Mittwoch, November 6

Schaffen es die EU und die Schweiz, den bilateralen Weg fortzusetzen? Brisante Fragen sind noch offen. Der Bundesrat definiert am Mittwoch den Spielraum.

Die EU macht Druck, die Schweiz schweigt. Daran dürfte sich auch an diesem Mittwoch nichts ändern. Der Bundesrat soll an seiner regulären Sitzung eine weitere – wenn alles nach Plan läuft: die letzte – Standortbestimmung zu den laufenden Verhandlungen mit Brüssel vornehmen. Dass danach Bundespräsidentin Viola Amherd oder Aussenminister Ignazio Cassis vor die Medien tritt, um laut und deutlich den Standpunkt der Schweiz zu erklären, ist nicht geplant. Zu erwarten ist eine nüchterne schriftliche Stellungnahme.

Die Kommunikation im EU-Dossier soll an der Sitzung ebenfalls ein Thema sein. Für den Bundesrat ist sie eine ständige Gratwanderung: Man will weder die eigene Verhandlungsposition gefährden noch Verträge verteidigen, die noch nicht fertig verhandelt sind. Gleichzeitig überlässt der Bundesrat damit das Feld den Gegnern. Dabei dürfte es vorerst auch bleiben. In die Offensive gehen wollen der Aussenminister und seine Kollegen erst nach Abschluss der Verhandlungen, frühestens Ende Jahr, realistischerweise eher im Frühjahr 2025.

Diesen Mittwoch will der Bundesrat die Weichen für die Schlussphase der Verhandlungen stellen. Vor allem geht es darum, den Spielraum für die verbleibenden Streitpunkte zu definieren. Davon gibt es etliche, was aber nicht erstaunlich ist. In den Verhandlungen geht es schlechterdings um alles: um die Zukunft des bilateralen Wegs, den die Schweiz und die EU vor 25 Jahren als Alternative zum EWR eingeschlagen haben.

Ein Mammutprojekt

Das Spektrum der Gespräche ist enorm, die Verhandlungen erfassen grundverschiedene Themen wie Zuwanderung, Handel, Lohnschutz, Forschung, Stromversorgung, Lebensmittelsicherheit, Pandemievorsorge oder internationalen Bahnverkehr. Hinzu kommen die fundamentalen Streitfragen um die Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz sowie die geplante juristische Streitschlichtung.

Schon nur organisatorisch sind die Verhandlungen ein Mammutprojekt. Auf Schweizer Seite gibt es 14 thematische Verhandlungsteams mit Fachleuten aus praktisch allen Ecken der Bundesverwaltung. Das einzige der sieben Departemente, das nicht involviert ist, ist jenes von Verteidigungsministerin Amherd.

Am Mittwoch im Bundesrat wird es vor allem um die Streitfragen gehen, die noch nicht geklärt sind. Dabei handelt es sich laut gut informierten Quellen insbesondere um diese:

  • Zuwanderung. Die Schweiz pocht auf eine Schutzklausel, die es in Ausnahmefällen erlauben würde, die Personenfreizügigkeit vorübergehend einzuschränken. Entgegen der scharfen Rhetorik mancher EU-Exponenten laufen die Verhandlungen darüber weiter. Allerdings ist auch in Bern zu hören, dass es naiv wäre, eine «harte» Klausel mit fixen Obergrenzen zu erwarten. Ziel des Bundesrats ist eine «Konkretisierung» der heutigen Schutzklausel, die relativ schwammig ist und Massnahmen nur erlaubt, wenn auch die EU zustimmt. Dass die EU der Schweiz erlaubt, die Zuwanderung einseitig einzuschränken, gilt als unrealistisch. Denkbar wäre eine Klausel mit einer Art Schiedsgerichtsverfahren. Sicher ist nur, dass das Thema innenpolitisch angesichts der starken Zuwanderung der jüngsten Jahre eine zentrale Rolle spielen wird.
  • Daueraufenthalt. Die EU verlangt nicht mehr die integrale Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, was zu einer markanten Ausweitung der Freizügigkeit geführt hätte. So kann die Schweiz zum Beispiel an ihren Regeln zur Ausschaffung straffälliger Ausländer festhalten. Schwierig bleibt es trotzdem. Vor allem sollen neu grundsätzlich alle EU-Bürger nach fünf Jahren Erwerbsarbeit in der Schweiz ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht erhalten. Das wäre vor allem für Personen aus Staaten im Osten der EU ein Vorteil. Offenbar noch nicht klar ist, was genau gilt, wenn jemand vor Ablauf dieser fünf Jahre arbeitslos wird. In den Sondierungen wurde vereinbart, dass die Schweiz Phasen mit Sozialhilfebezug an die fünf Jahre anrechnen muss, aber nur, wenn sie nicht länger als sechs Monate dauern.
  • Hochschulen. Am Anfang der Gespräche verlangte die EU, dass die Schweiz ihre Hochschulen komplett öffnet und die Studierenden in die Personenfreizügigkeit einbezieht. Von dieser Maximalposition soll sie mittlerweile abgerückt sein. Doch auch so bleibt das Thema brisant. Zulassungsbeschränkungen sollen zwar weiterhin möglich sein, nicht aber unterschiedlich hohe Gebühren. Ein unmittelbares Problem wäre dies für die Universitäten in St. Gallen und im Tessin, die heute von Studenten aus dem Ausland deutlich höhere Gebühren verlangen. Die ETH haben unlängst unter politischem und finanziellem Druck beschlossen, ebenfalls ein solches Regime einzuführen. Wenn dies wegen der EU nicht mehr möglich wäre, müssten entweder Schweizer Studenten ebenfalls mehr bezahlen. Oder die Hochschulen hätten ein Finanzloch. In diesem Fall müssten wohl die Kantone oder der Bund in die Bresche springen und höhere Beiträge sprechen. Das wäre zwar möglich, würde aber die politische Attraktivität des Pakets sicher nicht verbessern. Denkbar ist indes, dass die Schweiz bei den Studierenden Konzessionen macht und ihr die EU im Gegenzug eine bessere Schutzklausel zugesteht.
  • Spesen. Politisch ähnlich aufgeladen wie die Zuwanderung – einfach mit anderen parteipolitischen Vorzeichen – ist das Thema Lohnschutz. Hier sind die wichtigsten Eckwerte klar. Insbesondere konnte Bern eine «Non Regression»-Klausel aushandeln: Die Schweiz ist davon entbunden, EU-Recht zu übernehmen, das den hiesigen Lohnschutz schwächen würde. Allerdings gibt es einen Streitpunkt, bei dem die EU bis jetzt offenbar alle Kompromisse abblockt: die Spesen. In der EU schulden Arbeitgeber ihren Angestellten bei Einsätzen in anderen Ländern dieselben Spesen wie im Heimatland. Diese Regel ist objektiv fragwürdig – für ein Land mit derart hohen Löhnen und Preisen wie die Schweiz erst recht. Zwar wäre kaum mit vielen heiklen Fällen zu rechnen, weil hierzulande primär Betriebe aus Nachbarstaaten tätig sind. Dennoch eignet sich das Thema für die Gewerkschaften, um Druck zu machen. Sie monieren, es dürfe nicht sein, dass in der Schweiz polnische Spesen bezahlt würden.
  • Kohäsionsbeitrag. Zurzeit bezahlt die Schweiz verteilt über zehn Jahre rund 1,3 Milliarden Franken an wirtschaftlich schwächere EU-Staaten. Das Geld geht nicht an die EU-Zentrale in Brüssel, sondern fliesst direkt in Projekte und Programme in Ländern wie Polen, Ungarn oder Rumänien. Bis anhin ist der Beitrag formell freiwillig und erfolgt nur sporadisch. Die EU verlangt eine Erhöhung und eine Verstetigung. Dass der Bundesrat am Mittwoch bereits eine absolute Obergrenze festlegt, ist nicht zu erwarten. Der genaue Betrag dürfte erst ganz am Ende der Verhandlungen auf politischer Ebene vereinbart werden. Er hängt auch davon ab, welche Partei bei den anderen Streitpunkten wie stark nachgibt. Manche sehen den finanziellen Beitrag als Ventil, um am Ende ein Gleichgewicht herzustellen.
  • Reservekraftwerke. Teil des neuen Verhandlungspakets ist auch ein neues Stromabkommen, bei dem die Schweiz als Bittstellerin auftritt. Hier ist laut Involvierten ein Grossteil der Fragen geklärt. Umstritten ist jedoch, ob die Schweiz weiterhin in Eigenregie und nach eigenem Gutdünken über den Aufbau von Reservekraftwerken entscheiden könnte. Dass solche weiterhin möglich sind, steht ausser Frage. Unklar ist jedoch, ob die Schweiz selbst festlegen könnte, in welchem Ausmass sie eingesetzt werden sollen. Je nachdem drohen Konflikte mit dem europäischen Beihilferecht. Geklärt ist hingegen ein potenziell gravierender Streitpunkt: Privathaushalte sollen nicht gezwungen werden, in den freien Markt zu wechseln. Stattdessen soll ein Wahlmodell gelten, das den Verbleib in der Grundversorgung erlaubt.
  • Innenpolitische Kompensationen. Alle bisherigen Streitpunkte müssen der Bundesrat und seine Unterhändler mit der EU klären. Daneben gibt es aber auch innenpolitisch viel zu tun. Das umfangreiche Paket führt dazu, dass zahlreiche Gesetze und Verordnungen geändert und vereinzelt neu geschaffen werden müssen. Auch diese Arbeiten laufen im Hintergrund bereits auf Hochtouren. Dabei geht es nicht nur um die technische Umsetzung, sondern auch um politische Kompensationen. Im Zentrum steht der Arbeitsmarkt: Gewerkschaften, SP und Grüne verlangen inländische Verschärfungen, weil aus ihrer Sicht die neuen Vereinbarungen mit der EU den Lohnschutz schwächen würden. Der grösste Streitpunkt betrifft die Gesamtarbeitsverträge: Die Linke verlangt, dass diese einfacher als bisher für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Die Wirtschaft lehnt dies vehement ab, sie sieht darin eine weitere Schwächung des flexiblen Arbeitsmarkts. Die Gewerkschaften drohen, das Paket zu bekämpfen – wenn es keine inländischen Massnahmen gibt, erst recht.

So weit, so schwierig. Angesichts der vielen Streitfragen, bei denen die EU der Verhandlungslogik folgend nicht überall nachgeben wird, drängt sich eine banale Frage auf: wozu das alles? Ob die Befürworter darauf eine überzeugende Antwort geben können, dürfte entscheidend sein. Bis jetzt fällt es ihnen schwer, zumal der Handlungsdruck fehlt. Ausserhalb der Hochschulen und einiger Exportbranchen, die unter den politischen Druckversuchen der EU leiden, sind heute kaum akute Probleme spürbar.

Das macht es für die Befürworter knifflig. Sie sprechen davon, dass die Schweiz geklärte Verhältnisse mit der EU brauche, dass sie ohne dieses Paket in eine Beziehungskrise schlittere, dass vom Handel über die Forschung bis zum Stromnetz konkrete Nachteile drohen würden. Ob die Schweiz bereit ist, einen solchen Preis zu bezahlen, um mögliche Risiken abzuwenden? Das Volk hat es in der Hand. Falls Bundesrat und Parlament das Paket gutheissen, wird es am Ende eine Urnenabstimmung geben. Sie könnte frühestens 2026 stattfinden.

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