Sonntag, April 13

Es gibt Automaten, die verkaufen gestrandete Rücksendungen. Was nach einer modernen Wundertüte klingt, offenbart die Abgründe des Onlinekonsums.

Er steht in einem Hinterhof, versteckt hinter einer Hecke. Fast so, als müsste er sich schämen. Dabei verkauft dieser Automat nur das, was andere nicht mehr haben wollen. Schön aufgereiht, in grauen, braunen oder weissen Paketen, befinden sich Fehlkäufe. Dinge also, die Menschen online bestellt, aber für ungenügend empfunden haben.

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Retouren. Rücksendungen. Aus unterschiedlichen Gründen im Niemandsland zwischen Käufer und Verkäufer gelandet.

Der schwarze Automat befindet sich in St. Gallen, auf der Terrasse eines Irish Pub. Er sieht aus wie eine Selecta-Box am Bahnhof. Doch anstatt Snickers oder Cola kann man hier sogenannte Mystery-Pakete kaufen. Oder Secret Packs, wie sie auch genannt werden.

Dahinter steckt ein Trend, der in Deutschland bereits weit verbreitet ist. Auf sozialen Netzwerken finden sich zahlreiche Videos von Menschen, die an solchen Automaten erwartungsvoll fremde Rücksendungen kaufen, in der Hoffnung, ein Smartphone auszupacken oder wenigstens eine halbwegs witzige Tasse.

Das Geschäftsmodell funktioniert nach dem Prinzip Wundertüte: Wer eine Retoure kauft, weiss nicht, was ihn erwartet. Es lockt der schnelle Gewinn, der Überraschungscoup.

Mit dem St. Galler Secret-Packs-Automaten kommt der Trend nun auch in die Schweiz. Er erlaubt einen Einblick in die Warenkörbe der anderen. Und er offenbart ein Handeln mit Produkten, die so billig sind, dass sie meist keiner mehr haben will.

In St. Gallen erkaufen wir uns diese Einblicke – und machen unsere ersten Erfahrungen mit den Mystery Packs: Ein kleines Paket kostet 15 Franken, ein grosses 16 Franken 50. Wir nehmen vier grosse und vier kleine. Auf allen kleben Rücksende-Etiketten. Alle sind geschwärzt. Fast alle.

Neben dem Automaten steht ein schwarzer Müllcontainer (Aufschrift: «benehmt EUCH nicht wie Voll Assis. DANKE»). In der Tonne befindet sich ein flachgedrückter Weihnachtsmann mit rotem Filzhut und einem undefinierbaren Körper aus Plastik-Thuja.

Ist es diese Art von Krempel, die uns da erwartet?

Wie Weihnachten mit schlechten Geschenken

In der Redaktion nehmen wir das erste Paket in die Hand. Ein rosarotes. Ein Spielzeug für Kleinkinder? Fast. Es ist ein Bastelset. Ein Holzherz zum Selberverzieren, mit zwei Pinselchen, Klebeherzchen, Farben, Glitterleim. Alles sehr rosa, alles sehr glänzend.

Immerhin kein Thuja-Nikolaus.

Das nächste Paket sieht aus wie ein dicker Brief. Durch die Verpackung spürt man undefinierbare Hubbel. Kleine Globen? Radiergummis?

Nein, es sind Gummibälle, dazu noch schlecht gemachte, mit dicken, sichtbaren Nähten an der Seite.

Fünf Gummibälle für 15 Franken: Dagegen ist der Thuja-Chlaus ein Tombola-Hauptgewinn.

Jetzt muss etwas Schönes her: das geblümte Paket. Es ist kompakt, etwas schwerer. Ein Espressokocher? Nein, ein Campinglicht für Prepper, mit Solarpanel und Dynamokurbel.

Die Lampe ist komplett aus Plastik und fühlt sich billig an. Sie funktioniert, doch das Licht ist grell, eine gemütliche Campingatmosphäre mag damit nicht aufkommen.

Nun ist das kleinste Paket an der Reihe. Von der Form her könnte es eine Smartwatch sein.

Es ist ein «Children’s Nail Sharpener». Ja, dieses Produkt feilt und poliert tatsächlich Fingernägel von Neugeborenen und etwas älteren Kleinkindern. Wie bloss konnten Generationen vor uns ohne das überleben?

Die Fehlklicks der anderen

Ein Holzherz, ein Campinglicht, Gummibälle und ein Nagelfeilgerät: Die Zwischenbilanz ist ernüchternd. Es fühlt sich ein bisschen so an wie bei diesen Automaten an der Autobahnraststätte. Die mit dem Joystick und dem Greifarm, wo man versuchen muss, das iPhone in der Mitte zu krallen, aber am Ende meist leer ausgeht.

Nur, beim Secret-Packs-Automaten wünscht man sich, leer ausgegangen zu sein. Denn hier kauften wir uns mit jedem Paket ein Problem ein. Das hier sind keine Wundertüten. Das hier sind weiterverkaufte Enttäuschungen. Die Fehlklicks der anderen.

Sie stammen von Menschen, die diese Produkte tatsächlich bestellt haben. Doch spätestens, als sie die Sendung zu Hause auspackten, bedauerten sie es. Sie klebten den Karton wieder zu und brachten das Paket zurück zur Post.

Dieser Vorgang ist zu einem Schweizer Volkssport geworden: Laut einer Befragung des Logistikunternehmens DPD aus dem Jahr 2023 sind wir Europameister im Retournieren. Fast jedes dritte bestellte Paket senden wir zurück.

Die meisten dieser Sendungen landen beim Onlinehändler, der die Ware prüft und wieder verkauft.

Warum aber sind das Campinglicht, das Holzherz, warum sind die Gummibälle und der «Nail Sharpener» in dem St. Galler Hinterhof gelandet?

Anruf bei Fabian Lau, einem der beiden Betreiber des Automaten. Er sagt, die Pakete seien originalverpackte Retouren. Sie stammten von Grosshändlern. «Wir kaufen sie palettenweise bei verschiedenen Playern, bei Amazon, DHL, Hermes, querbeet.»

Die Sendungen kämen ursprünglich aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Aber so genau äusserten sich die Grosshändler nicht dazu.

Lau betont, er wisse selbst nicht, was sich in den Paketen befinde. Auf unsere enttäuschende Ausbeute angesprochen, sagt er: «Der Inhalt variiert stark. Aber die meisten Leute freuen sich über die Produkte. In unserer Tonne wird nicht viel weggeschmissen.» Der Automat werde täglich aufgefüllt, die Kunden berichteten unter anderem von Drohnen, einer Smartwatch oder dem Auslaufmodell eines Samsung-Klapphandys.

Also gut, zweiter Versuch. Vielleicht steckt in den nächsten Paketen kein «Nail Sharpener» mehr drin, sondern ein Smartphone.

Anstatt eines Samsung-Klapphandys finden wir eine Samsung-Handyhülle. Und eine Militärmütze aus Polyester mit dem Aufdruck «U.S.S.R.».

Die Handyhülle kann man brauchen, hätte man das passende, zwei Jahre alte Smartphone. Und die Mütze ginge auch, wären wir wieder in den nuller Jahren, als der Post-Sowjet-Chic noch cool war.

Das nächste Paket ist schon fast klassisch braun. Es enthüllt eine schwarze Box mit zwei sorgsam eingebetteten LED-Glühbirnen für Autos. Sie sind wertiger verpackt als die anderen Produkte. Ist das endlich etwas, das man teuer weiterverkaufen kann?

Nein, ein Weiterverkauf lohnt sich wohl nicht. Die Hoffnung schwindet. Auch mit dem zweitletzten Paket.

Es ist schwarz, fühlt sich weich und hart zugleich an. Ein Plüschtier auf einem Sockel? Nein. Einfach nur ein Haufen unnützer Kram.

Die Brosamen des Onlineshoppings

Langsam wird klar, warum die Onlinehändler diese Retouren nicht mehr zurückhaben wollen. In den meisten Paketen stecken keine iPhones, keine Smartwatches. Das ist bestenfalls C-Ware. Oder in einigen Fällen einfach nur Müll. Wie der Thuja-Nikolaus.

Es sind die Brosamen des Onlineshoppings, gestrandete Dinge aus Plastik. Produkte, die einfach zu billig sind – und der Aufwand zu teuer, sie wieder zu verkaufen.

Die Retoure wird damit zur Farce. Im besten Fall landen die Sendungen auf einem Wühltisch, oder eben: in einem Secret-Packs-Automaten. In den meisten Situationen werden sie wohl weggeworfen. Neuwertig.

Wie oft das in der Schweiz passiert, ist nicht bekannt. Die Universität Bamberg hat jedoch Zahlen für Deutschland errechnet: Über alle Produktgruppen hinweg landen etwa 3 Prozent aller Retouren im Müll. Das entspricht ungefähr 20 Millionen Artikeln im Jahr.

Was das für Produkte sind, weiss Björn Asdecker. Er beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Rücksendungen von Onlinebestellungen und leitet in Bamberg die Forschungsgruppe Retourenmanagement. Asdecker sagt: «Die Hälfte dieser Sendungen müssen die Händler wegwerfen, weil sie verschmutzt oder kaputt sind. Man kann sie schlicht nicht mehr wiederverkaufen.»

Und die andere Hälfte? «Hier lohnt sich der Rücktransport nicht, da er mehr kostet, als das Produkt neu in China zu kaufen.» Jährlich würden damit in Deutschland unnötig Millionen fabrikneuer Produkte verschrottet.

So gesehen könnten Secret-Packs-Automaten die Rettung vor dem Schredder sein. Doch Asdecker relativiert: «Die Entsorgung wird hier einfach auf den Konsumenten übertragen – denn in solchen Automaten findet man selten Produkte, die man wirklich brauchen kann.»

Der Anteil an weggeschmissenen, neuwertigen Produkten dürfte damit wohl noch höher sein. Das zeigt auch eine Praktik der Onlinehändler, die derzeit sehr populär ist: Nicht selten überlassen laut Asdecker Plattformen wie Amazon, Temu oder andere die Entsorgung ihren Kundinnen und Kunden. Wenn diese online eine Rücksendung anmelden, bekommen sie die Nachricht: «Sie dürfen das Produkt behalten – und erhalten das Geld trotzdem zurück.»

Jede Retoure kostet Geld. Und jede nicht verschickte Retoure spart Geld. Das Wegwerfen des Produktes ist also bereits mit eingerechnet.

Björn Asdecker hat diesen Trick schon vor zehn Jahren beobachtet. «Neu ist, dass vor allem chinesische Plattformen wie Temu, Alibaba oder Shein diese Methode nicht nur bei niedrigpreisigen Produkten anwenden, sondern auch bei hochwertigeren Waren um die 50 Euro.»

Teilweise komme es zu einem regelrechten Rücksendebasar. «Wer eine Retoure anmeldet, dem bieten solche Plattformen anfangs an, einen Drittel des Kaufpreises zu erstatten – wenn man das Produkt behält.» Wer auf das erste Angebot nicht eingehe, dem böten die Händler 40 Prozent des Kaufpreises an, dann 50, dann 100. «Oder sie wollen dann doch den Artikel zurückhaben.»

Warum die asiatischen Plattformen hier anders ticken, erklärt Björn Asdecker so: «Die Retourenprozesse sind in China noch nicht so effizient. Bei Amazon hingegen kostet eine Rücksendung beispielsweise im Modebereich pro Artikel weniger als einen Euro – inklusive Transport.»

Aber wieso landen in den Secret-Packs-Automaten meist billige Produkte? Schliesslich wissen auch die Betreiber nicht, was sich in den Sendungen befindet. Asdecker sagt: «Die Pakete werden von den Händlern vorsortiert: Auf dem Strichcode des Retourenlabels können Sie von aussen erkennen, was sich in den Rücksendungen befindet.»

Teurere Produkte werden so herausgefiltert und wieder in den Verkauf gebracht. Die anderen hingegen landen in einer grossen Box und werden palettenweise weiterverkauft – wie etwa an die Automatenbetreiber in St. Gallen.

Im Internet finden sich Plattformen, die sich auf den Verkauf solcher Retouren im grossen Stil spezialisiert haben. Sie bieten etwa «Amazon Mischpaletten originalverpackt» an, wie es in einem Inserat heisst – für 2 Euro 36 pro Kilo.

Das zeigt: Auch die scheinbar wertlosesten Dinge finden noch Abnehmer. Doch laut Björn Asdecker gibt es auch hier Qualitätsunterschiede. «Bei einem höheren Kilopreis sind natürlich bessere Inhalte zu erwarten.»

Ob das auch für unser letztes Paket gilt?

Die letzte Chance

Der blaue Plastiksack fühlt sich weich an. Es könnten Flip-Flops sein, oder Badeschlappen?

Fast, es sind Barfussschuhe, also Schuhe, die das Barfussgehen nachahmen sollen. Es scheint, als stamme auch unser letztes Paket von einer Lieferung mit günstigem Kilopreis.

Oder doch nicht? Im Internet finden wir den Schuh zu enorm unterschiedlichen Preisen. Während er bei Temu nicht einmal 10 Franken kostet, bietet ihn ein Outdoorausstatter für umgerechnet 62 Franken an – angeblich heruntergesetzt von 125 Franken.

So oder so, brauchen können wir ihn nicht. Höchstens für eine Bad-Taste-Party, aber die sind genauso aus der Zeit gefallen wie Post-Sowjet-Accessoires.

Wir wollen herausfinden, wer diesen Barfussschuh ursprünglich bestellt hat. Zum Glück ist die Retourenetikette nur unzureichend geschwärzt. Nach einigem Recherchieren stellt sich heraus: Es ist ein Förster in Brandenburg.

Warum ausgerechnet ein Förster Barfussschuhe braucht, bleibt wohl ein weiteres Geheimnis dieser Mystery-Packs. Klar ist, mit der Rücksendung hat er seinen Fehlklick wieder behoben.

Wir aber haben ihn geerbt, zusammen mit sieben anderen Problemen. Für das Campinglicht, die Batterien und das Holzherz haben wir unterdessen einen Abnehmer gefunden. Der Rest befindet sich in einem grossen Plastiksack, bereit für die fachgerechte Entsorgung.

Oder kennen Sie vielleicht jemanden, der einen «Children’s Nail Sharpener» braucht?

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