Er gilt als der grosse Sonderfall in der schweizerischen Kunstgeschichte. Albert Weltis dunkel-düstere Bilderfindungen werden jetzt im Kunsthaus Zürich ans Licht geholt.
Das Leben ist Täuschung und Halluzination. Und alles jagt auf dem Rücken irregewordener Pferde durch fiebrige Trugbilder. So sah es der Zürcher Künstler Albert Welti. Er widmete sich der Kunst als einer besonders ausgeprägten Form von Träumerei. Nicht einmal das Erweckungserlebnis der Impressionisten konnte ihn wachrütteln. Auch darin sah er wohl nur eine weitere Variante von Traum und Trug, dies in der modernen Erscheinungsform schnöder Komplementärfarben.
Welti, der es gerne Schwarz hatte, vermochte mehr Wirklichkeit zu erblicken in den dunklen Phantastereien eines Goya, Odilon Redon oder Max Klinger. An diese Altmeister jedenfalls hielt er sich, und boten sie dem Nachtwandler in einer phantastischen Welt, als der er sich selbst begriff, auch nur einen Blindenstock als Orientierungshilfe.
Oder war Albert Welti, der fast neun Jahre jünger war als Ferdinand Hodler, einfach ein rückwärtsgewandter Träumer und Schwarzmaler? Um 1900 galt er immerhin für kurze Zeit als populärster Künstler der Schweiz. Das Träumerische jedenfalls bildet eine wiederkehrende Komponente in seinem Werk. «Kunst ist Traum», lautete seine Losung. Und insbesondere in seinem grafischen Werk hing er den Gespinsten seines verschatteten Innenlebens nach. Kobolde, Gespenster und Gerippe bevölkern diese Blätter, auch Hexen kommen vor. Und Pferde.
Aus tiefen Seelengründen
Dass das Pferd für die dunklen Seiten der Seele, ja für den Wahnsinn steht, muss Welti (1862–1912) spätestens bei seinem Landsmann Johann Heinrich Füssli (1741–1825) erkannt haben. Dessen berühmtes Bild «Der Nachtmahr» zeigt eine delirierende Frau, ausgestreckt auf den weissen Laken eines Bettes. Auf ihrer wohl von einem schweren Alb beengten Brust hockt ein Kobold – der Mahr. Zum Fenster durch die Vorhänge hinein aber streckt ein Pferd seinen Kopf mit blindwütigen Glotzaugen.
The Wild Swiss, wie Füssli in England, seiner Wahlheimat, genannt wurde, bewegte sich mit Vorliebe auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Auf diesem schmalen Pfad suchte auch Welti seine künstlerische Gratwanderung. Ihr widmet sich jetzt eine halluzinierende Kabinettausstellung im Kunsthaus Zürich, das über den grössten Bestand an Druckgrafiken Weltis verfügt. Aus dem lichten Alltag taucht man da in eine Seelen-Unterwelt hinab – die Gefilde eines Künstlers, der mit seiner Grafik zum virtuosen Traumdeuter ureigenster menschlicher Albträume wurde.
Das beginnt furios. Mit wild gewordenen Pferden, auf deren Rücken sich Amazonen in eine mörderische Schlacht stürzen. Welti schlägt aber auch elegisch-schwermütige Töne an, wenn er ein Paar im nächtlichen Schlafgemach zeigt, sie hellwach, er mondsüchtig träumend, dass man sich in eine andere Welt entrückt wähnt.
Ist es der Traum ihres Gatten, den die Ehefrau im offenen Fenster beobachtet wie einen Film auf einer Kinoleinwand? Dort, auf dem Bild im Bild, erblickt man einen Reiter mit Jagdhorn im helllichten Mondschein. Die «Mondnacht» von 1896 gefiel Hermann Hesse: «Seit der Stunde, in der ich die ‹Mondnacht› gesehen, hat Welti für mich zu den Künstlern gehört, mit denen ich lebte, deren Stimme ich zuweilen in der Natur zu hören glaubte, an deren Art ich mich und andere mass.»
Hesse erkannte die Meisterschaft seines Freundes: eine «aus tiefen Seelengründen genährte Phantasie und einen altmeisterlichen Formwillen». In der schweizerischen Kunstgeschichte galt Welti aber lange als der grosse Sonderfall. Er kritisierte den damals Erfolge feiernden Impressionismus und bevorzugte die altdeutschen Meister. Was seine Zeitgenossen betrifft, war sein einstiger Lehrer Arnold Böcklin ein massgebender Fixstern an seinem künstlerischen Horizont.
Kühne Bildeinfälle
Das lässt Welti bisweilen antiquiert wirken. Seinen Gemälden ist die Verehrung vergangener Epochenstile allzu gut anzusehen. Den Verdacht auf Rückständigkeit zerstreute der Virtuose im Umgang mit Nadel und Säure aber selber vor allem in seinen bisher wenig beachteten Grafikblättern durch Originalität und Unverwechselbarkeit. In diesen Radierungen liess er seinen kühnen Bildeinfällen freien Lauf.
Exemplarisch dafür steht das Blatt «Faunsjagd»: eine verrückte Komposition, auf der ein Pferd in vollem Galopp einem Faun hinterherjagt. Dessen Schwanz hat es bereits mit seinem Gebiss gepackt, während ein anderer Faun sich am Pferdeschwanz festhält. Auf dem Rücken des rasenden Gauls klammern sich zwei nackte Mädchen in irrem Gelächter.
Weltis Radierungen sind eine Schatzkammer der bizarren Phantasie, wie sie auch sein Weggefährte im Geist, Giovanni Battista Piranesi, pflegte. In düstere Gewölbe der Seele dringt man vor in Piranesis berühmtem Blatt «Carceri» (Verliese). Es wird in der Kunsthaus-Ausstellung neben Weltis Radierung «Unterwelt» gezeigt, zu deren Entstehung es als Inspirationsquelle beigetragen haben dürfte.
Ein Abbild innerer Seelenregungen wollte man lange in Piranesis beklemmender wie gigantischer Gefängnis-Architektur sehen. Darin verlieren sich die kleinen Figuren ebenso wie in Weltis «Unterwelt», wo sie von der dunklen Weite des unheimlichen Umraums förmlich verschluckt werden.
Dass Welti alles andere als fortschrittsgläubig war, zeigt sein grosses, symbolträchtiges Blatt «Die Fahrt ins 20. Jahrhundert» von 1899/1900, das einer Albtraumvision gleichkommt. Eine monumentale, von Giganten getragene Brücke visualisiert gleichsam eine Schwellenüberschreitung. Das Gefährt ist allerdings ziemlich marod und fungiert als Mittel des Transports ins neue Zeitalter vor allem von Lastern und Altlasten in Form eines kunterbunten Getümmels von allerlei Volksvertretern. Wie die Welt jenseits des Horizonts aussehen mag, in dessen Richtung der ganz Spuk rollt, bleibt in dem Bild unersichtlich.
Die Seele des Menschen ist ein nächtlicher Irrgarten, aus dem es zumindest nach Ansicht von Albert Welti auch in der Kunst kein Erwachen gibt. Oder wie er es eben selbst formulierte: «Kunst ist Traum. Wer mehr meint, irrt sich.»
«Albert Welti und die Grafik des Fantastischen», Kunsthaus Zürich, bis 9. Februar 2025.