Sonntag, September 8

Bereits Mitte März soll Bundespräsidentin Viola Amherd nach Brüssel reisen, um die Verhandlungen zu eröffnen. Das umstrittene Stromabkommen bleibt Teil des Pakets. Bei der Personenfreizügigkeit und der Streitschlichtung setzt sich der Bundesrat höhere Ziele.

Faktisch gibt es schon länger kein Zurück mehr. Nun ist die Sache definitiv entschieden: Nach den innenpolitischen Konsultationen der letzten Wochen hat der Bundesrat am Freitag das Mandat für die neuen Verhandlungen mit der EU formell verabschiedet. Aussenminister Ignazio Cassis und die involvierten Staatssekretäre treten um 15 Uhr vor die Medien, um den Entscheid zu erläutern.

08.03.2024 - le conseiller fédéral Ignazio Cassis sur le mandat de négociation avec l'UE

Nach dem Entscheid des Bundesrats soll die erste Verhandlungsrunde noch diesen Monat stattfinden. Geplant ist, dass die Bundespräsidentin Viola Amherd Mitte März nach Brüssel reist, um gemeinsam mit der EU-Kommission-Präsidentin Ursula von der Leyen die Gespräche zu eröffnen, die das ersehnte Ende der bilateralen Beziehungskrise bringen sollen.

Das Ziel ist dasselbe wie seit über zehn Jahren, so lange schon sind die immergleichen Streitfragen offen: Die Schweiz möchte ihr spezielles Verhältnis zur EU – den «bilateralen Weg» – absichern und weiterführen. Brüssel ist dazu aber nur bereit, wenn die grundlegenden Spielregeln verschärft werden. Die EU verlangt die Einführung eines paritätisch zusammengesetztes Schiedsgerichts, damit Streitfälle künftig rechtlich verbindlich geklärt werden können. In der Schweiz stösst vor allem die Rolle, die der Europäische Gerichtshofs (EuGH) bei der Streitschlichtung spielen soll, auf breiten Widerstand.

Hinzu kommt die Rechtsübernahme: Die Schweiz soll sich verpflichten, in allen Abkommen, die eine Teilnahme am Binnenmarkt der EU erlauben, neues EU-Recht fortan grundsätzlich zu übernehmen. Sollte sie dies verweigern, was weiterhin möglich wäre, könnte Brüssel Gegenmassnahmen verhängen. Denkbar wären primär wirtschaftlich schmerzhafte Schritte wie Zölle oder andere Handelshemmnisse. All diese Massnahmen müssten jedoch verhältnismässig sein. Ob sie das sind oder nicht, würde das Schiedsgericht abschliessend entscheiden, ohne Einbezug des EuGH.

Schweiz will Schutz vor übertriebenen Gegenmassnahmen

Genau hier hat der Bundesrat am Freitag nachgebessert, als Reaktion auf mehrere Rückmeldungen aus den Konsultationen. Gegenüber dem Entwurf des Verhandlungsmandats hat er eine wesentliche Bedingung hinzugefügt, die das Paket hierzulande erträglicher machen sollen: Falls die Schweiz die Rechtsübernahme tatsächlich einmal verweigern sollte, dürfte die EU allfällige Gegenmassnahmen nicht sofort ergreifen, sondern erst, wenn das Schiedsgericht darüber entschieden hat.

Die Schweiz könnte somit in einem Streitfall an das Schiedsgericht gelangen, damit dieses die Verhältnismässigkeit beurteilen muss. Dieser Schritt hätte aufschiebende Wirkung. Damit wäre ausgeschlossen, dass die EU die Schweiz mit Massnahmen drangsalieren kann, die sich nachträglich rechtlich als übertrieben herausstellen. Die Schweizer Unterhändler müssen nun versuchen, diese zusätzliche Absicherung am Verhandlungstisch durchzusetzen.

Hingegen hat der Bundesrat in einem anderen umstrittenen Punkt darauf verzichtet, das Mandat anzupassen: Im Inland verlangten breite Kreise, dass Gegenmassnahmen immer nur innerhalb des Abkommens erlaubt sein sollen, um das sich der konkrete Streit dreht. Das würde die Rechtssicherheit gerade für die Wirtschaft, namentlich für die Bauern, erhöhen. Sie müssten nicht befürchten, mit Nachteilen konfrontiert zu werden, wenn die Schweiz zum Beispiel bei der Personenfreizügigkeit eine Rechtsübernahme verweigert.

Diese Forderung hat der Bundesrat jedoch nicht übernommen – mutmasslich, weil er davon ausgeht, dass die EU dazu nicht Hand bieten würde. Somit bleibt es dabei: Gegenmassnahmen sind immer in allen Binnenmarktabkommen zulässig.

Strom: Grundversorgung als Standard

Ohnehin hat der Bundesrat nach der Konsultation keine grösseren Korrekturen vorgenommen. An den Eckwerten des Pakets hat sich nichts geändert. Vor allem verzichtet er darauf, das geplante Stromabkommen, das auf unerwartet grosse Skepsis gestossen ist, aus dem Paket zu entfernen oder zu redimensionieren. Hingegen betont er deutlicher als bisher, dass Privathaushalte und kleinere Firmen weiterhin trotz Liberalisierung in der Grundversorgung bleiben können. Dies soll neu sogar als Standard definiert werden.

Auch in anderen Bereichen ist der Bundesrat bestrebt, mit Klärungen und deutlicheren Formulierungen die im Inland kursierenden Bedenken und Ängste zu entkräften. Dies gilt zum Beispiel für den internationalen Bahnverkehr, die Landwirtschaft, den Lohnschutz oder das Freihandelsabkommen, das explizit nicht Teil des Pakets sein soll.

Interessant ist eine weitere Korrektur beim Thema Zuwanderung, die innenpolitisch entscheidend sein könnte. Das Abkommen zur Personenfreizügigkeit sieht schon heute vor, dass bei «schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» in einem Land «Abhilfemassnahmen» zur Einschränkung der Zuwanderung möglich sein sollen. Bisher ist dieser Passus aber so abstrakt formuliert, dass er folgenlos geblieben ist. Nun nimmt sich der Bundesrat vor, dass seine Unterhändler den Mechanismus konkretisieren sollen, um ihn anwendbar zu machen.

Entscheid schon 2026?

fab. Sobald auch die EU ihr Mandat verabschiedet hat, können die Verhandlungen voraussichtlich Mitte März beginnen. Beide Seiten wollen die Verhandlungen noch bis Ende Jahr beenden. Doch auch danach bleibt viel zu tun: Falls der Bundesrat das Verhandlungsergebnis gutheisst, muss er gleichzeitig die innenpolitische Umsetzung vorbereiten. Das Paket dürfte neben den neuen oder geänderten Verträgen mit der EU mehrere inländische Gesetzesreformen umfassen.

Sobald der Bundesrat dies alles verabschiedet hat, ist das Parlament am Zug. Sein Spielraum ist begrenzt: Die internen Gesetzesprojekte kann es anpassen, die Verträge mit der EU nicht. Dazu können National- und Ständerat nur Ja oder Nein sagen. Sie müssen auch klären, ob sie den Gewerkschaften mit Verschärfungen im Schweizer Arbeitsmarkt entgegenkommen wollen, damit die Linke geschlossen an Bord ist. Falls das Parlament das Paket gutheisst, folgt die Volksabstimmung. Offen ist, ob auch ein Ständemehr nötig sein wird.

Ein offizieller Zeitplan liegt nicht vor. Denkbar ist, dass die Parteipolitik einmal mehr einwirkt: SP, FDP und Mitte könnten versucht sein, das umstrittene Projekt von den Wahlen 2027 fernzuhalten. So gesehen, müsste es entweder überraschend schnell gehen: Parlamentsdebatte 2025, Volksabstimmung 2026. Oder aber es dauert deutlich länger: Parlament 2028, Volk 2029. 

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