Sonntag, November 24

Seit der Quarzkrise setzt die Schweizer Uhrenindustrie erfolgreich auf Design und Mechanik. Nun will sich auch Seiko mit seiner Edelmarke Grand Seiko ein Stück des Luxuskuchens abschneiden.

Luzern, Schwanenplatz, Ende November: Bei Bucherer wird angestossen – für einmal nicht nur mit Champagner, sondern auch mit japanischem Bier und mit Sake. Der Juwelier hat vor kurzem Grand Seiko ins Sortiment aufgenommen und will seiner Kundschaft die Geschichte und Kultur der japanischen Luxusuhrenmarke vermitteln.

Beim Apéro fachsimpeln Uhrenverkäufer mit Kundinnen über Ästhetik, etwa über das in der japanischen Kultur so wichtige Spiel von Licht und Schatten. Bei Sushi, Tempura und Soba fallen Begriffe wie «Takumi» oder «Zaratsu», wenn es um Handwerkskunst oder speziell polierte Oberflächen geht.

Japan bietet mehr als günstige Quarzuhren

Der Gedanke an Luxusuhren «Made in Japan» ist vielen noch fremd. Teure mechanische Uhren werden in der Regel mit der Schweiz in Verbindung gebracht oder mit Deutschland. Aber Japan? Das ist doch das Land, aus dem die günstigen Quarzuhren stammen.

Die typische japanische Uhr ist tatsächlich kein Luxusprodukt. Von den 46,7 Millionen Uhren, die das Land 2022 exportierte, waren nur gerade 2,4 Millionen (5 Prozent) mechanisch. Und bei den mechanischen Uhren betrug der Exportpreis im Durchschnitt 14 200 Yen bzw. 84 Franken, was auf einen nicht gerade luxuriösen Endverkaufspreis von 200 bis 300 Franken hindeutet.

Aber das heisst nicht, dass es keine japanischen Luxusuhren gibt. Speziell Seiko hat eine lange Tradition hochwertiger mechanischer Uhren. Diese sind international vor allem deshalb noch wenig bekannt, weil sie bis vor wenigen Jahren nur auf dem Heimmarkt verkauft wurden.

Seikosha, das Haus der Präzision

Die Geschichte von Seiko beginnt im Jahr 1881. Damals eröffnete der 21-jährige Kintaro Hattori einen Laden in Tokio, in dem er Uhren verkaufte und reparierte. Zunächst waren es hauptsächlich westliche Uhren, denn Japan hatte erst 1873, im Zuge der Meiji-Restauration, auf die westliche Zeitmessung mit konstanter Zeiteinteilung umgestellt. Vorher war die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang in sechs Zeiteinheiten aufgeteilt, die Zeit bis zum nächsten Sonnenaufgang in sechs weitere. Je nach Jahreszeit waren die Einheiten damit unterschiedlich lange.

Bereits 1892 begann Hattori allerdings, eigene Uhren zu produzieren. Er kaufte eine stillgelegte Fabrik in Tokio, die er Seikosha nannte, zusammengesetzt aus Seikō (Präzision) und sha (Haus). Nach Wand- und Taschenuhren folgte 1913 die erste in Japan produzierte Armbanduhr. 1924 stand erstmals der Name Seiko auf dem Zifferblatt.

1960 schliesslich war die Geburtsstunde von Grand Seiko. Der Auftrag an die Uhrmacher war, unter diesem Namen die «ideale Uhr» zu schaffen: präzise, langlebig, gut ablesbar, angenehm zu tragen und «nach menschlichem Empfinden so schön wie möglich». Das Ziel war nicht zuletzt auch, den Schweizern Paroli zu bieten, denn 1961 wurden in Japan die Importe von Armbanduhren liberalisiert. Mit einer Abweichung von –3 bis +12 Sekunden pro Tag konnte Grand Seiko von Anfang an mit den Schweizern mithalten.

Schwieriger Start von Grand Seiko im Ausland

Auf die Idee, Grand Seiko auch ausserhalb von Japan zu verkaufen, kam Seiko erst sehr viel später. Im Jahr 2010 fällte Shinji Hattori, ein Urenkel von Seiko-Gründer Kintaro Hattori, den Entscheid, neben den bereits weltweit vertriebenen Seiko-Uhren auch die hauseigene High-End-Marke im Ausland anzubieten.

Neue Märkte zu erschliessen, erwies sich allerdings als gar nicht so einfach. Die bestehenden Verkaufskanäle von Seiko eigneten sich wegen der unterschiedlichen Positionierung – Seiko eher funktional-technisch und günstig, Grand Seiko elegant und teuer – nur bedingt. Gleichzeitig war es schwierig, die Juweliere zu motivieren, Platz in ihren Geschäften freizuräumen. Der Begriff Seiko im Markennamen erschwerte es, die Uhren spontan mit Luxus zu assoziieren. Zudem legten die Kunden bei Luxusuhren grossen Wert auf das «Swiss Made»-Label.

Das änderte sich jedoch allmählich, als die Uhrenhändler realisierten, dass die Japaner auch im Ausland bereits eine rechte Fangemeinde hatten und sie eine neue Zielgruppe erschliessen konnten. Zuerst waren es kleinere US-Juweliere, die Grand Seiko ins Sortiment aufnahmen, aber bald wurden auch grössere Ketten wie Watches of Switzerland oder Tourneau auf die Marke aufmerksam.

In Europa trat die Grand Seiko dann bereits mit grossem Selbstbewusstsein auf und eröffnete 2020 eine eigene Boutique an der prestigeträchtigen Place Vendôme in Paris. Mittlerweile sind die Uhren in den meisten westeuropäischen Ländern erhältlich – inklusive der Schweiz, des Stammlands der Uhrenindustrie. Und überall, wo es um Haute Horlogerie geht, ist auch Grand Seiko präsent: Sei es am Genfer Uhrensalon Watches & Wonders oder am Grand Prix d’Horlogerie de Genève.

So baut man heute Manufakturen

Dass Grand Seiko in der internationalen Luxusliga angekommen ist, zeigt sich auch bei einem Besuch in Japan, zu dem die Uhrenherstellerin eingeladen hat. Vor allem der 2020 eingeweihte Neubau der Manufaktur in Morioka, im Norden der Hauptinsel, macht deutlich, dass die Marke weiss, wie man sich heute als High-End-Uhrenherstellerin zu präsentieren hat. Der vom bekannten japanischen Architekten Kengo Kuma geplante Bau aus Holz und Glas mit seinem grosszügigen Garten spiegelt die Philosophie der Marke, welche die Bedeutung der Natur betont.

Das «Studio Shizukuishi», in dem alle mechanischen Uhren der Marke gefertigt werden, ist zudem nicht nur Arbeitsstätte, sondern auch Besucherzentrum. Auch das ist heute mit Blick auf die Kundenbindung schon fast Pflicht, denn Uhrenfans schätzen es zu sehen, wie und wo ihre Zeitmesser produziert werden. Das Gebäude wurde so konzipiert, dass man den Uhrmachern durch grosse Glasscheiben bei der Arbeit zuschauen kann, ohne sie zu stören oder Staub in die Werkstätte zu tragen.

Vitrinen und Schautafeln informieren über die Geschichte von Grand Seiko, und es gibt auch einen Raum, wo man am Ende der Tour die Aussicht auf den Mount Iwate betrachten kann, der im Design der Uhren regelmässig auftaucht. Wer möchte, kann ein Spezialmodell kaufen, das sonst nirgends erhältlich ist.

Grosser Wert wird auf Handarbeit gelegt

Der Stolz auf das traditionelle Handwerk ist heute bei Grand Seiko mindestens so gross wie in der Schweiz, wenn nicht grösser. Auch das zeigt sich beim Manufakturbesuch. Uhren werden nicht nur von Hand zusammengebaut und verziert. Es werden auch Sekundenzeiger einzeln von Hand gebläut, das heisst erhitzt, bis sie blau werden.

Und selbst die Indexe auf dem Zifferblatt, die die Zeit markieren, werden manuell geschliffen und poliert. Möglich ist dies nicht zuletzt auch, weil Fachkräfte in Japan deutlich günstiger sind als in der Schweiz. So können es sich die Firmen leisten, viel Handarbeit in ihre Uhren zu stecken, ohne dass die Preise explodieren.

Trotz der Betonung von Tradition und Mechanik gibt es bei Grand Seiko allerdings auch ein unverkrampftes Verhältnis zur Quarztechnologie. Dies erfährt man beim Besuch der zweiten Produktionsstätte. Diese ist bei Seiko Epson in Shiojiri angesiedelt, rund zweieinhalb Autostunden westlich von Tokio. Während westliche Hersteller von Luxusuhren Quarzwerke meist nur in speziellen Fällen einsetzen, wie etwa bei kleinen Schmuckuhren, hat Grand Seiko rund ein Dutzend Quarzmodelle im Angebot. Die Werke werden von Hand zusammengebaut und erhalten am Schluss eine ähnlich aufwendige Verzierung wie ihre mechanischen Pendants.

Die eigentliche Spezialität von Seiko (und damit auch Grand Seiko) sind aber Uhren mit Spring-Drive-Werken. Spring Drive kombiniert die Vorteile von Mechanik und Elektronik: Die Uhren sind mechanisch angetrieben (entweder mit Handaufzug oder «automatisch» mit einem Rotor), brauchen also keine Batterie. Aber anstatt die Geschwindigkeit der Uhr mit einer mechanischen Methode zu kontrollieren, wie es normalerweise der Fall ist, verwendet diese Uhr eine von Quarz gesteuerte, elektromagnetische Bremse, was deutlich mehr Präzision erlaubt. So beträgt die Abweichung bei Spring-Drive-Uhren etwa 0,5 Sekunden pro Tag. Mechanische Uhren gelten bereits dann als besonders genau, wenn die Abweichung weniger als 5 Sekunden pro Tag beträgt.

Wie beim Innenleben der Uhren geht Grand Seiko auch beim Design einen eigenen, japanischen Weg: Die speziell geschliffenen Zeiger dienen dem erwähnten Spiel von Licht und Schatten. Für die Zifferblattdesigns zieht die Marke regelmässig Inspiration aus der heimischen Natur. Neben dem Mount Iwate sind das beispielsweise auch die weissen Birkenwälder in der Nähe des Grand-Seiko-Studios in Shizukuishi.

Mit diesen charakteristischen Merkmalen stösst die Marke auch ausserhalb der Heimat auf grosse Resonanz. Laut Akio Naito, dem Chef von Seiko, ist Grand Seiko bereits seit 10 Jahren die am schnellsten wachsende Marke im Konzern. 2022 wurden erstmals mehr Uhren im Ausland verkauft als in Japan.

Zuerst fehlte der Handlungsdruck, dann die Ressourcen

Man kann sich rückblickend fragen, weshalb Seiko oder generell die Japaner das Geschäft mit Luxusuhren so lange den Schweizern überlassen haben. Schon seit Jahrzehnten zeigt sich, dass der Uhrenmarkt ausserhalb des Luxus- und Sammlersegments wenig Wachstumschancen bietet. Wer mehr verdienen will, muss teurere Uhren produzieren.

Für Masayuki Hirota, Chefredaktor des japanischen Uhrenmagazins «Chronos», lässt sich das mit der Geschichte erklären. Zu Beginn, in den 1980er Jahren, als die Schweizer Uhrenhersteller sich auf ihre mechanischen Wurzeln zurückbesannen, sei dies für die japanischen Uhrenhersteller schlicht kein Thema gewesen. Quarz war für sie die Technologie der Zukunft.

Ihr Geschäft boomte, und sie steckten ihre gesamte Energie in die Weiterentwicklung dieser Technologie und in die Optimierung und Automatisierung der Produktion. Das galt speziell auch für das Unternehmen Seiko, das mit seiner 1969 vorgestellten Quarzarmbanduhr Astron die Quarzrevolution quasi ausgelöst hatte.

Ende der 1980er Jahre begannen laut Hirota jedoch die Probleme. Einerseits wurden zu viele Uhren produziert, was zu einem Preiskrieg zwischen den führenden Herstellern Seiko und Citizen und sinkenden Margen führte. Anderseits liess das Aufkommen des Mobiltelefons in den neunziger Jahren Armbanduhren in dem Sinne überflüssig werden, als niemand mehr gezwungen war, eine Uhr zu kaufen, um sich die Zeit anzeigen zu lassen.

Als die japanischen Uhrenhersteller merkten, dass sie etwas ändern mussten und es sich angesichts des Erfolgs der Schweizer Uhrenhersteller lohnen könnte, vermehrt wieder in Richtung Mechanik und traditionelles Handwerk zu gehen, zeigte sich ein anderes Problem: «Die japanischen Firmen hatten sich über Jahrzehnte so konsequent auf die Quarztechnologie und auf die Optimierung der Produktion ausgerichtet, dass es nur noch wenige spezialisierte Fachkräfte gab», sagt Hirota. Die Schweizer hatten dieses Problem nicht gehabt, da sie nie so grossen Wert auf Automatisierung gelegt hatten.

Uhrenliebhaber offen für Neues

Mittlerweile ist dieses Know-how in Mikromechanik und Kunsthandwerk jedoch auch in Japan wieder aufgebaut, vor allem durch Firmen wie Seiko. Dass nun aus Japan die grosse Luxusoffensive kommt und Marken wie Grand Seiko der Schweizer Uhrenindustrie das Wasser abgraben, ist allerdings nicht zu erwarten. Generell haben die Japaner in diesem Bereich ein weniger starkes «Sendungsbewusstsein» als die Europäer. Zudem: Es gibt gar nicht viele japanische Uhrenmarken, die für eine internationale Expansion infrage kommen.

Die Japaner werden im Markt weniger als Gefahr denn als Bereicherung wahrgenommen, ähnlich wie die vielen unabhängigen Uhrmacher, deren oft vollständig handgefertigte Kreationen seit einigen Jahren ebenfalls sehr gefragt sind.

Die etablierten Schweizer Uhrenhersteller tun allerdings gut daran, sich zu erinnern, dass es konstante Anstrengung braucht, um die Kundschaft bei der Stange zu halten. Auch eine starke, mit viel Marketing und Werbung aufgebaute Marke ist keine Garantie für die Zukunft. Uhrenliebhaber, die ewig warten müssen, bis sie – vielleicht – ihre gewünschte Uhr bekommen, werden nach Alternativen suchen. Das Gleiche gilt für jene, die das Gefühl haben, statt für den «Inhalt» der Uhr vor allem für den Markennamen zu bezahlen. Auch sie werden diese Alternativen zunehmend finden.

Grand Seiko – die Edelmarke des Seiko-Konzerns

Grand Seiko wurde 1960 lanciert und ist heute die wichtigste Luxusmarke des japanischen Uhren- und Elektronikkonzerns Seiko. Produziert werden im Jahr schätzungsweise 50 000 bis 60 000 Uhren, ähnlich viele wie bei Patek Philippe oder Audemars Piguet, aber deutlich weniger als bei der Schweizer Marktführerin Rolex, die rund eine Million Uhren im Jahr herstellt. Die meisten Grand-Seiko-Uhren sind aus Stahl und kosten typischerweise zwischen 3000 und 10 000 Franken. 

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