Die Ausstellung «Nordlichter» vereint rund siebzig Landschaftsgemälde aus Skandinavien und Kanada, die zwischen 1880 und 1930 entstanden sind. Sie alle verbindet eine überwältigende Naturerfahrung: Es ist die Natur des Nordens, insbesondere des borealen Urwalds.
Der boreale Wald ist der grösste Urwald der Welt, grösser noch als der Amazonas-Regenwald. Er bildet die nördlichste Waldzone der Erde und erstreckt sich über enorme Landmassen von Kanada und Alaska, Grönland und Skandinavien bis nach Sibirien. Geprägt ist er von Nadelbäumen und extremen Temperaturen. Bis minus 40 Grad kalt können die eisigen Winter werden, die Sommer sind kühl und feucht.
Im Nadelwald des globalen Nordens mit seinen uralten Baumbeständen leben Wölfe und Bären. In seiner unermesslichen Gleichförmigkeit hat er etwas Überwältigendes. Seit Urgedenken ist er Gegenstand mythischer Vorstellungen und verkörpert das Bild vom ewigen, tiefen und finsteren Wald schlechthin. Auch zahlreiche Künstler hat er in seinen Bann gezogen.
Deshalb muss man nicht in den hohen Norden reisen, um in diese geheimnisvolle Welt der Fichten und Kiefern, Farne und Moose einzutauchen. Ein Abstecher in die Fondation Beyeler in Riehen genügt. Was einen dort zurzeit an Bildwelten erwartet, ist atemberaubend. Die Ausstellung mit dem ebenso schlichten wie magischen Titel «Nordlichter» gibt den Stoff her für ein episches Wintermärchen.
Zu sehen sind rund siebzig Landschaftsgemälde aus einer Zeitspanne zwischen 1880 und 1930. Die Maler und Malerinnen sind in ihren Heimatländern zwar berühmt, sonst aber nur wenig bekannt. Fremd klingen Namen wie Akseli Gallen-Kallela, Prinz Eugen, Helmi Biese, Anna Boberg, Harald Sohlberg oder Hilma af Klint. Und überraschend sind ihre Bilder: Wir schauen auf silbern leuchtende Berge unter dem Polarstern, auf orange verglühende Sonnenuntergänge am dunstigen Horizont, auf tiefverschneite Tannen im stillen Winterwald, auf blau aufleuchtende Seen zwischen roten Lärchenstämmen.
Die Gemälde, gross und klein, zeigen kristallklare Gletscherseen, verwunschene Biberteiche, vom Wind gepeitschte Küstenstriche, im Sonnenlicht funkelnde Schärenlandschaften und Fjorde – und immer wieder grellgrün glimmende Nordlichter. Der Wald der Bilder in den dezent ausgeleuchteten Ausstellungssälen eröffnet eine Welt der Kunst, wie man sie in dieser Dichte kaum je zuvor gesehen hat.
Grosser kultureller Raum
Und alles gruppiert sich um den zentral inszenierten Grossmeister der skandinavischen Malerei der Moderne: Edward Munch. Die Gemälde seiner Zeitgenossen, die eine dem Norweger so vertraute Lebenswelt widerspiegeln, lassen seinen «Tannenwald», seine «Sternennacht», seinen «Mondschein» und seine «Nächtliche Schneelandschaft» in ganz neuem Licht erscheinen. Die Faszination für Munchs Landschaftsmalerei war immer auch von der Anziehungskraft des Nordens geprägt – das wird nun deutlich: Der lichtdurchflutete Süden, wie ihn eine weit vertrautere Arkadien-Malerei seit Jahrhunderten feiert, hat ihr geheimes Gegenstück in den Polarlichtern des borealen Waldes.
Anna Boberg oder Tom Thomson haben das Nordlicht gemalt. Das irrlichternde Phänomen ist schwierig festzuhalten, es verändert sich dauernd, ist immer in Bewegung und von wechselnden Farben geprägt. Nordlichter sind ebenso unfassbar wie der Norden selbst: eine weltumspannende Region, in der Nationalstaaten wie Norwegen, Finnland oder Kanada relativ junge Gebilde darstellen. Dieser immense kulturelle Raum hat bisher als Gegenstand von Ausstellungen viel zu selten Beachtung gefunden. Gespiegelt wird er in einer äusserst vielfältigen Malerei, die etwas pauschal unter dem Begriff einer nordischen Kunst zusammengefasst wird.
Dabei kennt die Malerei des Nordens sämtliche modernen Strömungen vom Naturalismus über den Symbolismus und Impressionismus bis hin zum Pointillismus oder dem Expressionismus. Und doch muss man seine Sehgewohnheiten anpassen, blickt man auf diese Kunst, die zwischen den Polen einer kristallin kühlen und einer zauberhaft poetischen Auffassung von Landschaft oszilliert.
Menschenleer
Überraschend ist der Blick auf diese Vielfalt von Malerei aber auch, weil die Ausstellung kunsthistorische Kategorisierungen vermeidet. Die Inszenierung folgt vielmehr einem naturwissenschaftlichen Ansatz. Allen Malern der Schau gemeinsam ist die Erfahrung einer überwältigenden Natur, die sie in die Kunst zu übersetzen vermochten. So entfaltet sich Raum für Raum ein aus der je individuellen Perspektive der verschiedenen Künstler und Künstlerinnen geschildertes Naturspektakel, das die boreale Zone in all ihren Besonderheiten zeigt: von den klaren, langen Sommertagen mit ihrer Mitternachtssonne, die nie untergeht, bis zu den schier endlosen, sternenklaren Winternächten.
Das Atemberaubende vieler der panoramaartig wirkenden Ansichten rührt nicht nur vom Eindruck der unermesslichen Grösse des borealen Waldes her, sondern hat auch damit zu tun, dass die Künstler ihre Landschaften oft von oben zeigen, als hätten sie beim Malen eine Drohne benutzt. Ein weiteres Merkmal der erlesenen und meisterhaft choreografierten Auswahl dieser Landschaftsbilder ist der Umstand, dass sie völlig menschenleer sind. Dies gibt der Schau eine tiefe Stille und vermittelt ein Gefühl, als ob man einer Weltgegend ansichtig würde aus einer Ära lange vor der Ankunft des Menschen.
Nur vereinzelt stösst man in den Bildern auf Spuren von Zivilisation. Etwa dort, wo sich Rauch einer Eisenbahn in den Wipfeln der Bäume verflüchtigt (Edward Munch), oder wo ein allein stehendes Haus schemenhaft durch einen Tannenwald schimmert (Prinz Eugen), wo Fussstapfen im tiefen Neuschnee eine einsame Spur gelegt haben (Gustaf Fjaestad) oder wo ein Kanu an der Uferböschung eines grossen Waldsees zurückgelassen wurde (Tom Thomson).
Der Wald im Wandel
In einem einzigen Bild treten zwei Menschen in Erscheinung. Es ist Edward Munchs Gemälde «Vampir im Wald», das ein sich umschlungen haltendes Paar im Unterholz zeigt. Das Sujet mit der sich über den kauernden Mann neigenden Frau mit langem rotem Haar hat Munch wiederholt gemalt. Der Vampirbezug stammt allerdings nicht vom Künstler selbst, sondern erfolgte vor dem Hintergrund des damaligen Zeitgeists, der in der weiblichen Natur das Dämonische sah.
Das Bild lässt hier an den Menschen als Vampir denken, der die Natur ausbeutet. Denn nicht zuletzt wirft diese Ausstellung auch einen durch Klimawandel und Umweltzerstörung sensibilisierten Blick auf die Landschaften des Nordens.
Die boreale Zone, die die nördliche Hemisphäre komplett umspannt, ist für das ökologische Gleichgewicht von immenser Bedeutung. Gleichwohl ist davon in den Medien viel zu wenig die Rede, wenn es um globale Ökosysteme geht. Bedroht wird der Urwald des Nordens nicht nur durch den Raubbau der Holzindustrie und die Ausbeutung von Gold-, Erdöl- und Nickelvorkommen. Auch führt der global beobachtete Wandel des Klimas immer öfter zu Waldbränden, welchen Millionen von Hektaren Nadelwald zum Opfer fallen.
Als Folge der klimatischen Veränderungen liegt in Helsinki der Schnee immer weniger lang, und die Ostsee friert im Winter immer seltener zu. Die bedeutenden historischen Gemälde der Ausstellung «Nordlichter» bewahren auch eine Vorstellung davon, wie Landschaften im Norden einst ausgesehen haben. Der boreale Wald jedenfalls befindet sich im Wandel. Und so beschwört diese Ausstellung auch eine vielleicht bald schon der Vergangenheit angehörende Vorstellungswelt, in der über dem Ökosystem Wald noch ein mystisch-märchenhafter Zauber lag.
«Nordlichter», Fondation Beyeler, bis 25. Mai. Katalog: Fr. 62.50.