Zürich war einst die Stadt der Zünfte. Heute haben sich Politik und Wirtschaft voneinander entfremdet. Die Passivität der Unternehmer rächt sich.
Sechseläuten – das ist das zürcherischste Fest überhaupt. Und das unzürcherischste.
Am Montag putzt sich die grösste Stadt der Schweiz heraus. Sie präsentiert sich als Stadt der Zünfte, als Stadt der Geschäftstüchtigkeit. Die Zünfter ziehen in Samt und Seide durch die beflaggten Strassen, dem Sechseläutenplatz und dem Böögg entgegen.
Schneider, Schmiede, Zimmerleute, Schuhmacher, die klassischen Gewerbezweige in Formation – auch wenn heutzutage vor allem Banker, Berater und Juristen in den traditionellen Kostümen stecken. Die Botschaft ist klar: Hier marschiert, wer Zürich vorwärtsbringt.
Am Umzug wird an Rudolf Bruns Zunftverfassung aus dem 14. Jahrhundert erinnert. Ein revolutionäres Dokument. Nicht der Adel oder der Klerus, sondern Handwerker und Kaufleute bestimmten fortan in Zürich, wo es langging – eine Seltenheit im mittelalterlichen Europa.
Erinnert wird auch an das 19. Jahrhundert, als die Stadt im Umbruch war. Die Zünfter verloren damals ihre Privilegien und mussten sich neu erfinden. Das Frühlingsfest mit dem Böögg-Verbrennen, wie man es heute kennt, ist ein Zeugnis davon.
Heute regieren die Umverteiler
Das Sechseläuten ist eine schöne Tradition. Eine, die ideell eigentlich bestens zum Wirtschaftszentrum des Landes passt. Heute wirkt sie jedoch zunehmend abwegig, wenn man die realen Verhältnisse im rot-grünen Zürich betrachtet.
Für die bestimmende Linke ist der Anlass ein Graus. Dass die meisten Zünfte bis heute reine Männerzirkel sind, geht gegen die Gleichstellung. Dass Pferde um den brennenden (und knallenden) Böögg galoppieren, gegen den Tierschutz. Dass sich manche Kämbel-Zünfter die Gesichter braun anmalen, gilt als rassistisch («Brownfacing»). Und dass die Bäckergesellen vom Grossmünster aus Semmeli in die Menge werfen, führt zu Food-Waste.
Alles falsch, alles blöd, finden die Sechseläuten-Verächter. Ganz so weit wie der Historiker Valentin Groebner gehen sie zwar nicht. Der Mediävist schlug in der NZZ vor, das Fest ganz abzuschaffen und durch etwas Zeitgemässeres zu ersetzen. Groebner erwähnte ein Reenactment der Opernhauskrawalle.
Nein, die meisten Linken in Zürich bevorzugen eine andere Methode. Für sie ist das Sechseläuten eine Restanz, eine Lächerlichkeit. Die «Bonzenfasnacht», ein letztes Aufbäumen der vermeintlichen städtischen Bourgeois, die man nicht ernst nehmen muss und am besten durch Nichtbeachtung straft.
Und tatsächlich ist es ja so. Während die Zünfter einmal im Jahr die Innenstadt in Beschlag nehmen und sich mit Blumen beschenken lassen, bauen die anderen im Rest des Jahres die Stadt um. Sechseläuten ist an einem Tag im Jahr, der 1. Mai an den übrigen 364.
Wirtschaft und Gewerbe, die sich am Frühlingsfest feiern, verlieren in Zürich konstant an Einfluss und Bedeutung. Tonangebend sind heute andere Kreise: die Sozialdemokraten, die Grünen, die Alternativen, die Gewerkschaften, die Velo-Lobby, der Mieterverband. Stadtregierung und -parlament sind fest in der Hand von notorischen Umverteilern, die von der freien Wirtschaft wenig Ahnung haben. Woher das Geld kommt, das sie verschieben, kümmert sie nicht. Steuergelder sind in erster Linie zum Ausgeben da.
Als der grüne Finanzvorsteher der Stadt kürzlich erneut einen saftigen Überschuss von über 500 Millionen Franken präsentierte, dauerte es nicht lange, bis die SP ihre Wunschliste präsentierte. Es brauche nun ein millionenschweres «Kaufkraftpaket» für die Bevölkerung.
Die grösste Partei der Stadt meint damit: noch mehr Geld für Eltern, die ihre Kinder in eine Krippe schicken. Noch mehr Zuschüsse an die private Krankenversicherung (bis zu 500 Franken pro Person). Noch stärker vergünstigte ÖV-Tickets (ein Jahresabo für 365 Franken). Dazu eine «noch energischere Wohnoffensive». Dies, obschon die Stadt in den letzten drei Jahren bereits Wohnungen für eine Milliarde Franken zusammengekauft hat. Oder «der Spekulation entzogen hat», wie es die SP nennt.
Wer das alles bezahlt, erwähnt die Partei nicht. Das Geld ist einfach da, weil «die Stadt Zürich finanziell sehr erfolgreich ist».
Zu den Fakten: 1 Milliarde Franken trugen im vergangenen Jahr allein die erfolgreichen Firmen in der Stadt bei, massgeblich jene des Finanzplatzes. 2 Milliarden kommen von den privaten Steuerzahlern. 500 Millionen stammen aus den Grundstückgewinnsteuern. Jeder Franken, der ausgegeben wird, muss zuerst irgendwo verdient werden.
Eine stillschweigende Abmachung endet
Das viele Geld macht verschwenderisch. Statt die Steuern zu senken, überbietet sich die heute herrschende Klasse in der Stadt mit immer extremeren Forderungen. Und anders als früher finden sie dafür bequeme Mehrheiten.
Das ist auch selbst verschuldet. Während die Zünfter von früher sich ganz selbstverständlich um die Geschicke Zürichs kümmerten und diese aktiv gestalteten – durchaus auch aus eigennützigen Interessen –, ist die vielgescholtene Wirtschaftselite heute politisch kaum mehr präsent.
Unternehmer und andere liberale Geister ziehen in steuergünstigere Agglomerationsgemeinden, statt sich in der Stadt lokal zu engagieren. Aus sicherer Distanz wettern sie über hohe Steuern, eine autofeindliche Politik, immer mehr Bevormundung bis hin zu einem Laubbläserverbot. Wer will es ihnen verübeln?
Unternehmen scheuen den politischen Diskurs. Das zeigt sich zurzeit im kantonalen Abstimmungskampf zur immens wichtigen Reform der Firmensteuern. Mit einer Senkung des Steuersatzes würde der Kanton Zürich etwas Boden gutmachen; heute dümpelt er im kantonalen Steuerranking auf dem zweitletzten Platz, knapp vor Bern.
Doch je grösser die Unternehmen, desto zurückhaltender positionieren sie sich in dieser Frage. Die Überzeugungsarbeit überlassen sie den Verbänden. Kaum jemand will sich exponieren – sei es aus Angst, Kunden mit anderen Meinungen zu verprellen, sei es, weil sie sich schlicht zu wenig für die Gegebenheiten vor Ort interessieren. Welch Gegensatz zu den alten Zünften!
Die Passivität rächt sich. Lange hatte die stillschweigende Abmachung in Zürich Bestand: Unternehmen zahlen in der Stadt zünftig Steuern und bieten Arbeitsplätze, dafür garantiert die Politik gute, einigermassen liberale Rahmenbedingungen. Doch diese Vereinbarung gilt heute nicht mehr.
Sinnbildlich dafür, wie weit sich Wirtschaft und Politik in Zürich voneinander entfremdet haben, steht das Werbeverbot, das Rot-Grün kürzlich im Parlament beschlossen hat. Aussenwerbung soll in der Stadt auf ein Minimum reduziert werden – auch auf Privatgrund.
Reklame manipuliere, führe zu «Überkonsum» und sei schädlich für das Klima, argumentierten die Linksparteien. Die über 5000 Arbeitsplätze, die in der Stadt von der Werbebranche abhängen, erwähnten sie mit keinem Wort. Auch nicht die zahlreichen kleinen und mittleren Unternehmen, die Werbung nutzen, um ihre Produkte und Dienstleistungen an die Frau und den Mann zu bringen.
Das beschlossene Verbot ist ein Schlag ins Gesicht der arbeitenden Bevölkerung. Für die rot-grünen Parlamentarier ist es hingegen «eine Massnahme zur ökosozialen Transformation unserer Konsumgesellschaft».
Ein anachronistisches Fest
Ähnlich verblendet äussern sich Grüne und Alternative, wenn es um die Beteiligung der Stadt am Flughafen geht. Auch darüber stimmen die Zürcher Mitte Mai ab. Anstatt weiterhin über diese für den Wirtschaftsstandort Zürich zentrale Verkehrsinfrastruktur mitzuentscheiden, wollen die beiden linken Parteien die Flughafenaktie abstossen.
Die 5-Prozent-Beteiligung sei nicht konform mit den Klimazielen der Stadt, finden sie. Das Geld aus dem Erlös solle man in «nachhaltige Verkehrsmittel» stecken, sprich: noch mehr Velowege bauen. Zudem brauche es für internationale Beziehungen und Geschäfte in Zürich gar keinen Flughafen. «Wir haben ja auch einen grossen Bahnhof», meinte eine linke Wirtschaftspolitikerin allen Ernstes.
Dazu passt eine neue Volksinitiative, die links-grüne Kreise ergreifen. Sie fordern eine «Verkehrswende» und meinen damit das Gleiche wie immer: noch weniger Autos, noch mehr Velos. Feierlich lanciert wird das Volksbegehren ausgerechnet diesen Sechseläutenmontag um 17 Uhr, eine Stunde bevor es dem Böögg an den Kragen geht. Provokativer kann man den heutigen Zünftern und den Werten, für die sie stehen, nicht zeigen, für wie vernachlässigbar man sie hält.
Wie auch immer: Um 18 Uhr brennt der Scheiterhaufen auf dem Sechseläutenplatz (sofern der Wind nicht zu stark bläst). Im Mittelalter läuteten die Kirchenglocken um diese Zeit, um im Frühling das spätere Arbeitsende zu markieren – ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Tage länger wurden. Im Winter hingegen mussten die Handwerker früher Feierabend machen, weil die Dunkelheit hereinbrach.
Das Sechseläuten feiert somit auch den Beginn längerer Arbeitstage – eine Vorstellung, die im Zürich von heute, wo lauthals Mindestlöhne, längere Ferien und Teilzeitpensen gefordert werden, herrlich anachronistisch wirkt.
In die Zeiten der Zunftstadt muss Zürich nicht zurück. Aber Arbeit, Leistung und Erfolg sollten in der vermeintlichen Wirtschaftsmetropole der Schweiz wieder einen höheren Stellenwert erhalten. Es nützt am Ende allen etwas – auch den grössten Sechseläuten-Verächtern.