Der Unternehmer Walter Denz lebt und arbeitet seit 1992 in Russland. Im Gespräch erzählt er von der aufregenden Zeit nach der Wende, als alles möglich schien. Und versucht zu erklären, wie sich das Land unter Putin zum Schlechten wenden konnte.
Voller Neugier kam Walter Denz 1992 nach Russland. Das Land im Umbruch und seine Bevölkerung faszinierten ihn. Alles schien damals möglich, und bald war dem 1965 geborenen HSG-Absolvent Denz klar, dass er in Russland bleiben wollte. In St. Petersburg gründete er die Sprachschule Liden & Denz mit. Später kamen Schulen in Moskau, Irkutsk und Riga hinzu. Seit 2021 besitzt Denz auch den russischen Pass.
Herr Denz, Sie sind gerade in Moskau, wie ist die Stimmung?
Ich würde sagen: schrecklich normal. Auf der Strasse merkt man nichts vom Krieg. Es sind viele Leute unterwegs, die Restaurants sind gut besucht, in den Läden sind die Regale voll. Einige westliche Marken sind verschwunden, McDonald’s gibt es nicht mehr, Burger King ist geblieben. Dafür sind viele neue Marken dazugekommen, man sieht zum Beispiel viele chinesische Autos, von denen man im Westen noch nie gehört hat. Die Preise sind stark gestiegen, aber das sind sie auch anderswo.
Ist der Krieg im Alltag Gesprächsthema?
Es wird schon geredet, allerdings nur am Küchentisch, nicht in der Öffentlichkeit. Man ist vorsichtig. In meinem Umfeld keimte im Frühling Hoffnung auf, dass Trump die beiden Seiten an den Verhandlungstisch bringen könnte. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen, es herrschen Katerstimmung und eine gewisse Resignation.
In Ihrem neuen Buch versuchen Sie herzuleiten, wie das Land in die heutige Situation geraten konnte. Sie zogen 1992 nach St. Petersburg. Was für eine Stadt fanden Sie vor?
Ich kam in ein Land, das jahrzehntelang verschlossen war und nach eigenen Gesetzen gelebt hatte. St. Petersburg hat mich einerseits wegen der Grösse beeindruckt, andererseits wegen der Schönheit, die damals allerdings unter einer grauen Staubschicht versteckt war. Die Infrastruktur war völlig veraltet. Man spürte, das Potenzial ist riesig. Genau zu jener Zeit, als ich dort war, wurde die Handels- und Gewerbefreiheit eingeführt, die Preise wurden freigegeben. Der wilde Ritt in die freie Marktwirtschaft konnte losgehen.
Da wollten Sie dabei sein.
Das war alles super spannend, eine solche Chance gibt es nur einmal. Die Menschen in Russland waren zudem sehr neugierig, es war sehr einfach, Kontakte zu knüpfen. Deshalb war schnell klar, dass wir bleiben.
Den Umbau vom Kommunismus zur Marktwirtschaft beschreiben Sie im Buch als äusserst chaotisch, es war die Zeit des Aufstiegs der Oligarchen, des organisierten Verbrechens. Haben Sie bei der Gründung Ihrer Sprachschule etwas davon mitgekriegt?
Auch ich musste Schutzgelder bezahlen. Wie gefährlich es war, konnte ich nicht einschätzen, mir war zudem nicht wirklich klar, an wen ich diese Gelder überhaupt bezahle. Alles war undurchsichtig. Ich habe aber durchaus einen Einblick bekommen in die Problematik, wenn das organisierte Verbrechen ganze Branchen kontrolliert. Das Bewusstsein für eine regulierte Marktwirtschaft fehlte am Anfang völlig, der Umbruch war derart schnell umgesetzt worden.
Das Tempo sei nötig gewesen, weil die Sowjetunion 1990/91 vor einer Hungersnot gestanden habe, schreiben Sie.
Das geht heute oft vergessen. Die landwirtschaftliche Produktion lag am Boden, Deutschland sprang mit Lebensmittelhilfe ein, es gab humanitäre Aktionen. Als ich 1992 meine Frau kennenlernte, waren gewisse Lebensmittel noch immer rationiert. Präsident Jelzin hat dann das einzig Richtige gemacht, nämlich die Preise freigegeben. Das führte in einer ersten Phase natürlich zu einer Hyperinflation, für die Bevölkerung eine Katastrophe, aber es führte auch dazu, dass wieder mehr produziert und der Mangel behoben wurde. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie die Güter plötzlich zurückkamen, die Läden voll wurden. Das ging ziemlich schnell.
Sie loben Boris Jelzin. Im Westen blieb der russische Präsident vor allem dadurch in Erinnerung, dass er bei Staatsbesuchen alkoholisiert über rote Teppiche torkelte.
Auch in Russland wird ihm die Anerkennung verwehrt. Dabei hat er das Land ab 1991 acht Jahre lang durch eine enorm schwierige Zeit gesteuert. Er setzte viele harte, aber nötige Entscheidungen durch, obschon er wusste, dass er nur verlieren kann. In seiner Autobiografie schreibt er, dass er sehenden Auges in die Katastrophe gesteuert sei, weil es in der damaligen Situation keine Alternative zu einer solchen Schocktherapie gegeben habe. Dass bei der Privatisierung vieles schieflief und die organisierte Kriminalität ein Hoch hatte, war kaum zu vermeiden. In Ostdeutschland gab es die «Treuhand», die 10 000 Betriebe privatisierte, auch dort lief nicht alles reibungslos ab, und es gab Skandale, trotz dem westdeutschen Know-how. In der Sowjetunion reden wir von 200 000 bis 250 000 Betrieben, das ist eine ganz andere Dimension. Und das in einem Umfeld, wo es kein Cash gab, wo sich keine westlichen Investoren hinwagten. Man hatte keinerlei Erfahrung, wie eine Überführung in die Marktwirtschaft ablaufen sollte, alles war Neuland.
1999 tauchte plötzlich ein Mann namens Wladimir Putin auf. Erst als Premierminister, nach dem Rücktritt Jelzins am 31. Dezember als Interimspräsident.
Es war das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass ein Machthaber freiwillig abtrat. Und das am letzten Tag des Jahres. Wir sassen alle vor dem Fernseher. Ich dachte: Das gibt es ja nicht! Es war die totale Überraschung. Auf den kranken Jelzin, der mehrere Herzinfarkte hatte, folgte ein Mittvierziger, ein energischer Reformer aus St. Petersburg. Wir waren alle voller Optimismus.
Es kam anders.
Für Putin startete seine Amtszeit optimal. Damals herrschte Krieg in Tschetschenien, in Russland gab es schlimme Terroranschläge durch tschetschenische Islamisten. Durch sein hartes Eingreifen erlebte der neue Präsident einen enormen Popularitätsschub. Aus Sicht der Russen hat er geliefert, was er versprochen hatte.
In den ersten Jahren war Putin noch westlich ausgerichtet, suchte die Nähe zu Europa und den USA.
Heute sagen viele, das sei alles nur gespielt gewesen, der Westen sei darauf hereingefallen. Ich glaube das nicht. Der junge Putin wollte den USA und Europa auf Augenhöhe begegnen.
Mit der Zeit wandte er sich immer mehr vom Westen ab. Im Buch nennen Sie als entscheidenden Kipppunkt die Orange Revolution in der Ukraine von 2004, die durch den Westen unterstützt worden war. Dies habe Putin zu einer Neueinschätzung der Beziehungen bewogen.
Die Abwendung vom Westen war ein gradueller Prozess, die Vorgänge in der Ukraine 2004 haben sicherlich dazu beigetragen. Auch die Maidan-Revolution von 2013/14, als der demokratisch gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch auf Druck von Protesten, die vom Westen und von NGO unterstützt wurden, zurücktreten musste, dürfte eine Rolle gespielt haben. Es wäre aus meiner Sicht geschickter gewesen, wenn die Europäer zurückhaltender geblieben wären. Das Problem hätte sich wohl von allein gelöst, die Ukrainer haben noch nie einen Präsidenten zweimal gewählt. Aber das ist reine Spekulation.
Der Zusammenbruch der DDR war eine Revolution von unten, es gab grossen Druck von der Strasse, der Zusammenbruch der Sowjetunion hingegen war eine Revolution von oben. Auch jetzt gibt es nur wenig Widerstand aus dem Volk gegen Putin. Weshalb?
Nach der Wende waren die Menschen vor allem mit sich selbst beschäftigt, mit dem eigenen Überleben. Dadurch konnte sich keine demokratische Zivilgesellschaft entwickeln, wie wir sie kennen, es blieb keine Energie, sich für das Allgemeinwohl einzusetzen. Aber wir dürfen uns nichts vormachen. In der Schweiz kümmern sich ja auch nur wenige um Politik. Nur 30 bis 40 Prozent gehen regelmässig wählen, in den Gemeinden finden sich kaum mehr Leute, die sich freiwillig engagieren. Das ist kein spezifisch russisches Problem.
Im Buch schreiben Sie zur aktuellen Situation: «Ich kann meinen russischen Freunden keinen Vorwurf machen, dass sie die Gefahr nicht kommen sahen.» Gehen Sie nicht etwas gar gnädig um mit den Russen?
Aus einer Schweizer Perspektive kann man das einfach sagen. Versagt haben nicht die Menschen, sondern die demokratischen Parteien, die in den 1990er Jahren einen ernstzunehmenden Machtfaktor darstellten. Anstatt sich abzusprechen und Kompromisse zu finden, haben sie sich bekämpft und gegenseitig sabotiert. Anfang der nuller Jahre gab es ein Zeitfenster, in dem aus meiner Sicht eine Entwicklung zum Guten möglich gewesen wäre. Damals hatte sich vieles stabilisiert: Die organisierte Kriminalität konnte zurückgebunden werden, die Gesellschaft war recht gut unterwegs, die Wirtschaft florierte, auch dank dem Öl. Vor den Wahlen von 2003 gab es Bemühungen, dass sich die demokratischen Parteien zusammentun, um zumindest eine Sperrminorität zu erreichen. Das wäre möglich gewesen. Aber sie konnten sich nicht einigen.
Sie wurden in der Vergangenheit kritisiert, weil Sie den Sinn der westlichen Sanktionen gegen Russland anzweifelten.
Mir geht es um jene Massnahmen, die die breite Masse treffen, zum Beispiel die Einschränkung der Reisefreiheit der Russen. Der Effekt müsste ja sein, dass sich die Bevölkerung deswegen gegen die Regierung stellt, es sollte Druck entstehen, damit der Krieg endet. Nach drei Jahren kann man sagen: Dieser Effekt ist nicht eingetreten, das war blosses Wunschdenken.
Ihre Familie ist nach Beginn des Krieges in die Schweiz gezogen, Sie betreiben Ihre Sprachschulen in St. Petersburg und Moskau aber weiter. Weshalb?
Ich habe keine Alternative. Wie auch viele meiner russischen Freunde, die ein Geschäft haben. Was wollen wir sonst tun? Klar, zu bleiben, ist auch eine Wette auf die Zukunft. Ich hoffe, dass Russland und Europa gemeinsam aus diesem Schlamassel wieder rauskommen.
Das ist doch eine Illusion: Selbst wenn der Krieg irgendwann endet, wird das Verhältnis zum Westen noch jahrzehntelang belastet bleiben.
Die Wahrscheinlichkeit ist tatsächlich gross, dass wir danach in einen neuen kalten Krieg geraten werden. Aber das ist hundert Mal besser als das, was wir jetzt haben. Ich fühle mich mit Russland und den Menschen emotional sehr verbunden, auch deshalb bin ich noch hier. Vielen Expats geht es ähnlich. Zahlreiche sind geblieben, führen die Firmen weiter, auch wenn sich das Mutterhaus zurückgezogen hat und das Unternehmen nun Russen gehört.
Walter Denz: Russlands wilde Neunziger. NZZ Libro, Basel 2025, 156 S. Fr. 28.–.

