Mittwoch, April 30

Trotz neuen Waffen aus den USA hat Kiew vorerst keine Aussicht auf grössere Gegenoffensiven. Das droht sich auf die Moral auszuwirken.

Russland rückt an der Front weiterhin vor – in kleinen Schritten, aber stetig. Erfolge gelangen seiner Armee in letzter Zeit westlich der Donbass-Stadt Awdijiwka und im Gebiet Charkiw. Im Süden hält sie den Druck auf das im Rahmen der ukrainischen Gegenoffensive eroberte Dorf Robotine aufrecht. Die Truppen Kiews wehren aber den Grossteil der Angriffe weiterhin ab. Psychologisch wichtig für sie ist auch, dass sie den winzigen Brückenkopf am linken Ufer des Dnipro bei Cherson jüngst leicht verbreitern konnten.

Vor die grössten Probleme stellt die Ukrainer die Stabilisierung der Front bei Awdijiwka. Dort sind die Russen in den letzten zwei Wochen etwa ein Dutzend Kilometer vorgerückt. Sie halten nun einen schmalen Frontbogen, den sie nach ihrem Durchbruch im strategisch wichtigen Dorf Otscheretine nun verbreitern, zuletzt in Richtung Archanhelske.

Pessimistischer ukrainischer Geheimdienstgeneral

Auch wenn ein Kollaps der ukrainischen Front unwahrscheinlich scheint, sind die Analysten über die erdrückende Überlegenheit des Aggressors an Waffen und Soldaten besorgt. Wenn die Russen den Druck aufrechterhalten, könnten sie von Archanhelske her bald auf eine wichtige Kreuzung von zwei Logistikrouten vorrücken, welche die Verteidiger weiter nördlich versorgen.

Dort rennt der Invasor mit bis zu 25 000 Mann gegen die strategisch wichtige Kleinstadt Tschasiw Jar an. Diese liegt auf einer Anhöhe und verteidigt den Knotenpunkt Kostjantiniwka und die ukrainischen Donbass-Bastionen Kramatorsk und Slowjansk. Brechen die Russen auch in Tschasiw Jar durch, droht den Kämpfern im südlich davon liegenden Torezk mittelfristig die Einkesselung. Selbst Wadim Skibizki, der stellvertretende Direktor des ukrainischen Militärgeheimdienstes, hält die Eroberung von Tschasiw Jar für eine Frage der Zeit.

Der Generalmajor wählte im Interview von letzter Woche mit dem «Economist» einen äusserst nachdenklichen Ton. Skibizki erwartet im Mai weitere russische Offensiven, begleitet von Versuchen, die ukrainische Bevölkerung zu desillusionieren und die Regierung international zu isolieren. Eine solche intensivierte hybride Kriegsführung konstatierte am Sonntag die «Financial Times» auch für den Rest Europas.

Verschiedene Experten weisen darauf hin, dass Russlands Armee seit einiger Zeit in der Nähe von Charkiw mehrere zehntausend Soldaten zusammenzieht. Sie plant möglicherweise einen Angriff auf die seit Monaten unter Beschuss stehende Metropole und die benachbarte Region Sumi. Zwar bezweifelt auch Skibizki, dass der Feind über genügend Truppen für grosse Eroberungen verfügt. Doch die 514 000 Mann, die Moskau laut dem General gegen die Ukraine einsetzt, stellen ein riesiges Problem dar.

Erste amerikanische Lieferungen eingetroffen

Sein Land erlebe die schwierigste Phase seit den ersten Tagen des Krieges, sagt der Geheimdienstler. «Wir kämpfen weiter, wir haben keine Wahl. Aber der Ausgang des Krieges liegt nicht in unseren Händen.» Zwar haben die ersten zwei Lieferungen von amerikanischer Artilleriemunition die Ukraine erreicht. Bis das Gros an die Front gelangt, dürfte es aber noch Wochen dauern.

Selbst dann bleibt laut dem «Economist»-Artikel unsicher, ob der Nachschub genügt gegen Russlands riesige Produktion von Artilleriegeschossen und die Gleitbomben, die ganze Häuserzeilen vernichten und so die Ukrainer zum Rückzug aus Awdijiwka zwangen. Ändere sich nichts Grundlegendes, sagt Skibizki, gingen Kiew vor Moskau die Waffen aus.

Natürlich sind solche Wortmeldungen nicht vollständig zum Nennwert zu nehmen, dienen sie doch auch dazu, gerade die Europäer nach der Einigung in Washington auf neue Waffenhilfe nicht in Passivität fallen zu lassen. Dennoch sind so pessimistische Ausblicke wie jene von Skibizki ungewöhnlich. Sie spiegeln wohl auch Unsicherheit darüber, wie lange die Ukraine trotz intaktem Wehrwillen weiterkämpfen kann und worin ihr Kriegsziel besteht, nachdem grössere Rückeroberungen für Monate oder gar Jahre unwahrscheinlich geworden sind.

Gegenüber der «New York Times» erklärten amerikanische Beamte anonym, sie rechneten damit, dass die Ukraine die Front erst im Sommer oder im schlimmsten Fall gar Ende Jahr stabilisieren könne. Dennoch sprach der Sicherheitsberater Jake Sullivan bereits wieder von möglichen Gegenoffensiven Kiews 2025. Dafür brauchte es aber erheblich mehr Unterstützung, vor allem auch aus Europa.

Ukrainische Nadelstiche gegen Russlands Hinterland

Seit der Lieferung neuer amerikanischer Atacms-Raketen kann Kiew den russischen Truppen im Hinterland immerhin wieder Nadelstiche versetzen. So führten die Ukrainer jüngst erfolgreiche Angriffe gegen Militärflughäfen und die Luftverteidigung auf der Krim sowie im russisch besetzten Donbass durch.

In der Oblast Luhansk trafen sie mit Streumunition ein Feld, auf dem sich russische Soldaten für den Kampf vorbereiteten. Laut ukrainischen Berichten kamen über hundert Mann ums Leben. Auch solche Schläge haben allerdings mehr eine symbolische als kriegsentscheidende Bedeutung: Die Russen opfern selbst für kleinere Erfolge Tausende ihrer eigenen Soldaten und können die Verluste ersetzen.

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