Grosse Unternehmensverbände fordern einen Kurswechsel in der Schweizer Wirtschaftspolitik – mit Entlastungen statt laufenden Zusatzbelastungen. Doch dafür fehlt es zurzeit wohl am Krisenbewusstsein im breiten Publikum.
Krisen liefern in der Politik auch Chancen. Zu den gängigen Rhetorikübungen von Parteien und Lobbyisten in schwierigen Zeiten gehört etwa folgende Botschaft: «Was wir schon seit langem fordern, ist nun besonders wichtig.» Als ob Russlands Krieg in Europa und Chinas Aggressionen in Asien nicht schon schlimm genug wären: Die neue US-Regierung unter Trump II hat heuer mit ihren Zolleruptionen und der rhetorischen Verabschiedung von internationalen Regeln und Gremien auch noch die westliche Welt gespalten und die bis anhin noch halbwegs liberale Wirtschaftsordnung grundlegend in Frage gestellt.
Das genügt als Qualifikation für den Begriff «Krise», doch das Krisenbewusstsein ist im breiten Publikum in der Schweiz noch kaum angekommen. Der Wohlstand fällt hierzulande allem Anschein nach immer noch kraft der Naturgesetze vom Himmel. Grosse Schweizer Wirtschaftsverbände haben diesen Montag vor den Medien in Bern einen «Weckruf» für den Standort Schweiz lanciert. Die Grundbotschaft der Verbände geht etwa wie folgt: Statt der laufenden Mehrbelastungen der Wirtschaft durch Ausbau von Sozialstaat und Regulierungen sei der Standort zur Sicherung des künftigen Wohlstands zu stärken.
Expertengruppe für Standortpolitik?
Absender der Botschaft sind der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der Arbeitgeberverband sowie die Branchenverbände der Maschinenindustrie (Swissmem) und der Versicherungen. Die Verbände fordern, dass der Bund eine Expertenkommission mit Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Behörden für eine Gesamtschau zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts einsetzt – etwa nach dem Muster der Expertengruppe Gaillard für die Bundesfinanzen.
Die von den Verbänden präsentierte Liste mit möglichen Massnahmen enthält im wesentlichen eine Sammlung von seit längerem bekannten Forderungen. Dazu zählen etwa: der Ausbau des Schweizer Netzes von Handelsabkommen (zum Beispiel Lateinamerika, Vietnam und China als Stichworte); ein Regulierungsmoratorium (zum Beispiel Verzicht auf staatliche Investitionskontrolle, auf einen Ausbau der Nachhaltigkeitsberichterstattung der Firmen und auf weitere Einschränkungen des noch einigermassen liberalen Arbeitsmarkts); der rasche Ausbau der Stromproduktion; möglichst geringe Einschränkungen innovativer Technologien wie etwa Gentech und künstliche Intelligenz; Vereinfachungen der Baubewilligungsverfahren; Verzicht auf weitere Erhöhungen der Lohnabzüge für die AHV und andere Sozialversicherungen.
Für Finanzpaket – und doch dagegen
Die Forderungen der Verbände enthalten auch Widersprüchlichkeiten, die nach Fünfer-und-Weggli-Politik riechen. So sprechen sich die Wirtschaftsverbände im Sinn der «Opfersymmetrie» für den «Paketansatz» des Bundesrats zur Entlastung der Bundeskasse aus: Ja zum Gesamtpaket, so dass nicht verschiedenste Lobbyisten ihre eigenen Hobbys verteidigen und damit in der Summe die Entlastungsvorlage versenken. Gleichzeitig kämpfen die Wirtschaftsverbände aber trotzdem für eines ihrer eigenen Hobbys: Sie lehnen die vom Bundesrat vorgeschlagene Reduktion der Steuerprivilegien für hohe Kapitalbezüge aus der zweiten und dritten Säule der Altersvorsorge ab.
Auf Rückfrage war am Montag folgende «Begründung» für diesen Widerspruch zu hören: Der Bund habe kein Einnahmenproblem, sondern ein Ausgabenproblem, und zudem führten schon umgesetzte oder geplante Erhöhungen von Steuern und Abgaben zu Zusatzbelastungen von über 7 Milliarden Franken pro Jahr. Deshalb solle sich das nun diskutierte Entlastungsprogramme auf die Ausgabenseite beschränken. Die FDP hat am Montag das Referendum gegen das Entlastungspaket angedroht für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass die Reduktion der genannten Steuerprivilegien im Paket bleiben. Economiesuisse würde laut eigenen Angaben dieses Referendum unterstützen.
Die Wirtschaftsverbände begrüssten ausdrücklich, dass der Bundesrat im Rahmen des Entlastungspakets den Automatismus beim jährlichen Anstieg des direkten Bundesbeitrags für die AHV etwas lockern will. Gleichzeitig fordern die Wirtschaftsverbände aber, dass die Lohnabzüge für die AHV nicht weiter steigen sollen. Wenn der direkte Bundesbeitrag zur AHV weniger stark steigt als bisher vorgesehen, führt dies vermutlich früher oder später zu zusätzlichen Lohnabzügen oder zu erhöhten Bundessubventionen via Mehrwertsteuer. Im Prinzip gäbe es hier eine elegante Lösung des Widerspruchs: Die Reduktion der Bundessubventionen für die AHV wird kompensiert durch ein höheres ordentliches Rentenalter. Aus volkswirtschaftlicher Sicht und gemessen an der Generationengerechtigkeit wäre dies zwar naheliegend, doch die Mehrheitsfähigkeit ist höchst unsicher.
Nicht dabei in der Allianz der Wirtschaftsverbände war am Montag der Gewerbeverband. Dies liegt laut Verbandsangaben an Differenzen beim Entlastungspaket. Der Gewerbeverband kämpft dort gegen gewisse Ausgabenkürzungen, namentlich bei der Berufsbildung. Im Gegenzug fordert der Gewerbeverband eine stärkere Ausgabenkürzung beim Bundespersonal.
Zweifel an Reformfähigkeit
Im Europadossier halten sich die Wirtschaftsverbände noch zurück, bis die Details des ausgehandelten Dachvertrags Schweiz-EU und der neuen Bereichsabkommen publiziert werden. Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder nennt im Gespräch eine für ihn zentrale Frage: Ist der Anwendungskreis für die vorgesehene Übernahme von künftigen EU-Rechtsänderungen durch die Schweiz wirklich auf die vom Bund umschriebenen Rechtserlasse beschränkt, oder sei dieser Kreis viel grösser, wie Gegner behaupteten? Ob die Publikation des Vertragstexts Klarheit dazu schaffen wird, muss sich erst noch zeigen.
Swissmem-Präsident Martin Hirzel nennt im Gespräch die vier für seine Branche wichtigsten Elemente der diskutierten EU-Verträge – in dieser Reihenfolge: Erhalt der Personenfreizügigkeit; voller Zugang zum EU-Forschungsprogramm; Stromabkommen; gegenseitige Anerkennung von Produktezertifizierungen.
Economiesuisse-Chef Mäder relativierte derweil im Gespräch die Bedeutung des Europadossiers: «Meine grösste Sorge ist, dass die Schweiz nicht mehr zu grossen Reformen fähig ist. Das ist viel fundamentaler als die Frage der EU-Verträge.» Grössere Reformen der Wirtschaftspolitik im Sinn einer Standortstärkung sind wohl erst bei einer Rezession mit starker Zunahme der Arbeitslosigkeit mehrheitsfähig – wenn es den Bürgern wieder dämmert, dass der Wohlstand zuerst verdient werden muss, bevor man ihn verteilen kann.
Im Zollnebel
Als Reformbeschleuniger in vielen Ländern könnte sich die US-Regierung entpuppen. Die Schweizer Wirtschaftsverbände unterstützten den generellen Kurs des Bundesrats im Umgang mit der USA zur Vermeidung hoher Zusatzzölle: den Beitrag der Schweiz zur US-Volkswirtschaft deutlich machen, nicht mit eigenen Drohungen provozieren, zusätzliche Investitionen von Schweizer Unternehmen in den USA in Aussicht stellen. Umfragen bei hiesigen Unternehmen deuteten dem Vernehmen nach auf ein realistisches Potenzial von etwa 150 Milliarden Franken Investitionen für die kommenden fünf Jahre. Das dürfte mehrheitlich schon seit einiger Zeit geplante Vorhaben betreffen.
Hemmschwellen für neue Investitionen in den USA sind laut Schweizer Wirtschaftsvertretern vor allem die zurzeit grosse Rechtsunsicherheit und der Mangel an genügend qualifiziertem Personal für Produktion und Forschung. Ob Trumps Zollpolitik zur Verlagerung von Wertschöpfung aus der Schweiz in die USA führen wird, lässt sich laut Wirtschaftsvertretern noch nicht abschätzen. Dies auch darum, weil die künftige US-Zollpolitik selber noch völlig unklar ist.