Er gehörte zu den prominentesten Publizisten Deutschlands. Aber Sebastian Haffner war auch ein Schriftsteller von Rang. Mit über neunzig Jahren Verspätung erscheint sein Roman «Abschied». Die Geschichte einer Liebe. Und einer Katastrophe, die sich ankündigt.
Als sein bestes Buch erschien, war Sebastian Haffner schon anderthalb Jahre tot. Im Sommer 2000 kam die «Geschichte eines Deutschen» in die Buchhandlungen: Haffner erinnert sich darin an seine Kindheit und Jugend in Berlin und auf dem Landgut der Familie in Hinterpommern. Er schildert die goldenen Zwanziger. Und die Veränderung Deutschlands in den frühen Dreissigern, den Aufstieg des Nationalsozialismus. Präzis, hellhörig – ein Wurf.
Haffners Sohn hatte das Manuskript im Nachlass des Vaters entdeckt. Entstanden war es 1939, und eigentlich hätte es damals auch erscheinen sollen, in England. Ein Vertrag war bereits abgeschlossen. Doch dann begann der Krieg, und der Verlag fand auf einmal, das Buch sei zu wenig kämpferisch gegenüber dem Land, das zum Feind geworden war. Die Zeit verging, Haffner wurde zu einem der prominentesten politischen Publizisten Deutschlands. Das Buch blieb sechzig Jahre lang liegen, bevor es veröffentlicht wurde und zum Bestseller werden konnte.
Nun erscheint wieder ein Buch von Sebastian Haffner. Diesmal ein Roman. Auch er fand sich im Nachlass. «Abschied» ist die wunderbar leichte, flüchtig hingehauchte Geschichte einer Liebe, die vielleicht schon keine mehr war, bevor sie eine hätte werden können: Raimund, Referendar am Berliner Landgericht, fährt nach Paris. Er besucht Teddy, mit der er im Jahr zuvor in Berlin unvergessene Tage verbracht hat. Teddy, mit der das Leben so leicht war, dass man es fast vergessen konnte.
Doch das ist lange her. Um Teddy scharen sich die Verehrer, Franz, Horrwitz, ein Mister Andrews, der mysteriöse «Alte». Mit ihnen und Teddy zieht Raimund durch die Stadt, raucht Gitanes, trinkt chinesischen Tee und lässt die Zeit vergehen, die er eigentlich aufhalten möchte. Man spricht miteinander. Redet aneinander vorbei. Von Anfang an liegt über allem der Schatten des Abschieds. Die Stunden sind gezählt, am Sonntagabend fährt der Zug, der Raimund zurück in sein ungeliebtes Juristenleben führt. In ein Leben ohne Teddy.
Selig verträumte Stunden
Am Sonntagnachmittag verbringen die beiden zusammen ein paar selig verträumte Stunden im nasskalten Paris. Louvre, Venus von Milo, Trocadéro, Eiffelturm. Sie trinken Kaffee, reden über Belangloses, tanzen, lachen. Auf dem Bahnhof, der Zug steht schon bereit, kommen sie sich näher. Für Augenblicke. Küssen sich. Dann fährt der Zug: «Jetzt pfiff auch die Lokomotive. Ich höre es noch», so endet das Buch.
Das Ganze wird rasch erzählt. Ungekünstelt, in manchmal fast atemlosem Duktus. Seitenweise aufgelöst in Dialoge. Haffner schrieb «Abschied» im Herbst 1932, innert fünf Wochen. Vierundzwanzig Jahre alt war er damals, hiess noch Raimund Pretzel, arbeitete als Gerichtsassessor in Berlin und war unzufrieden. Er wollte mehr als den ganzen Tag nur Akten lesen und in steifem preussischem Amtsdeutsch Urteile verfassen. Schreiben wollte er. Das hatte er schon als Zwölfjähriger in seinem Tagebuch festgehalten.
«Ich habe etwas in mir, das schreiben muss», heisst es da so entschieden wie selbstbewusst. Dramatiker wollte er werden, auch das wusste er, und hatte sich bereits eine Reihe historischer Stoffe zurechtgelegt, um sie zu bearbeiten. Ein Stück schenkte er seinem Vater zum Geburtstag, «Die Horatier». Als Empfehlung scheint es seine Wirkung verfehlt zu haben. Der Junge hatte Talent, das wusste auch der Vater, der Rektor einer Berliner Schule war. Trotzdem empfahl er ihm nach dem Abitur, er solle Rechtswissenschaft studieren.
Das tat der Sohn. Aber nur mit halbem Herzen. Er schrieb weiter, in jeder freien Stunde. Keine Dramen mehr, dafür den Roman «Die Tochter», der 1929 als Fortsetzungsgeschichte in einer Hamburger Zeitung gedruckt wurde und einigen Erfolg hatte. Als Buch allerdings erschien er nie, obwohl das eigentlich geplant gewesen wäre. Er habe mehrere Verlage angefragt, schrieb sein Agent an den Autor. Alle hätten die Qualität des Buches erkannt. Aber sie wollten lieber warten, bis der wirklich grosse Roman des erfolgversprechenden jungen Autors kommen würde.
Der wirklich grosse Roman
Er kam nicht. Obwohl es ihn gab. Und obwohl auch dieser Roman, der jetzt mit mehr als neunzig Jahren Verspätung erscheint, von den ersten Lesern gelobt wurde. Ein Lektor attestierte Pretzel, er habe ein einfaches Geschehen «mit den reichen Mitteln seiner Sprachkunst zu einem für jeden Leser erregenden Ereignis» gemacht. Gedruckt wurde «Abschied» trotzdem nicht. Einige Schweizer Zeitungen zeigten Interesse, verschiedenen deutschen Blättern wurde er angeboten, aber letztlich fand sich kein Abnehmer.
Trotzdem verlegte sich Pretzel mehr und mehr aufs Schreiben. Für Berliner Zeitungen verfasste er Feuilletons. Alltagsbeobachtungen über männliche Eitelkeit, Rauchen, Trinken oder lästige Mitreisende im Zug. Er schloss das Studium ab, fuhr 1934 nach Paris, um seine Dissertation zu beenden, hätte sich gut vorstellen können, dort zu bleiben, kehrte schliesslich aber doch nach Berlin zurück. Das ungeliebte Metier des Juristen betrieb er allerdings nur noch nebenbei, aushilfsweise. Sein Geld verdiente er als Journalist.
Bis zum August 1938. Da verliess Raimund Pretzel Deutschland, um seiner Verlobten Erika Schmidt, die nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als Jüdin galt, in die Emigration nach England zu folgen. Das Paar zog nach London. Pretzel wurde zum politischen Journalisten, der für die angesehensten britischen Zeitungen schrieb. In einem Buch, das 1940 unter dem Titel «Germany: Jekyll and Hyde» erschien, erklärte er den Briten sein Heimatland. Um seine Angehörigen in Deutschland nicht in Gefahr zu bringen, veröffentlichte er seine Texte nicht mehr unter seinem richtigen Namen, sondern nannte sich Sebastian Haffner, nach Johann Sebastian Bachs zweitem Vornamen und Mozarts Haffner-Sinfonie.
Den Namen, unter dem er in England bekannt geworden war, behielt er für den Rest seines Lebens bei. Auch als er 1954 wieder nach Deutschland zog. Nach dem Krieg war Haffner britischer Staatsbürger geworden und hatte vor allem für den «Observer» geschrieben: Er verfasste politische Analysen, Reportagen aus dem kriegszerstörten Europa, Porträts von Menschen, die die Zeitläufte prägten. Als Vertrauter und Berater von David Astor, dem Herausgeber und Chefredaktor des «Observer», bestimmte er die Linie der Zeitung entscheidend mit.
Hitlers Leere
Anfang der fünfziger Jahre kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Haffner plädierte dafür, die konfrontative Haltung des Blattes im Ost-West-Konflikt aufzugeben und eine Politik der Entspannung zu vertreten. Astor trug das nicht mit, Haffner kehrte als Deutschlandkorrespondent nach Berlin zurück, war für den «Observer» tätig. Anfang der sechziger Jahre kündigte er. Auch dafür waren politische Differenzen verantwortlich: Nach dem Bau der Mauer ärgerte sich Haffner über seinen Verleger. Nun war ihm dessen Haltung zu Ostdeutschland zu konziliant. Es war einer der politischen Seitenwechsel, die Haffner im Lauf seines Lebens vollzog.
Um sein Auskommen brauchte sich Haffner keine Sorgen zu machen. Er gehörte zu den renommiertesten Journalisten Deutschlands, seine Texte waren gefragt. Er diskutierte in Fernsehtalkrunden, kommentierte für die «Welt» das Zeitgeschehen und schrieb in «Christ und Welt» über die DDR. 1962 überwarf sich Haffner mit den beiden Redaktionen und wechselte als Kolumnist zum «Stern», für den er wöchentliche Kolumnen schrieb. Klug, engagiert, manchmal allerdings mit erschreckend wenig Augenmass.
Das Vorgehen der Berliner Polizei gegen die protestierenden Studenten im Juni 1967 bezeichnete er als «Greuel, wie sie ausserhalb der Konzentrationslager selbst im Dritten Reich Ausnahmeerscheinungen gewesen sind». Nun verteidigte er die Zweistaatlichkeit Deutschlands und fand sogar verständnisvolle Worte für Walter Ulbricht. Auch mit dem «Stern» kam es schliesslich zum Bruch, als sich die Redaktion weigerte, einen Text zu drucken, in dem sich Haffner positiv über den spanischen Diktator Francisco Franco äusserte.
Neben so platten Ausrutschern stehen scharfsinnige Analysen über den Nationalsozialismus, die noch heute zum Besten gehören, was man lesen kann. In den 1978 erschienenen «Anmerkungen zu Hitler» entwarf Haffner das beklemmende Psychogramm eines Versagers, dem alles gefehlt habe, was einem Menschenleben Wärme und Würde gibt. Kein Machiavellist, dafür ging ihm aus Haffners Sicht die Grösse ab, sondern ein Gefangener seiner Ressentiments, der aus persönlicher Kälte und Leere das Schicksal von Millionen Menschen seinem Lebensplan unterordnete.
Krieg
Eines stand für Haffner fest: Hitler war kein Schicksal, das über Deutschland kam. Dass sich niemand ihm entgegenstellte, bedeutete für Haffner nicht, dass er unaufhaltsam gewesen wäre. In der «Geschichte eines Deutschen» schilderte er, wie sich die Atmosphäre in Deutschland nach und nach vergiftete und wie sich Antisemitismus und Kriegsbegeisterung breitmachten. So feinsinnig, dass beim Erscheinen des Buchs der freilich haltlose Verdacht geäussert wurde, es sei nicht 1939, sondern später, aus der Rückschau geschrieben.
Auch in «Abschied» macht sich die Vorahnung des Kriegs bemerkbar. Franz, einer von Teddys Verehrern, wünscht sich nichts so wie Krieg: «Ich bin ja so wütend, sag ich Ihnen. Ich möcht gleich Krieg gegen Frankreich führen, aber so richtig, mit Gift und Galle.» Warum, weiss er selbst nicht. Niemand nimmt ihn ernst. Aber die Katastrophe liegt in der Luft. Sie ist spürbar. Und niemand weiss, wann sie ausbrechen wird. «Abschied» ist die Geschichte einer Liebe, die verfliegt. Und eine Momentaufnahme der Zwischenkriegsgeneration, die mit offenen Augen ins Unglück taumelt.
Sebastian Haffner: Abschied. Roman. Hanser-Verlag, München 2025. 192 S., Fr. 34.90.