Mittwoch, Oktober 30

«Wir können nicht aufgrund von Befindlichkeiten alles wegmoderieren. So funktioniert ein offener Diskurs nicht», sagt Sophie Achermann, Geschäftsführerin der Public Discourse Foundation. Sie will den Hass aus dem Internet räumen.

Seit dem Jahr 1999 ist das Recht auf freie Meinungsäusserung Teil der Schweizer Verfassung, denn für eine Demokratie sind Meinungs- und Informationsfreiheit unabdingbar. Nun ergab eine Analyse der Public Discourse Foundation, dass in der Schweiz je nach Medium bis zu 60 Prozent aller Leserkommentare gelöscht werden. «Das ist ein Problem», sagt die Geschäftsführerin Sophie Achermann, «Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht. Auch wenn andere Meinungen manchmal weh tun.»

Das deutsche Magazin «Der Spiegel» löscht laut eigenen Angaben knapp 15 bis 20 Prozent der Leserkommentare unter seinen Artikeln. Beim österreichischen «Standard» sind es 3 Prozent. Ist man in der Schweiz besonders hasserfüllt? Oder liegt das Problem auf der anderen Seite – sind die Eidgenossen zu empfindlich?

Wer die Konsequenzen trägt, löscht

Ein wichtiger Unterschied zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz ist, dass Medien hierzulande für die Kommentare haften, die auf ihren Seiten publiziert werden. In mehreren Gerichtsurteilen wurden Medien für Wutrede, Beleidigungen oder Verleumdungen, die in ihren jeweiligen Kommentarspalten publiziert worden sind, zur Rechenschaft gezogen.

In den Nachbarländern ist das anders. Ebenso auf den Social-Media-Plattformen. Die Moderation von Kommentaren für X (vormals Twitter), Facebook und Konsorten liegen im eigenen Ermessen. Daraus ergibt sich: Wer die juristischen Konsequenzen trägt und die volle Verantwortung übernehmen muss, setzt die Schwelle bei Hasskommentaren anscheinend tendenziell tiefer an – und löscht mehr. Diesem Vorgehen fallen laut Achermann allerdings auch Inhalte zum Opfer, die für den öffentlichen Diskurs wichtig wären.

Das problematische Prozent

Die von Achermann mitgegründete Stiftung hat über mehrere Monate alle Kommentare, die bei verschiedenen grossen Schweizer Zeitungen (die NZZ gehörte nicht dazu) eingegangen sind, analysiert. Das Ergebnis: Je nach Medium entstammen 50 bis 70 Prozent aller problematischen Kommentare der Feder des immergleichen einen Prozents an Kommentarschreibern.

Das Vorgehen liegt nahe, diese wenigen User zu sperren, um für ein besseres Diskussionsklima zu sorgen. Aber Achermann schüttelt den Kopf. Denn die Untersuchung ihrer Stiftung hat auch ergeben, dass die obersten 5 Prozent der Hasskommentatoren auch für fast die Hälfte aller konstruktiven, tatsächlich publizierten Beiträge verantwortlich zeichnen.

Zudem verschwänden die verletzenden Meinungen durch das Löschen nicht. «Kommentiert wird dann einfach an anderen Orten – auf Telegram zum Beispiel –, wo man den Diskurs erst recht nicht mehr moderieren kann», sagt Achermann. Das sei schlecht für die Gesellschaft und schlecht für die Demokratie: «Wir können nicht aufgrund von Befindlichkeiten alles wegmoderieren. So funktioniert ein offener Diskurs nicht.» Vielmehr sei genau das ebenfalls ein grosses Problem: «Politisch gibt es Bestrebungen, hier oder da die Schraube anzuziehen.» Die grosse Frage lautet also: Wie kann die Löschquote möglichst tief gehalten werden, während gleichzeitig die Diskussionsqualität steigt und die Zahl von Hasskommentaren zurückgeht?

Alternativen zum Löschen

Rassismus und Homophobie stehen in der Schweiz unter Strafe. Solche Kommentare gelte es auch weiterhin sofort zu löschen, sagt Achermann. Bei Abwertung aufgrund anderer Identitätsmerkmale wie des Geschlechts, einer Behinderung oder der Religion eröffnet sich dagegen ein Graubereich, bei dem aus rechtlicher Sicht oft nicht klar ist, was nun gelöscht und was ertragen gehört.

In mehreren wissenschaftlichen Experimenten wurden Alternativen zum Löschen getestet: Counter-Speech, also Gegenrede, fusst darauf, dass andere Nutzer oder die Moderatoren selber kommentieren und unter der problematischen Aussage festhalten, dass man mit dem Kommentar nicht einverstanden sei. Die Studie konnte zeigen, dass etwa auf X rassistische Kommentare weniger oft geteilt werden, wenn andere Nutzer in den Kommentaren darunter Partei gegen Rassismus ergreifen.

Als weitere Alternative zum Löschen wurden die Kommentarschreiber auf mögliche negative Konsequenzen für sie selbst hingewiesen. «Was, wenn dein Vorgesetzter sieht, was du hier schreibst?», tippten die Studienleiter etwa unter negative Kommentare. Oder «Was würde deine Mutter von dir denken?» unter eine sexistische Aussage. Damit allerdings habe man nur einen verschwindend kleinen Effekt erzielt.

Es fehlt die Zivilcourage

Eine weitere Möglichkeit sei das Anpinnen von positiven Äusserungen im oberen Bereich der Kommentarspalte. Das könnte die Hemmschwelle dafür, selber etwas Verletzendes zu schreiben, erhöhen. «Wenn Kommentare dann trotzdem gelöscht werden müssen, ergibt es Sinn, den Betroffenen zu erklären, warum», sagt Achermann.

Die laut Untersuchung erfolgreichste Alternative fusst auf Empathie mit den Betroffenen. Etwa: «Wenn du diese antisemitische Aussage stehen lässt, verletzt das jüdische Menschen sehr.» Doch solche Posts seien selten. «Im Internet fehlt die Zivilcourage», sagt Achermann. «Wird auf der Strasse jemand angegriffen, rufen wir die Polizei. Wird im Internet jemand angegriffen, scrollen wir einfach weiter.»

Nicht die Anonymität sei also das Hauptproblem im Internet, sondern die Tatsache, dass es so einfach sei, wegzuschauen. Dieses Verhalten langfristig zu verändern, beansprucht viele Ressourcen. Darum seien neben den Medien auch Politik und Rechtsprechung dringend in der Pflicht, findet Achermann. Und neben den Verfassern der Hasskommentare habe auch der Rest der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen: «Es ist die Diskussionskultur von uns allen, die in den Kommentarspalten geprägt wird.»

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