Ulrich Weidmann war schon vieles: glückloser Parteipräsident, gefragter Visionär. Nun wird er zum Berater des Bundesrats.
Im Jahr 2011 fährt ein Professor Tram und regt sich auf. «Viel zu langsam» seien die Fahrzeuge. Zentrale Orte in der Stadt Zürich seien «verstellt» durch Wagen und Geleise. «Hätten wir in den sechziger Jahren die Tiefbahn gebaut, dann hätten wir heute ein gutes, angemessenes System», grollt der Ordinarius.
Und weil er zufällig Professor für Verkehrssysteme ist, an der ETH Zürich, der Kaderschmiede des Landes, hat der Mann auch gleich eine Lösung parat: In der ganzen Innenstadt sollen die Trams unter den Boden gelegt werden. Für 2,5 Milliarden Franken.
Es ist nicht die erste grosse Vision von Ulrich Weidmann, heute 62. Und es wird auch nicht die letzte sein. Denn der Professor, der mit seinen Tram-Plänen einst die Zürcher Innenstadt verwandeln wollte, wurde soeben von Bundesrat Albert Rösti (SVP) auserkoren, sämtliche grossen Verkehrsprojekte des Landes zu überprüfen.
Das ist auch dringend nötig: Beim motorisierten Verkehr lehnte das Stimmvolk mit dem Autobahnausbau ein zentrales Projekt ab, bei der Bahn rechnet der Bund mit Mehrkosten von 14 Milliarden Franken. Nun müsse man ein einziges, übergreifendes Konzept für die Zukunft von Schiene und Strasse entwickeln, sagte Rösti am Dienstag.
Das Ziel: «aufzeigen, dass es alle Verkehrsträger braucht». Also nicht nur den Zug, sondern eben auch das Auto.
Ulrich Weidmann, der Visionär, soll diese strategisch geschickte Verbindung der Verkehrsträger nun ermöglichen, durch eine Gesamtschau, die dem Bundesrat im Herbst präsentiert werden soll. Und seinen «externen kritischen Blick», wie Rösti es formulierte.
Den Menschen messbar machen
Der Auftrag ist die Kulmination einer Karriere zwischen Wissenschaft, Staatsbetrieben und Politik, wie sie einst für die Schweiz typisch war, heute aber immer seltener wird. Ulrich Weidmann, Röstis neuer «Mr. Verkehr», hat eine Biografie, die ein Spiegelbild jenes Landes ist, das er nun mit seinem Verkehrskonzept zusammenhalten soll.
Ulrich Weidmanns Karriere beginnt – nach einer Jugend in Schwyz und Zürich-Höngg – dort, wo sie am Ende ihren Höhepunkt findet: an der ETH Zürich, wo er Ingenieurwissenschaften studiert. Seine Abschlussarbeit schreibt er über eine Umfahrungsstrasse, seine Dissertation über den «Fahrgastwechsel im öffentlichen Personenverkehr».
Weidmann will messbar machen, was Menschen im Alltag tun: beim Pendeln, beim Umsteigen, beim Zugfahren.
«Selbstverständlich ist der Kunde ein Mensch, mit allem, was dazugehört», hat er einmal in einem Radiointerview gesagt. «Wenn man sich aber ein öffentliches Verkehrssystem anschaut, wird er plötzlich zum Teil eines Produktionsprozesses.»
Während zehn Jahren widmet sich Weidmann nach seinem Studium dem Ölen dieses Prozesses – als Ingenieur und später Manager bei den SBB. Von dort wechselt er 2004 als Professor zurück zur ETH, wo er seither arbeitet. Der Mann mit dem «externen Blick» – er hat sein gesamtes Berufsleben in Zweigstellen der Bundesverwaltung verbracht.
Glückloser Politiker
Solche Karrieren, früher typisch für die ETH und andere Universitäten, sind heute immer seltener. Die Spitzenforschung und ihr Personal werden internationaler. Die enge Verzahnung zur nationalen Politik, das Hin und Her zwischen Hochschule und Verwaltung nehmen ab.
Weidmann dagegen hat seine Karriere in den Dienst urschweizerischer Institutionen gestellt. Er ist bis zum Vizepräsidenten der ETH Zürich aufgestiegen, wo er zuletzt im Zusammenhang mit propalästinensischen Protesten in Erscheinung trat.
«Die ETH Zürich ist keine Plattform für politischen Aktivismus», erklärte er vergangenes Frühjahr im Interview mit der eigenen Medienstelle. Der Verkehrstechniker war plötzlich mitten in einer heissen Politdebatte gelandet.
Das nicht zum ersten Mal: Schon Anfang der 1990er war Weidmann als Stadtparlamentarier und Zürcher CVP-Präsident aktiv. Damals versuchte er seine kriselnde Partei auf einen bürgerlichen Kurs zu trimmen – mit mässigem Erfolg.
1993 lancierte er gemeinsam mit SVP und FDP eine Kampfkandidatur für das Stadtpräsidium. Gleichzeitig verweigerte er dem als zu links geltenden CVP-Stadtrat Willy Küng die Unterstützung zur Wiederwahl. Küng gelang sie dennoch, die Kampfkandidatur scheiterte. Und bald verliess Weidmann die politische Bühne wieder.
Die Bahn der Zukunft
Als Professor trat Weidmann in zwei sehr unterschiedlichen Rollen auf: einerseits als Visionär, andererseits als Pragmatiker.
Ins erste Genre fällt seine Idee für die unterirdischen Zürcher Trams. In der Zeitschrift «Hochparterre» lanciert, wurde sie von den zuständigen Behörden nie ernsthaft erwogen. Und das, obwohl der Initiator bereits einen eigenen Linienplan mit Tunneleingängen skizziert hatte.
Ein zweiter, weniger phantastischer Teil der Idee ist aber gerade daran, Realität zu werden. Weidmann argumentierte nämlich – ganz oberirdisch – auch für eine Verlängerung der Zürcher Tramlinien in die Agglomeration. Genau das also, was im Limmat- und Glatttal unterdessen geschehen und mit dem Tram Affoltern geplant ist.
Auch wenn es um Züge ging, hatte Weidmann grosse Ideen. 2004 trat er in einer launigen Sendung des Schweizer Fernsehens auf. Aus einem historischen Zugwagen steigend verkündete er, die Zukunft des europäischen Zugnetzes liege möglicherweise in futuristischen Schnellbahnen, die ganz ohne Gleise auskämen.
Die Idee: «ein transeuropäisches Netz auf Basis von Magnetschwebebahnen». Der Titel der Sendung lautete: «Die Bahn der Zukunft».
Von St. Gallen zum Gotthard
Als Pragmatiker trat Weidmann auf, wenn es um konkrete Verkehrsvorhaben ging. Etwa die Umgestaltung des Berner Hauptbahnhofs, die er als zu teuer kritisiert. Oder die milliardenschwere Vorlage zu Finanzierung und Ausbau der Bahninfrastruktur von 2014.
Dort störte sich der Professor an allzu regionalem, kleinteiligem Denken in der Verkehrsplanung. Und auch an der Zürich-Fokussierung des Deutschschweizer Bahnnetzes. Eine direkte Verbindung von Winterthur nach Basel oder von St. Gallen in den Gotthard müsse geprüft werden, sagte Weidmann – wieder ganz Visionär – der NZZ.
Er plädierte ausserdem dafür, die Vorteile aller Verkehrsträger anzuerkennen. «Das Auto ist flexibel, die Bahn hat einen geringen Flächenverbrauch und kann doppelt so schnell sein», sagte er. Eine Haltung, die zu Verkehrsminister Röstis Vorhaben passen dürfte, den Ausbau von Schiene und Strasse gemeinsam zu planen – und damit mehrheitsfähig zu machen.
«Niemand scheint sich noch wirklich für die nationale Perspektive verantwortlich zu fühlen», sagte Ulrich Weidmann 2014.
Nun, über zehn Jahre später, kann er im Auftrag des Bundesrats genau diese Perspektive entwerfen. Weidmann darf dabei endlich beides zugleich sein: Visionär und Pragmatiker, Forscher und – wenigstens ein bisschen – auch politischer Akteur.