Dienstag, April 1

Biobauern, Rechtsradikale, Impfgegner: Viele berufen sich auf Rudolf Steiner. Hundert Jahre nach seinem Tod ist sein Vermächtnis noch immer lebendig. Aber schwer greifbar.

In den Armen seiner Geliebten Ita Wegman stirbt Rudolf Steiner am Morgen des 30. März 1925. Vorher habe er ihr noch «ein paar liebe Worte» gesagt, die Augen geschlossen und die Hände gefaltet. Ob diese Geschichte der friedlichen Dramatik des Sterbens stimmt? Jedenfalls befand sich Ita Wegman, die Ärztin, ohne die es die anthroposophische Medizin heute nicht gäbe, zu diesem Zeitpunkt mit Steiners Gattin Marie in einem harzigen Streit.

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Und zwar als Verursacherin einer Ehekrise im Kampf um die Leitung der vaterlosen Anthroposophischen Gesellschaft und als Konkurrentin in Bezug auf die Deutungshoheit über Steiners Biografie. Die Frage, wer Rudolf Steiner war, wird bis heute kontrovers diskutiert. Es gibt die Verehrer und die Spötter. So viel ist klar: Vor hundert Jahren verlor die Welt einen Hellseher und Okkultisten, wie er sich zeitweilig nannte, der ein grosses Erbe hinterlassen hat: als Inspirator der Steiner-Schulen, als Stifter einer Kirche, der Christengemeinschaft, als Hoffnungsträger für eine alternative Krebstherapie in der Medizin, als unbeugsamer Gegner des Kunstdüngers in der Landwirtschaft.

Will man Steiners Karriere verstehen, muss man in seine Kindheit und Jugend zurück. Diese verbrachte der 1861 in Donji Kraljevec (heute Kroatien) geborene Junge im Wiener Becken, wo sein Vater Bahnwärter war. Steiner schildert seinen Vater als liebevollen Menschen; über seine Mutter schreibt er nur wenig. Das Bildungsideal des Vaters war für den Sohn ein Leben lang prägend: Bildung als Ausstieg aus dem kleinbürgerlichen Milieu.

Vom Vater erbte der Sohn auch die Faszination für die Technik, dazu eine deutschnationale Einstellung, die verständlich wird, wenn man weiss, dass Steiner über lange Schuljahre in Neudörfl, einer deutschen Exklave im ungarischen Teil der Habsburgermonarchie, lebte und dem Druck der ungarischen Mehrheit ausgesetzt war. Schliesslich die Religion: Der Vater war ein kirchenkritischer Freigeist, unter dessen Fittichen der junge Rudolf volksreligiös, aber ohne spirituellen Tiefgang sozialisiert wird.

1879 beginnt die intellektuelle Entfesselung des jungen Steiner an der Technischen Hochschule in Wien. Dort verlebt er zehn glückliche Jahre, die ihn intellektuell prägten. Er wird Hauslehrer in der jüdischen Familie Specht – und äussert sich gleichwohl antijudaistisch. Er verkehrt unter konservativen Schriftstellerinnen und Schriftstellern und liberalen Theologen – und zugleich verschärft sich sein Nationalismus in diesem überhitzten kulturellen Schmelztiegel des Habsburgerreiches.

Nietzscheaner, Anarchist

Doch das nachhaltigste Wiener Erbe ist Steiners philosophische Selbstfindung. Der protestantische, nationalkonservative Germanist Karl Julius Schröer führte ihn ein in die Edition der naturwissenschaftlichen Werke Goethes. Damit bewegt sich der gerade 20-Jährige auf einmal im Olymp der Goethe-Interpretation. In den Einleitungen, die er zu den Editionen verfasst, entwickelt Steiner eine Philosophie, die sein lebenslanges Credo wird: Es gibt keine Grenzen der Erkenntnis.

Das war eine frontale Kritik an Kant und eine Anlehnung an Ideale, die in den damaligen Naturwissenschaften kursierten. Steiner begründete seine Auffassung damit, das Denken sei objektiv und universal, so dass wir im Denken die Partikularität unserer Erkenntnis überwinden könnten. 1881 jedoch erfahren wir im ersten erhaltenen Brief von Steiner, dass dahinter auch eine fast mystische Erfahrung stand, in der er sich auch auf Schelling berief und es als Ziel der Philosophie formulierte, «das Ewige in uns anzuschauen».

In Wien beginnt sich Steiners idealistisches Weltbild allerdings bald zu zersetzen. Zwei Frauen dürften als Hebammen des neuen Lebens mitgewirkt haben, Pauline Specht, die ihm eine zweite Mutter war und Beziehungen zu den atheistischen Wiener Psychoanalytikern pflegte, sowie die Literatin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder. Die Krise bricht aus, als Steiner 1890 aus der Grossstadt Wien in die Enge der Weimarer Provinz zieht, weil er mit Archivalien aus dem Goethe- und Schiller-Archiv arbeiten muss. Die philologische Kärrnerarbeit nervt ihn, er ist einsam und hat psychosomatische Probleme, weitere Schreibarbeiten zum Broterwerb bringen ihn an die Belastungsgrenze.

Zugleich setzt sich Steiner ein neues Ziel: eine wissenschaftliche Karriere. Dazu benötigt er eine Dissertation, die er über Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftsverständnis verfasst. Die 1892 publizierte Arbeit enthält eine radikale Kritik am Idealismus, ebenso wie die schon im Folgejahr gedruckte «Philosophie der Freiheit», von der heute eine von Steiner später entschärfte Version im Handel ist. Sie soll die Eintrittskarte sein für einen Lehrstuhl für Philosophie, doch die Hoffnung bleibt unerfüllt.

Stattdessen beginnen Steiners wildeste Jahre. 1892 outet er sich als Nietzscheaner, versteht sich als Anarchist, zeitweilig auch als Atheist, und rechnet, einem intellektuellen Vatermord gleich, mit Goethe ab. 1899 zieht er mit der acht Jahre älteren Anna Eunicke, die er in Weimar geheiratet hatte, nach Berlin, wo er sein Geld als Redaktor einer Literaturzeitschrift und als Lehrer in Berliner Arbeiterbildungsschulen verdient.

Weg vom Materialismus

Hier verkehrt er mit Mitgliedern der literarischen Avantgarde, etwa Else Lasker-Schüler, und korrespondiert mit der Kommunistin Rosa Luxemburg. Aber zum Leben als intellektueller Bohème gehört auch: Er ist finanziell klamm, schon der Kauf standesgemässer Bekleidung für ein Bewerbungsgespräch überfordert ihn.

Die rettende Hand wird von unerwarteter Seite gereicht. Im Jahr 1900 kommt Steiner mit der Adyar-Theosophie in Kontakt, einer okkultistischen Vereinigung, gegründet von Helena Petrovna Blavatsky und von Henry Steel Olcott, die ihr «Hauptquartier» im indischen Adyar (in Madras/Chennai) aufgeschlagen hatten. Die beiden beanspruchten, die Wahrheit über alle Religionen und den Zugang zur geistigen Welt zu besitzen. Dass der Materialismus am Ende sei, hatte in ihren Augen die Naturwissenschaft längst bewiesen: etwa Wilhelm Röntgen, der mit X-Strahlen 1895 die Materie durchdringen konnte, oder Guglielmo Marconi, der drei Jahre später Signale durch den Äther übertrug.

Seine theosophische Konversion vollzieht Rudolf Steiner an der Hand seiner neuen Lebensgefährtin, der deutschbaltischen Schauspielerin Marie von Sivers, die später die anthroposophische Theatersprache prägte. In einer zweiten Blitzkarriere steigt er 1902 zum Generalsekretär der deutschen Adyar-Theosophie auf. Hier begegnet er Annie Besant, die er abgöttisch verehrt, ehe er sich 1912 nach tief verletzenden Konflikten von der Theosophie trennt und seine eigene Gesellschaft gründet, die Anthroposophische Gesellschaft.

Dazwischen liegt die Anverwandlung der theosophischen Lehren, in denen heute das Herz der Anthroposophie schlägt: die Überzeugung von der Existenz einer geistigen Welt und der Anspruch auf unbegrenzte Erkenntnis, die jetzt nicht mehr philosophisch durch das Denken, sondern durch die Schulung übersinnlicher Fähigkeiten erlangt werden soll.

Nun «schaut» Rudolf Steiner die Evolution des Kosmos und des Menschen. Aber auch der Rassen, die aufsteigen und degenerieren, ganz im Denken des Sozialdarwinismus, den Steiner vor 1900 durch die Bekanntschaft mit dem Biologen Ernst Haeckel aufgesogen hatte. Noch zwei Jahre vor seinem Tod verkündet er, die weisse Rasse sei «die zukünftige, die am Geiste schaffende Rasse». Man könnte solche Sätze heute zur Seite legen, hätte man sie in der Anthroposophie nur historisiert und sich nicht nur halbherzig von ihnen distanziert.

Der Leib des Menschen

Aus der Theosophie stammt auch die Vorstellung eines Menschen, der zwischen seinem physischen Leib und dem geistigen Ich Körperhüllen aus feinstofflicher Materie besitze: einen Ätherleib und einen Astralleib. Der Mensch reinkarniert sich nach Steiners Lehre in immer neuen «Erdenleben», worin der Schöpfer der Anthroposophie eine radikale Autonomie sieht. Der Mensch ist nach Steiners Auffassung sowohl für seine geniale Klugheit als auch für seine Beschränkungen selbst verantwortlich.

Seit 1906 weist Steiner zunehmend «dem Christus» die Rolle zu, die Schuld auf sich zu nehmen, die ein einzelner Mensch nicht tragen könne. Damit revidiert er den theosophischen Universalismus und erklärt das Christentum zum Höhepunkt der Religionsgeschichte. All dies könne man erkennen, indem man vermittels einer esoterischen Schulung die höhere, übersinnliche Erkenntnis erlange.

Der Gipfel dieser Erkenntnis war ein geheimer, freimaurerischer «Erkenntniskultus», für den Steiner in Dornach ein eigenes Zentrum errichten liess. Einen architektonisch ambitionierten Bau, den «Johannesbau», das heutige Goetheanum. Nur als Zweitverwendung war er für die Aufführung von Steiners «Mysteriendramen» vorgesehen und für Vorführungen von Eurythmie, dem spirituellen Ausdruckstanz der Anthroposophie. Mit dem Goetheanum und weiteren an seiner Formensprache orientierten aussergewöhnlichen Bauten in Dornach hinterlässt Steiner der Schweiz das weltweit bedeutendste Ensemble esoterischer Architektur.

All diese Ideen und Praktiken atmen den Geist des 19. Jahrhunderts. Die Philosophie der unbegrenzten Erkenntnis ist eine Reaktion auf den Erkenntnisoptimismus der Naturwissenschaften und die höhere Erkenntnis der Theosophie ein Abwehrreflex gegen einen Historismus, dessen Forschungen über die historische Bedingtheit von allem und jedem, auch der Religion, aufklärten. Mittlerweile haben sich die Totalitätsansprüche der Naturwissenschaften totgelaufen, der Historismus ist vom Angstgegner zum normalen Geschäft der Theologie geworden. Auf die theosophische «Geistesforschung» als «eigentliche Richterin» über die Bibel wartet heute kaum noch jemand.

Aus Rudolf Steiners 19. Jahrhundert stammt auch ein philosophisches Grundproblem der Anthroposophie. Einerseits vertritt Steiner als Erkenntnistheoretiker einen hochgezogenen Individualismus, der heute die anthroposophische Selbstdarstellung dominiert. Andererseits bleibt das Individuum in der theosophischen Kosmologie nur ein Funken in der Evolution des Geistigen und lebt im anthroposophischen Weltanschauungsgehäuse in identitätsvermittelnden Lehren und Verhaltenserwartungen.

Deutschnationale Überzeugungen

Die engste Begrenzung des Individuums ist jedoch Steiners Autorität. Er galt konkurrenzlos als der grosse «Eingeweihte» und Meister seiner Schülerinnen und Schüler. Diese Autorität nahm er für sich in Anspruch. Aber, und dies ist die Crux, seine Jünger suchten sie auch. Diese symbiotische Autoritätsstruktur, die vom lebenden Steiner auf sein Werk in die Gegenwart übergegangen ist, hilft zu verstehen, warum man sich bis heute so schwertut, Steiners Positionen zu kritisieren oder gar für falsch zu halten.

Diese Welt grossbürgerlicher Esoterik brach mit dem Ersten Weltkrieg zusammen. Steiner war beim Ausbruch des Krieges gerade in Bayreuth, in einer Aufführung von Wagners «Parsifal». In der Kriegszeit revidierte er seine Schriften aus den Jahren vor 1900 in theosophischem Geist, oft mit der unzutreffenden Versicherung, nichts Wesentliches geändert zu haben. Und er belebte seine deutschnationalen Überzeugungen, indem er Deutschlands Unschuld am Weltkrieg verteidigte.

Mit dem Kriegsende brach eine neue Zeit an. Nun erst entstand das, was wir heute von der Anthroposophie kennen. Die Praxisfelder: eine politische und ökonomische Theorie («Dreigliederung des sozialen Organismus»), die Steiner-Schulen («Waldorfschulen»), die anthroposophische Medizin, Landwirtschaft und Heilpädagogik. Und die Christengemeinschaft, eine von Steiner inspirierte Kirche.

Diese heterogenen Felder hält Steiner, der auf kaum einem Gebiet ein ausgewiesener Fachmann war, durch zwei Klammern zusammen: Er nutzt Ideen der Lebensreformbewegung, die ihm zugetragen werden, und ergänzt es durch Wissen, das er sich oft durch populärwissenschaftliche Literatur aneignet. Koedukation in der Pädagogik oder Homöopathie in der Medizin sind solche alternativkulturellen Erbstücke.

Zum anderen versiegelt er alle Anwendungsfelder durch seine übersinnliche Einsicht. Pädagoginnen und Pädagogen sollen Einsicht in die Reinkarnationsverläufe der ihnen anvertrauten Menschen haben, Medizinerinnen und Landwirte von den kosmischen Kräften in ihren Präparaten wissen. Deshalb sind die praktischen Anwendungen der Anthroposophie aus Steiners Sicht nicht einfach eine alternative Lebensreform, sondern auch die Materialisierung einer spirituellen Weltanschauung.

Esoterik und Lebenspraxis

Für diese Praxisfelder hat sich Steiner in seinen letzten Lebensjahren hemmungslos ausgebeutet. Er war ausgemergelt und litt vermutlich an einer Krebserkrankung, die wohl auch für seinen Tod mitverantwortlich war. Dies war misslich angesichts seines Versprechens, Krebs heilen zu können. Deshalb unterschob Ita Wegman der Basler Kantonalen Verwaltung den Bericht einer Obduktion, die es nie gegeben hatte, und gab zu Protokoll, Steiner sei an «Herzschwäche und Erschöpfung nach langer Krankheit gestorben».

Nach dem Tod dieses charismatischen Gründers war zu erwarten, dass sich die Anthroposophie in die Irrelevanz verabschieden und das Schicksal Hunderter esoterischer Gruppen teilen würde, die im Okkultismusfieber um 1900 kurz aufgeglüht waren. Aber das geschah nicht, obwohl noch am Tag von Steiners Begräbnis der Rosenkrieg zwischen Marie von Sivers und Ita Wegman begann, der die Anthroposophische Gesellschaft spaltete.

Ein Grund dafür, dass die Anthroposophie bis heute lebendig blieb, ist ihre so komplexe Struktur aus Esoterik, Philosophie und Lebenspraxis. Sie macht sie anschlussfähig für immer neue Kontexte. Zudem war sie von Beginn an durch Institutionen gefestigt.

Doch der Weg war steinig. Ein Grund liegt in Steiners Weltanschauung: Sowohl seine esoterischen als auch seine philosophischen Vorstellungen sind sperrig und geben oft Antworten auf Fragen, die sich heute niemand mehr stellt. Diese Krise spiegelt sich auch in der Mitgliederzahl der Anthroposophischen Gesellschaft, die Steiners weltanschauliches Erbe hütet: Sie dürfte sich in den deutschsprachigen Ländern in den letzten dreissig Jahren auf unter 15 000 Mitglieder fast halbiert haben.

Auch die praktischen Anwendungen überlebten über Jahrzehnte eher schlecht als recht. Um dies an der Landwirtschaft zu illustrieren: Angesichts der unbestreitbaren Erfolge eines hochtechnisierten Ackerbaus schien die Idee, auf Kunstdünger zu verzichten und Kuhhörner mit Mist zu vergraben, um kosmische Energie zu sammeln, verwegen und von gestern.

Problematisches Erbe

Aber nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Erfolg der praktischen Anwendungen. So wurden anthroposophische Bauern zu Vorreitern des biologischen Anbaus. Auch die anderen Bereiche boomen, weil alternative Therapien in der Medizin oder eine stressgeminderte Pädagogik einen Nerv der Zeit treffen.

Doch auch die Praxis ist kein Selbstläufer. Denn überzeugte Anthroposophen und Anthroposophinnen gibt es oft auch dort nicht mehr, wo Steiners Erbe gepflegt wird. Die weltanschauliche Entkernung der Praxis ist für die Lehre eine Bedrohung. Etwa wenn Winzer Steiners Präparate nutzen, aber die Wirkung der kosmischen Kräfte, die in ihnen wirksam sein sollen, weit von sich weisen.

Die Praxis ist Steiners grosses Vermächtnis. Und sie wird bleiben, solange Steiners Lehre Antworten auf Fragen bietet, die Menschen umtreiben. Die Gesellschaft braucht Menschen, die Alternativen zum Mainstream-Denken vorhalten – auch ohne dass man immer wüsste, wo Sinnvolles endet und der Unsinn beginnt: ob man durch eurythmischen Tanz den Heilungsprozess einer Krankheit beschleunigen kann, dass Kinder auch ohne Noten in der Schule etwas lernen oder dass die Welt einen geistigen, religiösen Mehrwert besitzt.

Allerdings ist die Zeit einer unauffälligen Nischenexistenz vorbei. Die kritischen Anfragen stiegen mit der erhöhten Attraktivität und Sichtbarkeit der anthroposophischen Praxis. Historisch betrifft dies vor allem die NS-Zeit. Die Nationalsozialisten verboten die Anthroposophie wegen ihres Okkultismus, aber in der Landwirtschaft überlebte sie gut, weil Steiners «Hoforganismus» die Autarkiebedürfnisse der Nationalsozialisten und ihre Vorstellungen von Boden und Scholle bediente. Überdies boten Steiners deutschnationale Vorstellungen einen Anknüpfungspunkt.

Auch dieses Erbe hat nach 1945 überlebt. Lange gaben Waldorfschulen mit rechtsradikalen Lehrern zu reden. Mehr noch wurde die Öffentlichkeit von Anthroposophinnen und Anthroposophen überrascht, die den Schulterschluss mit rechtsradikalen Gruppen wie Pegida und AfD suchten, und war schockiert, als sich die Anthroposophie in der Covid-Pandemie auch als Brutofen für dogmatische Impfverweigerer und Verschwörungserzähler herausstellte. Auch dies gehört zu Steiners Erbe: Sowohl impfende als auch impfverweigernde Ärzte berufen sich auf ihn.

Auf den Schultern des Suchers

Aber die vielleicht grösste Belastung für die Gesellschaft sind die demokratiekritischen Gene in Steiners Œuvre. Die Idee, dass höhere Erkenntnis der Massstab des Wissens sei, behindert das diskursive Erarbeiten von Wissen. Deshalb tut sich die Waldorfpädagogik schwer mit einer pädagogischen Beteiligung von Schülern und Schülerinnen. Diese esoterische Erkenntnistheorie ist auch ein Grund dafür, dass Anthroposophen oft mit der universitären Wissenschaft fremdeln.

Vieles würde einfacher, wenn man Rudolf Steiner vom Thron der Allwissenheit stürzte. Wenn man ihn nicht als Seher verstünde, der Antworten auf alle Fragen bereithält, sondern als lebenslangen Sucher. Steiner hat seine eigenen Erkenntnisse immer wieder nachjustiert. Seinen Weg zur Erlangung höherer Erkenntnis schrieb er in mehreren Anläufen, ohne je eine endgültige Fassung vorzulegen. Und manche Überzeugungen hat er in aller Stille aus dem Rampenlicht genommen, ohne sie explizit zu revidieren.

Auf den Schultern des suchenden Steiner zu sitzen, würde einen entspannten Umgang mit seinen Irrtümern ermöglichen. Die Inkonsistenzen seines Werkes könnte man dann als Konsequenz seiner lebenslangen Arbeit im Laboratorium der Weltanschauungen deuten. Dann hätte man die Freiheit – freilich auch das Problem –, zu entscheiden, ob man dem dogmatisch-autoritären Steiner glauben will. Oder dem neugierig-unsicheren.

Helmut Zander lehrte bis 2024 Religionswissenschaft an der Universität Freiburg i. Ü.

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