Montag, November 25

Konservative verehren ihn als Helden, Linke schmähen ihn als Rassisten: Dem Ruhm von Winston Churchill kann das kaum etwas anhaben.

Am 29. Juli dieses Jahres fuhr ein Jugendlicher gegen Mittag mit einem Taxi vor das Gemeindezentrum der englischen Hafenstadt Southport. Im Zentrum fand gerade ein Tanzkurs für Kinder statt. Der junge Mann stieg aus dem Auto, betrat das Gebäude und begann mit einem Küchenmesser wahllos auf die Anwesenden einzustechen. Er tötete drei Mädchen im Alter von sechs, sieben und neun Jahren und verletzte acht weitere Kinder zum Teil schwer.

Unmittelbar nach der Attacke kam es in ganz England zu Protestaktionen gegen Gewalt und gegen die Einwanderungspolitik der Regierung. Und zu Ausschreitungen. Moscheen wurden mit Farbe beschmiert. Wütende Demonstranten belagerten den Sitz des Premierministers an der Downing Street in London, warfen Bierdosen gegen die Eingangstür und skandierten «Shame on you!». Zwei Strassen weiter, beim Parlamentsgebäude, wurde das Standbild von Winston Churchill mit Feuerwerkskörpern beschossen.

Es war nicht das erste Mal, dass Demonstranten das Churchill-Denkmal angriffen. Im Frühling 2020, nachdem George Floyd in Minneapolis von einem Polizisten getötet worden war, wurden überall in der Welt Standbilder des britischen Kriegspremiers besprayt. Das in London auch. «Churchill was a racist» und «Black lives matter», schrieben Aktivisten auf den Sockel und überschütteten das Denkmal mit roter Farbe. Es musste vorübergehend mit Holzplatten abgesperrt werden.

Was Winston Churchill mit der Tötung eines Schwarzen in den USA und dem Mord an drei kleinen Mädchen in Southport zu tun hat? Nichts. Aber in England ist der untersetzte Mann mit Melone und Zigarre ein Symbol, das bei fast jeder Protestaktion ins Visier genommen wird. Egal, worum es geht. Rund sechzig Jahre nach seinem Tod ist Churchill noch immer eine zentrale Gestalt für Englands Identität. Und eine Reizfigur. In wenigen Wochen, am 30. November, steht sein 150. Geburtstag auf der Agenda des nationalen Gedenkens. Einmal mehr werden die Diskussionen aufflammen: Wer war Winston Churchill? Und verdient er die Denkmäler, die man ihm errichtet hat?

Entlarven, nicht verehren!

Von den Konservativen wird Churchill verehrt. Als Politiker, dem es zu verdanken ist, dass Europa vom Nationalsozialismus befreit wurde. Ohne Churchill würde England Deutsch sprechen, lautet ein geflügeltes Wort der Briten. Weil er sich durch nichts vom Kampf gegen Hitlerdeutschland abbringen liess. Auch nicht vom Druck des Parlaments, das nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 darauf drängte, mit Hitler ein Friedensabkommen zu schliessen. Churchill ist für sie der Mann, der Grossbritannien im Alleingang als letztes Bollwerk gegen Hitler gehalten und die freie Welt gerettet hat.

Für die Linke ist Churchill alles, nur kein Held. Ein elitärer Konservativer mit einer gefährlichen Begeisterung für den Krieg. Einer, der sich nie damit abfinden konnte, dass Frauen wählen dürfen, der Inder und Schwarze für minderwertig, Weisse und besonders Angelsachsen von Natur aus für überlegen und für allein zur Herrschaft befähigt hielt. Eine Gestalt, die nicht verehrt, sondern entlarvt werden muss: als Rassist, Kolonialist, Imperialist und Sexist.

Belege dafür finden sich leicht. Churchill war ein Exzentriker, der sagte, was er dachte. Wenn es politisch unkorrekt war, umso mehr. Von Schwarzen sprach er als «niggers», von Chinesen als «chinks», und Afrikaner waren für ihn «Hottentotten», nicht reif für das allgemeine Wahlrecht. Die Inder hielt er «für das tierischste Volk nach den Deutschen», Mahatma Gandhi nannte er einen «halbnackten Fakir». Und Frauen? Sie sollte man verehren, fand Churchill. In der Politik aber hätten sie nichts zu suchen. Für die Kämpfe des politischen Lebens seien sie viel zu schade – und von Natur aus ungeeignet.

Churchills Rassismus, sein kolonialistisches Denken, seine Vorurteile über Frauen: Das alles lässt sich nicht leugnen. Es ist allerdings auch nicht neu. Seine Ansichten galten schon vielen seiner Zeitgenossen als rückständig. Und nach den schwärmerischen Biografien, die in den fünfziger Jahren erschienen, haben britische Historiker spätestens ab den siebziger Jahren immer wieder auf die problematischen Seiten des Nationalhelden hingewiesen. Auch auf die des Politikers Churchill, der fatale Fehlentscheide zu verantworten hatte.

Der Grösste aller Briten

Im Ersten Weltkrieg ordnete Churchill als First Lord der Admiralität die Landeoperation in Gallipoli an, die erfolglos war und mehr als hunderttausend Soldaten das Leben kostete. Die grösste humanitäre Katastrophe im British Empire, die Hungersnot in Bengalen 1943, soll er zumindest in Kauf genommen haben. Nachdem Japan Burma besetzt hatte, vernichteten die Briten Reisfelder und lieferten weniger Lebensmittel, um die Ladekapazität der Schiffe anderweitig einzusetzen. Millionen von Menschen verhungerten. Ob das direkt auf Churchills Befehl zurückging, ist umstritten. Am Entscheid beteiligt war er sicher.

Seinem Ansehen hat das kaum geschadet. Bis in die jüngste Zeit. Im Jahr 2002 strahlte die BBC Filmporträts der «100 Greatest Britons» aus und bat das Publikum, den Grössten unter den Grössten zu wählen. Über eine Million Zuschauer nahmen an der Abstimmung teil. Das Resultat war eindeutig: Der grösste Brite ist Sir Winston Churchill. Queen Elizabeth II. schaffte es nur auf Platz sieben, hinter Isambard Kingdom Brunel, dem Erbauer der Great Western Railway, Prinzessin Diana, Charles Darwin, William Shakespeare und Isaac Newton.

Die Sache hat allerdings einen Haken. Nach der Wahl zeigte eine zweite Erhebung, dass rund zwanzig Prozent der Befragten gar nicht so genau wussten, wer Winston Churchill eigentlich ist. Die meisten hielten ihn für eine Romanfigur.

Für den Historiker Andrew Roberts, Professor am King’s College London und Verfasser einer grossen Churchill-Biografie, ist das ein alarmierendes Zeichen für den Zustand des Geschichtsunterricht an den englischen Schulen. Die imperiale Vergangenheit Grossbritanniens werde demontiert, klagt er. In den Schulen, so klagt er in der «Mail on Sunday», werde den Kindern beigebracht, dass sich die Briten für ihre Vergangenheit schämen und die Vorfahren dafür verachten müssten, dass sie das Empire begründet und verteidigt hätten.

Von der Grösse des Empires und vom heldenhaften Kampf Englands gegen den Faschismus sei kaum mehr die Rede. Um Rassismus, Kolonialismus und Sklavenhandel gehe es in diesem Kulturkampf nur vordergründig, sagt Roberts überzeugt. Es gehe um die nationale Identität Englands. Das heisst: Wenn die Briten über Churchill reden, reden sie immer auch über sich selbst. Und darüber, wie und was sie sein wollen.

Der ganz normale Rassismus

Das erklärt die Schärfe der Kritik. Und die Empfindlichkeit, mit der konservative Historiker darauf reagieren und sich bemühen, für jeden Makel eine Entschuldigung zu finden. Auch da, wo es keine gibt. Dass Churchills Haltung gegenüber Indern, Arabern und Schwarzen rassistisch war, lässt sich nicht aus der Welt reden. Ebenso wenig aber auch die Tatsache, dass Rassismus in Churchills Generation und in dem Umfeld, in dem er aufgewachsen ist, durchaus normal war.

Churchills Haltung gegenüber Frauen war von Herablassung geprägt. Obwohl Clementine Hozier, mit der ihn eine lange und glückliche Ehe verband, eine engagierte Frauenrechtlerin war. Da zeigt sich die seltsame Mischung aus Liebenswürdigkeit, Unsicherheit und Arroganz, die nicht untypisch ist für einen Sohn aus adeliger Familie, der in Elite-Internaten und in der Militärakademie sozialisiert wurde.

Das alles gehört zum Bild der historischen Gestalt. Die grosse Leistung Churchills wird davon nicht berührt: der erfolgreiche Kampf gegen den Faschismus. Churchill sah von Anfang an, dass ein Friede in Europa nur möglich ist, wenn Hitler besiegt wird. Er brachte seine Landsleute dazu, weiterzukämpfen, auch in fast aussichtslosen Situationen.

«Wir werden unsere Arbeit tun»

Er schaffte es nicht zuletzt deshalb, weil er nur das tat, was er selbst für richtig hielt. Zweimal in seiner politischen Laufbahn wechselte er die Partei. Zunächst von den Konservativen zu den Liberalen, 1924 wieder zurück. Freunde machte er sich damit keine. Aber das kümmerte ihn nicht. Es gehört zum Bild eines Staatsmanns, bei dem es viel zu kritisieren gibt. Aber auch genug Gründe, ihn zu bewundern.

Dass sein Denkmal in London nach der Bluttat von Southport attackiert wurde, zeigt, wie beliebig der politische Bildersturm geworden ist. Es macht aber auch deutlich, dass Churchill als Symbolfigur des heroischen Widerstands nach wie vor lebendig ist. Nicht nur in England. In seiner Rede vor der Uno hat sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu im Juli dieses Jahres offen mit Churchill verglichen. «Unsere Feinde sind auch eure Feinde», mahnte er die USA und bekräftigte die Forderung nach raschen Waffenlieferungen mit dem Satz: «Give us the tools faster and we’ll finish the job faster.»

Das war eine Anspielung. Am 9. Februar 1941 hatte Winston Churchill den amerikanischen Präsidenten in einer Radioansprache um Waffen gebeten: «Give us the tools and we’ll finish the job», sagte er damals. «The job», das war für Churchill der Kampf gegen Nazideutschland. Für Netanyahu ist es der Kampf gegen die Feinde Israels, besonders Iran. Im Juli 1945, unmittelbar nach dem Krieg, musste Churchill seinen Posten räumen. Er wurde abgewählt. Ob Netanyahu sich dessen bewusst ist?

Exit mobile version