann, 1976 die Wahl gekostet haben.

Als rein parteipolitisches Manöver sahen viele Amerikaner das von den Republikanern angestrengte und gescheiterte Impeachment gegen Bill Clinton, bei dem es – eine Parallele zur Gegenwart – nicht nur, aber auch um Sex ging. Während der zahlreichen Prozesse gegen Donald Trump ist immer wieder die Frage diskutiert worden, ob auch ein im Gefängnis sitzender Politiker für die Präsidentschaft kandidieren kann. Sie kann ohne Zögern bejaht werden.

Die Politisierung der Justiz – die Anhänger Trumps jetzt den New Yorker Gerichten und der Biden-Administration vorwerfen – war bei der Inhaftierung des Sozialistenführers Eugene Debs offensichtlich. Debs hatte im Juni 1918 in einer Rede die Teilnahme der USA am Ersten Weltkrieg kritisiert und war dafür zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Aus dem Gefängnis im Gliedstaat Georgia kandidierte er 1920 für die Präsidentschaft und hatte mit einem Stimmenanteil von landesweit 3,4 Prozent ein respektables Ergebnis. Das beste, das ein Kandidat der Sozialistischen Partei Amerikas je erzielte.

Frauenwahlrecht und freie Liebe

Auch Lyndon LaRouche, der Anführer einer sektenähnlichen, von Verschwörungstheorien geprägten Bewegung, die zeitweise seinen Namen trug, kandidierte 1992 aus dem Gefängnis. Er war 1988 wegen Betrugs zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt worden, was für ihn das Ergebnis einer weitreichenden, von Henry Kissinger und dem FBI angezettelten Verschwörung war – mit dem Ziel, ihn als Politiker zu «eliminieren», wie er sagte. Sein Stimmenanteil lag bei weniger als 0,1 Prozent.

Fast ein wenig in Vergessenheit geraten ist, dass die erste offiziell für die Präsidentschaft kandidierende Frau den Wahltag, an dem sie eine nicht dokumentierte, aber sicher äusserst marginale Stimmenzahl bekam, im Gefängnis verbrachte. Es war Victoria Claflin Woodhull, die 1872 für die Equal Rights Party antrat. Die Anklage gegen sie lautete auf Publizierung obszönen Materials.

Die Aktivistin, die als erste Frau eine Brokerfirma auf der Wall Street besass, hatte neben dem Frauenwahlrecht auch die freie Liebe propagiert. Ihre Kandidatur war weitgehend symbolisch: Da sie am Wahltag noch nicht fünfunddreissig Jahre alt war, erfüllte sie eine Grundvoraussetzung der Wählbarkeit ins höchste Amt nicht.

Der grösste Aufrührer

Und doch: Einen Gefängnisinsassen gab es, den die höflicheren unter seinen Wärtern als «Mr. President» ansprachen: Jefferson Davis, von 1861 bis 1865 Präsident der von keiner Nation anerkannten Confederate States of America (CSA), stand im blutigen, wahrscheinlich mehr als 800 000 Tote fordernden Bürgerkrieg an der Spitze des Südens. Nach seiner Niederlage wurde Davis auf der Flucht verhaftet und in Richmond in Untersuchungshaft gesteckt.

Nach zwei Jahren kam er frei, ohne dass ein Urteil gesprochen wurde. Die Regierung in Washington hatte wenig Interesse, Davis zu einem Märtyrer zu machen. Da ihm bereits durch einen neuen Verfassungszusatz die Ausübung eines öffentlichen Amtes verwehrt blieb, war nach Ansicht seiner Verteidiger bereits eine Strafe ausgesprochen worden. Und nach dem Grundsatz des «double jeopardy» konnte er nicht wegen des gleichen Vergehens zweimal angeklagt werden. Der bislang grösste «insurrectionist», der entschiedenste Aufrührer gegen die amerikanische Verfassung, wurde nie schuldig gesprochen.

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