Dienstag, Oktober 15

Ilko-Sascha Kowalczuk ist in der DDR aufgewachsen und hat sie als Historiker erforscht. Er erklärt ihre Gründung durch Stalin und ihren Sturz dank einer kleinen Minderheit.

Herr Kowalczuk, am 7. Oktober vor 75 Jahren wurde die DDR gegründet. Hat das in Deutschland jemand gefeiert?

Ja, es gab in Berlin eine Veranstaltung mit Egon Krenz, dem letzten Generalsekretär der SED. Er hielt eine geschichtsrevisionistische Rede und wurde bejubelt. Ein relevanter Teil der ostdeutschen Bevölkerung wünscht sich eine DDR zurück, die es nie gab. Eine Erhebung der Universität Leipzig zeigt sogar, dass sich 10 Prozent der unter dreissigjährigen Ostdeutschen als Bürger der DDR empfinden. Sie haben dieses Land nicht erlebt, aber es erscheint ihnen als eine Art sozialistischer Komödiantenstadel. Mit sozialer Sicherheit, aber ohne Stasi, Mauer und Mauertote.

Die DDR war ein Kind der geopolitischen Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wurde von der Sowjetunion geschaffen. Welche Rolle spielten dabei Deutsche?

Die ostdeutschen Kommunisten waren zunächst nur Marionetten der Besatzungsmacht – bis auf eine herausragende Figur: Walter Ulbricht. Er genoss sowohl bei den sowjetischen Funktionären als auch bei den deutschen Kommunisten hohes Ansehen. Er war der Einzige, auf den die Besetzer hörten. Mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD schuf er 1946 die SED, die künftige Staatspartei. Aber Ulbricht war mehr Teil des sowjetischen Machtgefüges als Exponent der einheimischen Kommunisten, mehr «Towarischtsch» als Genosse. Die DDR ist ohne den Nationalsozialismus, die deutsche Niederlage und ohne Stalins geopolitischen Machtanspruch in Europa nicht denkbar. Aber sie hat sich nach 1953 zunehmend auf eigene Beine gestellt.

1953 standen die Arbeiter gegen das neue Regime auf. Sie argumentieren in Ihren Büchern, dass erst 1961 mit dem Mauerbau eine Zeit begann, in der die DDR eine wachsende Legitimität bei ihren Bürgern genoss.

Ja, das war Ulbrichts Leistung. Nach dem Mauerbau setzte er gegen den Widerstand des Parteiapparats und vor allem von Erich Honecker, seinem späteren Nachfolger, eine Reihe von Reformen durch. Dieses Paradox muss man sich vorstellen: Mit der Mauer nimmt er 17 Millionen in Haft, sperrt sie hinter Stacheldraht und bewirkt gleichzeitig eine Entspannung nach innen. Wirtschaft und Strafrecht werden modernisiert, junge Männer dürfen längere Haare tragen – jedenfalls solange die Gesinnung stimmt. Von 1962 bis 1965 hatte die SED wohl die grösste Akzeptanz in ihrer Geschichte.

Doch diese Legitimität wurde durch den Vergleich mit der erfolgreicheren BRD immer wieder infrage gestellt?

Nicht von Anfang an. Obwohl die BRD schon in den 1950er und 1960er Jahren attraktiver war, schien der Vorsprung doch nicht uneinholbar. 1963 war die Ausstattung mit Kühlschränken und Radiogeräten in Ost- und Westdeutschland etwa gleichmässig –selbst was die Qualität und das Design betraf. Das änderte sich Ende der 1970er Jahre – auch infolge der Erdölkrise. Jetzt ging die Schere zwischen Ost und West immer weiter auf und wurde spürbarer. Gleichzeitig verhärtete und vergreiste die Führungsriege zunehmend.

Was heisst das?

Die Führung um Ulbricht (1893–1973) und Honecker (1912–1994) war kulturell in der Zwischenkriegszeit hängengeblieben. Ihr Ziel war der Fortschritt der «Werktätigen», also von 90 Prozent der Gesellschaft. Und sie verstanden das so: Alle sollen satt sein, alle sollen Bildung erhalten und zudem ein Dach über dem Kopf haben. Viele DDR-Bürger goutierten das noch in den 1950er und 1960er Jahren. Aber den in der DDR Geborenen genügte das nicht mehr. Die Diskrepanz mit dem Westen wurde jetzt politisiert: Entweder ich kann etwas machen und dieses Drecksland wird besser, oder ich hau ab. Das war jetzt die Frage für nicht wenige.

Wann war das? Gibt es einen Kipppunkt, oder ist es eine schleichende Aufkündigung der Loyalität?

Ein wichtiger Moment kommt 1976 mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann, dem Liedermacher und Lyriker. Plötzlich verweigerten staatsloyale Künstler die Gefolgschaft: Die Schauspieler Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die Autoren Christa Wolf oder Stefan Heym – das waren Stars mit Ausstrahlung! Hinzu kamen eher schleichend die wirtschaftlichen Probleme. Die wachsenden Schulden, die vielen Firmen, von denen jeder wusste, dass sie nur dank staatlichen Subventionen überlebten. Und schliesslich in den frühen 1980er Jahren die Friedensbewegung, die im Westen aus Angst vor dem Atomkrieg entstanden war. Sie vernetzte sich mit Gleichgesinnten im Osten. In den Kirchen, den einzigen staatsfreien Räumen, konnte Widerstand eingeübt und ausprobiert werden.

Und in der Sowjetunion kommt 1985 Michail Gorbatschow an die Macht. Welchen Einfluss hat er auf die DDR?

Gorbatschow war ja nicht gekommen, um den Sozialismus abzuschaffen, sondern, um ihn durch den «wahren Leninismus» zu erneuern und die Sowjetunion zu retten. Mit ihm wird jetzt vieles sichtbar. Er spricht eine neue Sprache. Das weckt enorme Hoffnungen in der DDR, denen dann schnell die Enttäuschung folgt. Denn das Regime bewegt sich nicht. Und jetzt kommt ein entscheidender Moment. In den Institutionen beginnen die Funktionäre zu zweifeln. Das ist eine notwendige Voraussetzung für jede Revolution, dass es im Machtkartell selber gärt.

Die DDR war ein Obrigkeitsstaat. Eigentlich die ideale Verkörperung von Vater Staat?

Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat in der DDR ist sehr speziell. Das gilt nicht nur für die folgsamen Untertanen, sondern selbst noch für jene, die ihm den Gehorsam aufkündigten und weggingen. Der Schriftsteller Uwe Johnson, der 1959 nach Westberlin zog, hat das am besten ausgedrückt: Die Menschen gehen zwar weg, aber sie wollen am neuen Ort gar nicht ankommen. Sie kommen von der DDR nicht los, sprechen über sie wie über eine Familie. Sie rechtfertigen sich, wollen eine Absolution erhalten oder ihr sogar etwas zurückgeben.

Wie der verlorene Sohn! Aber woher kommt dieser Vaterkomplex?

Aus der langen Geschichte des deutschen Obrigkeitsstaats. Darin ist die Demokratie der Weimarer Republik ein Betriebsunfall. Das Kaiserreich (1871–1918), das manche jetzt als Emanzipationsprojekt verklären, war der Obrigkeitsstaat par excellence. Er verband die Fürsorge für die Untertanen dank fortschrittlicher Sozialgesetzgebung mit der Repression gegen Kritiker durch das Sozialistengesetz. Zuckerbrot und Peitsche, das ist die Methode von Vater Staat. Das ist der grosse Unterschied der deutschen Geschichte zu jener der USA, Grossbritanniens, Frankreichs und der Schweiz, der klassischen liberalen Länder. Die DDR knüpft an die deutsche Tradition an und revitalisiert sie. Die Kräfte in der Gesellschaft sollen sich nicht frei entfalten, sondern vom Staat gesteuert werden. Im Kern geht es um die Verstaatlichung der Gesellschaft.

Was geschah mit dieser Gesellschaft, als sich 1990 ihr Staat auflöste?

Sie fiel auseinander. 95 Prozent der Beschäftigten waren faktisch Staatsangestellte. Es gab nur wenige kleine Privatbetriebe. Aber in den Staatsbetrieben wurde nicht nur produziert, sie waren auch Orte der Vergemeinschaftung. Ihnen waren kulturelle Vereinigungen angeschlossen, die Kinderbetreuung, die Versorgung der Alten oder die Vermittlung von Urlaub. Mit dem 1. Juli 1990, der Währungsunion, brach das von einem Tag auf den andern zusammen. Dieser Wandel geschah in keinem anderen exkommunistischen Land so schnell und so radikal wie in Ostdeutschland. Aber er wurde auch nirgends in Osteuropa sozialstaatlich so stark abgefedert. Doch für DDR-Menschen, die sich zuvor kaum mit Arbeitslosigkeit oder erzwungener Mobilität hatten auseinandersetzen müssen, war das ein Schock. Es war ein biografischer Bruch, der viele überforderte. Gerade auch, weil er mit einer Vereinzelung verbunden war.

In der DDR gab es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe von Nationalsozialismus und Holocaust. Es gab kein 1968, keinen kulturellen Aufbruch und keinen Historikerstreit wie 1986 in der BRD. Was sind die Folgen?

Die langfristigen mentalen Folgen der ideologischen Indoktrination werden unterschätzt. Wer immer nur die eine Wahrheit hört, kann dazu nur Ja oder Nein sagen. Eine argumentative Auseinandersetzung über Geschichte und Gegenwart gab es nicht. Die herrschenden Zustände können ja nur überwunden werden, wenn man sich gedanklich damit auseinandersetzt. Das wurde den Menschen abtrainiert. Viele ehemalige DDR-Bürger haben nicht gelernt, die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte als Ausdruck der pluralistischen Demokratie zu sehen. Das prägt auch den starren Blick auf die Gegenwart, das Denken im Freund-Feind-Schema.

Die DDR wurde 1949 von der Sowjetunion installiert und 1990 von Moskau aufgegeben, weil Gorbatschow der Führung nicht beisprang. Spielten ihre Bürger je eine Rolle?

Da muss ich heftig widersprechen! Ich bin ein Neunundachtziger, ein Teilnehmer der Freiheitsrevolution. Wir haben das System zum Einsturz gebracht! Klar gehörte der geopolitische Kontext dazu, etwa, dass Gorbatschow die blutige Niederschlagung nicht wollte. Revolutionen sind immer an mehrere Voraussetzungen geknüpft. Dass sie in der DDR 1989 glückte, ist aber ohne den Willen und den Mut einer kleinen Minderheit nicht denkbar. Diese Minderheit rebellierte gegen die Minderheit des Regimes. Dazwischen stand die Mehrheit hinter den Gardinen und wartete ab, bis der Sieger feststand. Dann stellte sie sich auf die Siegerseite. Es ist ein Mythos, dass sich die Mehrheit der DDR-Bürger die Freiheit erkämpfte.

In den Wahlen in Ostdeutschland haben jüngst mit der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht extreme Parteien zugelegt. Sie wollen die homogene Gesellschaft, den starken Staat, eine Art nationalen Sozialismus. Ähnliches zeigt sich in vielen europäischen Ländern von Finnland über Frankreich bis nach Österreich. Ist die Ex-DDR nun erstmals wirklich Avantgarde?

Ich würde nicht von Avantgarde sprechen. Aber in Ostdeutschland zeigt sich vieles früher und radikaler als anderswo. Denn nach dem Freiheitsschock der Transformation sind die Ostdeutschen jetzt schon zum zweiten Mal mit welthistorischen Veränderungen konfrontiert, die uns alle überfordern. Der Westen ist verunsichert, es fehlen uns Zukunftsvorstellungen. Viele suchen nach Halteseilen. Die finden sie in der Vergangenheit oder vielmehr in der Vorstellung, die sie sich davon machen. Da kommen die Extremisten gut an, wenn sie die Sehnsucht nach Tradition und dem autoritären Staat bedienen. Das Bild von der DDR gibt die Schablone ab.

Ilko-Sascha Kowalczuk hat eine zweibändige Biografie von Walter Ulbricht veröffentlicht (C. H. Beck, München 2023/24). Und zuletzt: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute. C. H. Beck, München 2024.

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