Freitag, Oktober 4

Greil Marcus zählt zu den bedeutendsten Beobachtern der amerikanischen Kultur und Politik. Den Wahlkampf beobachtet er mit Skepsis. Amerika sei demokratiemüde und verlange nach einem Einzelnen, der für alle entscheide.

Ausgerechnet er, der in den Mittsechzigern durch die «Free Speech»-Bewegung seiner Universität politisiert wurde, der in Gesprächen intensiv argumentiert und widerspricht und der sein ganzes Berufsleben lang den Stimmen anderer zuhörte – ausgerechnet Greil Marcus wünschte sich vor der Debatte, sie möge nicht stattfinden.

«Kamala Harris sollte nicht mit Donald Trump debattieren», sagt der amerikanische Politologe. Weil sie damit einen Gegner legitimiere, der blosse Verachtung für das Amt zeige, das er gleichzeitig suche. Und der seine demokratische Rivalin mit rassistischen und sexistischen Beschimpfungen verhöhne. «Mit Trump zu reden, bedeutet, ihm eine moralische Gleichberechtigung zuzugestehen, die er nicht verdient.» Das antwortet Greil Marcus in einer Mail auf die Frage, wie er den laufenden Wahlkampf zur amerikanischen Präsidentschaft wahrnehme.

«Trump ist ein Tribun der Verachtung»

Marcus, 79 Jahre alt, wurde in San Francisco geboren, er studierte in der Nachbarstadt Berkeley Politologie und Anglistik, dozierte in New York und anderswo, trat oft in Europa und in der Schweiz auf und schrieb über dreissig Bücher. Diese handeln von Musik, Film, Literatur, Medien, Trash und Populärkultur. Weltberühmt wurde der Autor dank «Mystery Train», seiner Analyse amerikanischer Mythen im Rock’n’Roll. Er hat sich aber auch mit europäischer Geschichte und Kultur befasst, etwa mit dem Einfluss der Dadaisten auf das 20. Jahrhundert bis hin zu Punk. Und er äussert sich oft zur Politik seiner amerikanischen Heimat.

Warum aber hält er es für einen Fehler, dass Kamala Harris sich nun zur ersten und womöglich einzigen Debatte mit Donald Trump trifft? Dass die Debatte wichtig ist, zeigt sich schon daran, dass die Wahlkampfteams beider Seiten denken, sie könnte die Präsidentschaftswahl vorentscheiden.

Trumps grösster Gegner dürfte er selber sein. Seit dem Attentat auf ihn, das ein posttraumatisches Stresssymptom bewirkt haben könnte, vor allem aber seit Joe Bidens Verzicht und Harris’ Kandidatur wirkt der Republikaner bei Auftritten so, als taumle er durch den eigenen Wahlkampf. Harris wiederum hat sich auch vor dem kürzlichen Interview mit CNN immer noch nicht politisch positioniert. Zudem klang sie in ihren Antworten auf die braven Fragen des Senders formelhaft, als wisse sie selber nicht, wofür sie stehe.

Die Debatte mit ihrem Gegner abzusagen, hätte sich Kamala Harris nicht leisten können. Man hätte es ihr mit Recht als Feigheit und Angst vor unangenehmen Fragen ausgelegt. Es hätte katastrophale Folgen für ihren Wahlkampf gehabt. Trotzdem findet Greil Marcus, mit Trump zu diskutieren, bringe ihr nichts.

Jede Auseinandersetzung mit dem Republikaner, den er einen «Tribun der Verachtung» nennt, würde bloss seine Fans darin bestätigen, dass er der Auserwählte sei, gekommen, um Amerika zu retten. «Was auch immer er sagt, vergrössert die Bewunderung derer, die ihn als gottgleiche Figur wahrnehmen, als Verkörperung der Freiheit schlechthin.» Und obwohl Trump gelogen und gestohlen habe, weder seine Steuern noch seine Schulden bezahlt und sogar Staatsverrat begangen habe, könne ihm keine Kritik etwas anhaben.

Greil Marcus sorgt sich auch um die Demokratie seines Landes. Donald Trump und seine auf ihn hin gesäuberte Partei zielten auf die Installierung einer Diktatur, schreibt er. Und selten noch sei die Sehnsucht von Amerikanern nach einer solchen dermassen gross gewesen wie jetzt. Ein beträchtlicher Teil Amerikas habe die Bürde der Demokratie niemals akzeptiert: als Engagement für die Wahl einer Moral; als Mut, eine Haltung zu verteidigen. «Dieses Amerika verlangt nach einem Einzelnen, der für alle entscheidet. Und hat mit Trump einen gefunden, der ihm diese Entscheide verspricht.»

Als lebe er ausserhalb der Gesetze

Dass die Amerikanerinnen und Amerikaner und ihr oberstes Gericht einen Trump als Diktator akzeptieren würden, ist schwer vorstellbar. Aber in einem entscheidenden Punkt hat Greil Marcus recht: Weder die Recherchen von Zeitungen noch die Konfrontationen von Fernsehstationen, keine Demonstration und kein Enthüllungsbuch, keine politischen Gegner und nicht einmal die amerikanischen Gerichte konnten Donald Trump etwas anhaben. Schon während seines ersten Wahlkampfs verhielt er sich so, als lebe er ausserhalb der Gesetze.

Im Sommer 2016, kurz vor der Nominierung Trumps zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten, hatte Greil Marcus den Politiker bereits mit Ubu roi verglichen – der Figur eines Theaterstücks von Alfred Jarry. Der französische Dramatiker hatte den Typ des feigen, gierigen und rücksichtslosen Regenten so drastisch karikiert, dass die Uraufführung des Stücks 1896 in Paris einen Skandal auslöste. Ubu und Trump lebten eine «Lust an der Zerstörung» aus, fand Marcus. So einen wie Trump als Präsidenten habe es in der amerikanischen Geschichte noch nie gegeben, «und es haben sich mehrere beworben».

Mit seinem Hinweis auf Jarry deutete Marcus an, was er in einem eben veröffentlichten Essay detaillierter ausführt: dass er die Kultur als Echoraum der Gesellschaft wahrnimmt und das Schreiben als Ausdruck von Identität. «What Nails it» heisst der Essay, der selber vom Schreiben handelt: Was macht einen Text niet- und nagelfest? Greil Marcus mag der Ansicht sein, dass das Argumentieren manchmal das Gegenteil einer ursprünglichen Absicht bewirkt. Aber wie sein kraftvoller neuer Text belegt, hat er das Vertrauen in die Deutungsmacht der Sprache nicht verloren.

Marcus hat «What Nails it» seiner Tochter Emily gewidmet, die im Januar 2023 nach langer Krebskrankheit starb. Dass er jetzt einen Text über das Schreiben veröffentlicht, lässt sich so gesehen als Bewältigungsversuch und Selbstvergewisserung lesen. «I write for the play of words. I write to discover what I want to say and how to say it», schreibt er zu Beginn seines Textes; er schreibe aus dem Spielen mit Worten heraus – um herauszufinden, was er sagen wolle und wie.

Autoren können nicht anders

Je länger man in seinem Essay liest, desto besser versteht man, warum dieser Autor überhaupt schreibt: Es handelt sich um einen psychologischen Zwang. «Writers write. They cannot help it.» Autoren können nicht anders. Darum können sie auf das Schreiben ebenso wenig verzichten wie auf das Atmen. Darum gibt es für den Schreiber auch keine Pensionierung. Nur der Tod der Tochter konnte die Schreibarbeit des Vaters vorübergehend unterbrechen.

Wie es sich für einen intellektuell grosszügigen Autor wie Greil Marcus gehört, erzählt er aber weit weniger von seinem eigenen Schreiben als von denen, die ihn dazu inspirierten. Als erste Autorin nennt er die Filmkritikerin Pauline Kael (1919–2001), die mit ihren radikal subjektiven, geistreich formulierten, von reichen Assoziationen belebten Rezensionen früh schon auffiel, um sich dann als eine der wichtigsten Kritikerinnen Amerikas zu etablieren. Und was Marcus beim Lesen ihrer Anthologie «I Lost It at the Movies» von 1965 erst schockierte und dann verführte, gilt auch für sein eigenes Schreiben: «Sie lebte das rückhaltlose Engagement einer Autorin für ihre Themen.»

Greil Marcus: «What Nails It.» New Haven: Yale University Press.

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