Montag, November 25

Max Frisch ist wieder populär. Mit Ausnahme einer Figur: Walter Faber, Frischs Ingenieur aus Zürich, wird verachtet oder ignoriert. Das sagt viel über unsere Zeit.

Wir erleben eine Max-Frisch-Renaissance. Dieser Tage wird der Roman «Stiller» verfilmt, bekannte Schauspieler sind dabei, und neben dem Schweizer Fernsehen tut auch Arte mit. Nicolas Stemann, scheidender Intendant des Zürcher Schauspielhauses, hat sich das Drama «Biedermann und die Brandstifter» als Abschiedsvorstellung ausgewählt. Während sich «Stiller» um Identitätsfragen dreht, ist «Biedermann» eine beliebte Vorlage, um das Bürgertum zu verspotten.

Im Kino gibt es derweil «Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste» zu sehen, einen Spielfilm über die Liebesbeziehung von Frisch und Bachmann. Der Briefwechsel der beiden war letztes Jahr ein literaturhistorisches Ereignis, prominent besprochen in den grossen Zeitungen.

Frisch ist nicht zufällig en vogue. Wie kein zweiter Schriftsteller passt er zu einer Gegenwart, die von obsessiven Selbstbespiegelungen geprägt ist. Frischs Romane können als Abfolge raffinierter literarischer Selfies gelesen werden, mit variierenden Perspektiven, Filtern und Tiefenschärfen. Sein «Fragebogen» lädt zur Erkundung des eigenen Egos ein. Und die Tagebücher schliesslich weisen den Schweizer als Pionier eines autobiografischen Schreibens aus, das heute allgegenwärtig ist.

Max Frisch prüft Walter Faber

Jedoch, eine Ausnahme gibt es: «Homo faber», die Erzählung von Walter Faber, dem Zürcher Ingenieur.

Frisch hat diesen Roman wie ein metaphysisches Experiment angelegt. Mit immer unwahrscheinlicheren Wendungen stellt er den Vernunftglauben seines Technikers auf die Probe: ein Flugzeugabsturz, ein seltener Krebs, Sex mit einer jungen Frau, die sich später als Fabers Tochter erweist.

Bis zuletzt bemüht sich der Ingenieur, seinem höchst unglücklichen Schicksal mit Objektivität beizukommen. Frisch schuf mit Walter Faber einen Botschafter der Rationalität, ein Mann von ausgeprägter Nüchternheit und Gefühlskontrolle. Eine Figur, die sich in unserer Zeit sehr fremd fühlen würde.

Richard Dindo verbannte Walter Faber ins Off

Neun Jahre ist es her, dass der Regisseur und Frisch-Verehrer Richard Dindo «Homo faber» verfilmt hat. Dindo stellte allerdings die Frauen des Romans in den Mittelpunkt und löschte alle männlichen Figuren. Von Walter Faber liess er nur eine Stimme aus dem Off übrig. Der Protagonist war zum Paria geworden.

Neueren Datums ist der Podcast «Laberfach», gemacht von Lehrerinnen und Lehrern. Sie unterrichten teils in Deutschland, teils in der Schweiz, und reden in der Sendung jeweils über Literatur. Die Folge zu «Homo faber» gleicht allerdings weniger einer Diskussion als einem Schauprozess. Ungnädig wird über den Zürcher gerichtet, zumal über seinen Umgang mit Frauen.

Fabers Missetaten? Dass er eine Affäre auf dem Briefweg beendet. Oder dass er sich für eine attraktive Studentin interessiert, von der er unmöglich wissen kann, dass sie seine Tochter ist. Furchtbar finden die Lehrerinnen auch, wie Faber über andere Kulturen redet.

Sie habe «Homo faber» einmal im Praktikum unterrichten müssen, erzählt eine Lehrerin. Nur widerwillig habe sie das getan, betont sie. Eine sagt, sie habe unbedingt beim Podcast mitmachen wollen – um zu verhindern, dass künftige Schülerinnen weiter diesem Stoff ausgesetzt würden. Schliesslich wird festgehalten, was Walter Faber in Tat und Wahrheit sei: nämlich «ein Arschloch».

Faber forscht an der ETH und arbeitet für die Unesco

Diese Geringschätzung – oder ist es schon Hass? – wird Faber nicht gerecht. Der Ingenieur ist eine literarische Schlüsselfigur der Schweizer Nachkriegszeit, und eine komplexe dazu.

Zum einen ist er für die damalige Zeit prototypisch, ein Macher voller Elan, beseelt vom Glück eines überstandenen Kriegs. Ein Mann der Stochastik, der die Welt erst berechnen und dann mit Technik beherrschen möchte, zum Vorteil aller. Walter Faber forscht an der ETH Zürich und arbeitet für die Escher Wyss AG, aber auch für die Unesco, und er montiert Kraftwerke in Südamerika oder im Nahen Osten. Seine zweite Heimat sind die USA, er selber ist weitgehend amerikanisiert, in New York hat er Freunde und auch eine Freundin.

Faber lebt ein Luxusleben, ohne es sich darin bequem zu machen. Er will wissen, was die Welt antreibt – nicht metaphysisch, sondern konkret. Er ist überzeugt, dass jedes Phänomen einer eigenen Mechanik gehorcht. Als sein Rasiergerät kaputtgeht, zerlegt er es in seine Einzelteile, um die Ursache ausfindig zu machen. «Jeder Apparat kann einmal versagen; es macht mich nur nervös, solange ich nicht weiss, warum.»

Faber wird von den «Laberfach»-Lehrerinnen als gefühlskalter Unmensch verachtet. Aber das ist er keineswegs. So befürwortet er die Abtreibung.

In seiner spröden Art sagt er: «Viel Unglück aus Romantik, die Unmenge katastrophaler Ehen, die aus blosser Angst vor Schwangerschaftsunterbrechung geschlossen werden (. . .) Wie viele Kinder sind wirklich gewollt?»

Das ist in den 1950er Jahren, in denen der Roman spielt, eine mutige Aussenseiterposition.

Walter Faber wird heute schmerzlich vermisst

Und heute? Walter Faber kann nach wie vor als Schweizer Schlüsselfigur gelesen werden. Aber nicht obwohl, sondern weil er aus der Zeit gefallen ist. Weil seine Absenz auffällt. Weil sein klares Denken fehlt.

Nehmen wir, ein Beispiel unter vielen, die grösste Partei im Land. Sie beschwört seit Jahrzehnten eine rurale Hudigäggeler-Schweiz; auf ihren Veranstaltungen mimt Christoph Blocher – ein international erfolgreicher Chemieunternehmer und Multimilliardär – den «Schacher Seppli» oder lässt sich auf einem Einachser herankarren. In der Aussenpolitik schlägt man überaus scharfe Töne gegenüber der Europäischen Union an. Geht es dagegen um Wladimir Putin, hält man sich pietätvoll zurück.

Wer sehnte sich da nicht ein wenig nach der Logik eines Walter Faber?

Oder, auf der anderen Seite: die Grünen. Deren Hauptanliegen ist eigentlich ein simples Problem der Chemie, die Reduzierung bestimmter Gase in der Atmosphäre. Trotzdem fremdelt die Bewegung bis heute mit der Ratio und bietet stattdessen ein warmes Plätzchen für Fortschritts- und Technikfeinde jedweder Art, für die Freundin der Komplementärmedizin ebenso wie für den Skeptiker der Impfung. Ihre Ablehnung der Atomkraft ist chronisch, symbiotisch dagegen ist das Verständnis für die sich beklagende, sich anklebende Klimajugend. Man verschmähte Walter Faber und bekam dafür Max Voegtli.

Aber auch anderswo wäre der Ingenieur mit dem klaren Blick willkommen, etwa beim Umgang mit der künstlichen Intelligenz. Ihn ärgere das menschliche Ressentiment gegen die Maschine, erklärt er im Roman. Den Computer nennt er bereits das «Elektronen-Hirn».

Max Frisch nimmt die spätmoderne Technikverachtung vorweg

Sicher, Max Frisch zeigt in «Homo faber» die Lächerlichkeit eines Technikers, der sein unwahrscheinliches Schicksal nicht verstehen kann. Das ist die übliche Lesart. Doch der Roman – und das übersehen nicht nur die «Laberfach»-Lehrerinnen – zeigt mehr noch als das. Er nimmt auch ein Wohlstandsphänomen vorweg: die spätmoderne Technikverachtung, die mit den Hippies populär wurde und bis in die Gegenwart reicht.

Eine Freundin von Faber kritisiert seine Arbeit, moniert die «Manie des Technikers, die Schöpfung nutzbar zu machen, weil er sie als Partner nicht aushält». Der Ingenieur selber sieht das selbstverständlich anders. Er warnt davor, die Natur zum Götzen zu machen. «Dann müsste man schon konsequent sein: dann auch kein Penicillin, keine Blitzableiter, keine Brille . . .» Der Text von «Homo faber» liefert eine Kritik am Fortschrittsoptimismus, zugleich aber eben auch eine Kritik an der einfältigen Fortschrittskritik und der sentimentalen Naturverklärung.

Max Frischs Roman erschien im Jahr 1957. Im selben Jahr stimmten die Schweizer Stimmbürger für den Atomstrom, und im selben Jahr begannen auch schon die Planungen für das erste hiesige Kraftwerk, für Beznau I. Bis heute liefert es jedes Jahr so viel Strom, wie die Stadt Zürich verbraucht. Wir leben von der Homo-faber-Schweiz, nach wie vor.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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