Die Schweiz ist statistisch gesehen kein Kleinstaat. Und doch macht sich das Land in verschiedenen Bereichen der Innen- und Aussenpolitik kleiner als es ist. Das hat weitreichende Folgen.
Die Schweiz ist statistisch gesehen eine europäische Mittelmacht. Sowohl was die Oberfläche als auch die Einwohnerzahl anbelangt, liegt die Schweiz im breiten Mittelfeld aller europäischen Länder. Beim Reichtumsindikator Bruttinlandprodukt pro Kopf belegt sie mit Irland den zweiten Platz. Sie hat eine blühende Wirtschaft und ist ein erstklassiger Ausbildungs- und Forschungsplatz, die Finanzindustrie hält mit den Grossen mit. Warum, zum Geier, macht sie sich dann in ganz verschiedenen Bereichen kleiner als sie ist?
Staatsverschuldung
Mark Dittli hat vor einigen Wochen luzide aufgezeigt, dass – ohne es explizit auszusprechen – ein Staat sich nicht im Sinne privater Haushalte verschulden kann, sondern sich Mittel beschafft. Dies sowohl für laufende Ausgaben durch Steuern als auch für Investitionen, letztere in der Regel durch Kapitalaufnahme am Markt, wie es Unternehmen routinemässig tun. Investitionen sind in die Zukunft gerichtet und sollen sicherstellen, dass grundlegende Staatsaufgaben (Infrastruktur, Sicherheit, soziale Wohlfahrt) auch für künftige Generationen erfüllt werden können.
Die Staatsverschuldung der Schweiz ist im internationalen Vergleich äusserst tief und erreicht auch unter Einbezug der Kantone und Gemeinden nicht einmal 30% des Bruttoinlandprodukts. Diese Quote noch weiter senken zu wollen, wie es die Schuldenbremse für die Schweizer Staatsfinanzen vorsieht, ist volkswirtschaftlich problematisch, weil es eben auf Kosten künftiger Generationen geht.
Gegenwärtig wird auf Bundesebene mit Verweis auf eben diese Schuldenbremse wieder einmal gespart. Leistungen der Schweiz im Innern – vom öffentlichen Verkehr bis zu Kindertagesstätten – wie auch in unseren Aussenbeziehungen werden mit Verweis auf die Schuldenbremse abgebaut.
Schweizerische Neutralität
So wird beispielsweise die Unterstützung der Schweiz für die durch Putins Aggression in ihrer Existenz bedrohte Ukraine neben dem Verweis auf veraltete Neutralitätsbestimmungen in den Haager Konventionen – die längst durch die Uno-Charta ersetzt wurden – auch wegen der Schuldenbremse auf ein Minimum beschränkt.
Zum Beispiel mit der Verweigerung einer substanziellen Zahlungsbilanzhilfe an Kiew, die die Schweiz auch mit Mitteln in zweistelliger Milliardenhöhe jederzeit leisten könnte. Und damit ein weithin sichtbares Zeichen setzen würde, dass der «ältesten Demokratie» Europas die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit an sich etwas wert ist und ihre Neutralität mehr ist als ängstliche Nichteinmischung oder, schlimmer noch, Geschäftemacherei mit Aggressoren.
So steht die Neutralität, zumindest jene, die sich nach heutiger Praxis an die erwähnten, längst überholten Verträge klammert, auch für die Scheu, sich international massiv dort zu engagieren, wo schweizerische Werte auf dem Spiel stehen, wie heute in der Ukraine und längerfristig im China Xi Jinpings, das auf der «slippery slope» von der Autokratie zur Diktatur immer tiefer rutscht.
Europapolitik
Die Bilateralen III sind die derzeit einzig gangbare Lösung, um der Schweiz eine Brücke zur Europäischen Union (EU) und damit zum übrigen Europa sowie zum kontinentalen Binnenmarkt zu erhalten. Ein Europa, das über die EU gemeinsam auftreten will, um sich gegenüber den heutigen und künftigen Grossmächten USA, China, Indien/ASEAN und allenfalls auch Afrika behaupten zu können.
Aber nein, es sind wieder einmal die verschiedensten Partikularinteressen, die auf schweizerischem Klein-Klein beharren. Sei es die gewerkschaftliche Linke, die sich in Meldefristen für entsandte Arbeitnehmer verbeisst, wenn es in der EU um einen fairen und sozialen Ausgleich zwischen den verschiedenen Volkswirtschaften und den darin tätigen Unternehmen und Arbeitnehmern geht.
Sei es eine neue nationalistische Welle, ausgelöst und befeuert durch Zuger Venture Capital Investoren, die neben ihrer Anti-EU-Rhetorik vage auf überseeische Exportmärkte und die Schweiz als Singapur Europas verweisen. Singapur ist tatsächlich ein Kleinstaat ohne Agrarsektor und mit einer verschwindend geringen Industrieproduktion. Das Land ist in keiner Weise mit der Schweiz vergleichbar, wie der Autor als Schweizer Vertreter in diesem Kleinstaat vor Ort erfahren hat. Aber auch hier: helvetisches Bemühen, sich im internationalen Kontext politisch klein zu machen.
Verpflichtung
Als prosperierende Mittelmacht in Europa hat die Schweiz Verpflichtungen und ein eigenes Interesse an deren Erfüllung, die über die Landesgrenzen hinausgehen. Dazu gehört die aktive Mitwirkung an der Erhaltung eines prosperierenden und sicheren europäischen Umfeldes. Dies ist zum einen Voraussetzung für den eigenen Wohlstand, also eine Verpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Eine zweite Verpflichtung besteht darin, im europäischen Umfeld aktiv zu sein und zu bleiben.
Letzteres erfüllt die Schweiz heute nicht und immer weniger. Als einziges westeuropäisches Land sind wir weder Mitglied der EU noch der Nato und damit nicht Teil dieser beiden wichtigsten wirtschafts- und sicherheitspolitischen Pfeiler Europas. Umso dringender ist es, dass die Schweiz international sichtbar macht, dass sie zu Europa gehört und sich der damit verbundenen Verpflichtungen bewusst ist.
Daniel Woker