Sonntag, April 20

Viele der verstossenen Vierbeiner sind kaum erzogen. Eine Pflegerin im Tierheim am Zürichberg sagt: «Jeder hat eine zweite Chance verdient.»

Blueberry ist klein und flauschig und hat Knopfaugen wie ein Stofftier. Er ist der Typ Vierbeiner, der von seinen Besitzern gerne in einer Tasche herumgetragen wird, und im Tram sitzt er auf dem Schoss. Mehr Accessoire als Hund. Vier Kilogramm wiegt der Zwergspitz, so viel wie eine Katze. Man möchte ihn sofort streicheln.

Doch an der Tür seiner Box im Tierheim des Zürcher Tierschutzes hängt ein Zettel mit einem roten Stoppschild. «Kein Zutritt!!», steht darunter geschrieben. «Nur mit Einführung vom Hundedienst! Gilt für alle!!!»

Blueberry gilt als Hund mit Gefährdungspotenzial. Dieser Begriff wird vor allem in Zusammenhang mit Rassen wie Pitbulls oder Bullterriern verwendet, für deren Haltung eine Bewilligung nötig ist. Blueberry fällt nicht darunter. Er ist auch nicht bösartig, sagt die Tierpflegerin Kathy Dünner. Doch er wurde kaum erzogen, und wenn er gestresst ist, kann er zuschnappen. Seine früheren Besitzer gaben Blueberry ab, weil sie mit ihm überfordert waren. Er knurrte sie an und liess sie manchmal nicht mehr ins Schlafzimmer.

Bis vor einigen Jahren waren Hunde mit Gefährdungspotenzial die Ausnahme im Tierheim. Heute bilden sie die Mehrheit. Abgegeben werden oft Tiere, die kaum Erziehung genossen haben, schlecht sozialisiert sind oder empfindlich auf Reize reagieren.

Schon der Besuch der Fotografin und der Journalistin löst Unruhe aus. Als sie den Raum betreten, in dem das Futter bereitgemacht wird, beginnen die Hunde in ihren nahen Boxen zu bellen. Eine halbe Stunde lang wird das so gehen. Um das Stressniveau für die Hunde erträglich zu machen, läuft Hintergrundmusik wie in einem Lift.

Die Situation ist für das Tierheim in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung. Sämtliche Hunde müssen einzeln gehalten werden, obwohl die Boxen mehrfach belegt werden könnten. Das erhöht den Betreuungsaufwand. Und weil es bei schwierigen Fällen länger dauert, bis sie vermittelt werden, können viel weniger Hunde aufgenommen werden als früher. Das zeigen die Zahlen: Im Jahr 2018 waren es 57 Hunde, drei Jahre später 31 und im Jahr 2023 nur noch 18.

Gleichzeitig ruft fast jeden Tag jemand an und will einen Hund abgeben. Die Gründe sind fast immer dieselben: keine Zeit mehr, ein Umzug naht, sie sind überfordert, der Hund tut nicht, wie er soll. Ob das wirklich stimmt, kann das Tierheim nicht überprüfen. Es spielt auch keine Rolle. «Wir wollen, dass in diesen Situationen die Leute ihre Tiere abgeben, statt sie auszusetzen oder vielleicht sogar einschläfern zu lassen», sagt Rommy Los, der Geschäftsleiter des Zürcher Tierschutzes.

Die Zahl der Hunde im Kanton Zürich steigt

Jungtiere für ein paar hundert Franken

Das Tierheim ist idyllisch gelegen, gleich neben dem Zoo in der Stadt Zürich. Es ist das Aushängeschild des Zürcher Tierschutzes, der sich als Verein auch für Projekte wie das Minimieren von Tierversuchen oder ein Pelzverbot engagiert.

Im Tierheim werden neben Hunden auch Exoten wie Schlangen und Geckos, Kleintiere und Katzen aufgenommen. Rommy Los beobachtet, dass vermehrt alte oder verhaltensauffällige Katzen abgegeben werden. Aber diese sind einfacher zu vermitteln als Hunde mit problematischer Vorgeschichte.

Los sitzt in seinem Büro, um ihn herum scharwenzelt seine Hündin Lou. Der Chihuahua-Mischling wurde vor neun Jahren in einer Kartonschachtel am Hauptbahnhof in Zürich «entsorgt», da war er erst drei Monate alt.

Warum werden so viele Leute ihrer Tiere überdrüssig? Los glaubt, dass es verschiedene Gründe gibt.

Die Nachfrage nach Hunden ist in der Schweiz gross. Die Zahl der Hunde ist seit 2016 um fast 25 Prozent gestiegen, wie Daten der Hundedatenbank Amicus zeigen. Viele Leute wollen also einen Hund, aber längst nicht alle sind bereit, 2000 Franken für einen Welpen vom Züchter zu bezahlen. Günstiger und schneller geht es im Internet, wo Jungtiere unkompliziert für wenige hundert Franken angeboten werden.

Nur: Diese stammen oft aus illegalen Qualzuchten aus Osteuropa. Dort werden die Hunde schlecht gehalten, viel zu früh von der Mutter abgesetzt, sind nicht geimpft und anfällig für Krankheiten. Es sind Hunde, die den künftigen Besitzern aus Lastwagen auf der Autobahnraststätte übergeben werden. Sie haben einen schlechten Start ins Leben. «Vielen Leuten ist nicht bewusst, wie viel Aufwand ein Welpe bedeutet», sagt Los. Wer sich unüberlegt einen Hund anschafft, wird sich schneller von ihm trennen, wenn es schwierig wird.

Das gilt auch für Corona-Hunde wie Chilli, die im Tierheim gelandet ist. Ein zweieinhalbjähriger Maltipoo, eine Mischung aus Malteser und Pudel mit weissem, gekraustem Fell, während der Pandemie geboren. «Sehr süss und sehr schwierig», sagt Los. «Sie hat in ihrem bisherigen Leben fast nichts lernen dürfen.» Eine Hundeschule hat sie nie besucht, den Umgang mit Artgenossen ist sie nicht gewohnt, Strassenverkehr kennt sie kaum.

Auch Chilli wurde abgegeben, weil ihre Besitzerin überfordert war. Ein ängstlicher, geräuschempfindlicher Hund, der alles nachholen muss, was er eigentlich schon als Welpe hätte lernen sollen.

Über Hunde wie Chilli sagt die Tierpflegerin Kathy Dünner: «Sie werden ein Management fürs ganze Leben brauchen.» Eigentlich sei Chilli gar kein so schwieriger Hund. Sie ist sich sicher: In einem ruhigen Umfeld und mit Besitzern, die viel Zeit für sie haben, kann sie zu einer tollen Begleiterin werden.

Doch die Leute, die Chilli im Tierheim besuchen, erleben einen überdrehten Hund, der sich kaum beruhigen kann und auch einmal zuschnappt, wenn es ihm zu viel wird. «Das Tierheim ist der falsche Ort für sie», sagt Dünner. Es tue ihr weh, Chilli in diesem Zustand zu sehen.

Der Rottweiler, der von der Polizei kam

Trotzdem liebt es Dünner, mit solchen Hunden zu arbeiten, etwas anderes konnte sie sich nie vorstellen. Dünner ist in Chile aufgewachsen, mit einer chilenischen Mutter und einem Schweizer Vater. Als 19-Jährige kam sie in die Schweiz und absolvierte eine Ausbildung zur Tierpflegerin. Seit einem Jahr arbeitet sie im Tierheim des Zürcher Tierschutzes, zuvor war sie im Veterinäramt des Kantons Zürich tätig.

Die Arbeit dort habe ihr Spass gemacht, sagt Dünner. Aber mit der Zeit habe es ihr zugesetzt, weil sie mit viel Tierleid konfrontiert gewesen sei. «Mir fehlte das Happy End», sagt Dünner. Deshalb wechselte sie vor rund einem Jahr ins Tierheim. Dort hat sie schon viele Happy Ends erlebt. In ganz seltenen Fällen allerdings kommt es vor, dass ein Hund eingeschläfert werden muss. Dann nämlich, wenn ein Tier zu einer ernsthaften Gefahr für Menschen oder andere Hunde wird – oder wenn es schlicht zu krank ist.

Das Adoptionsprozedere im Tierheim ist streng. Es gehe nicht darum, möglichst viele Tiere zu vermitteln, erklärt der Tierheimleiter Rommy Los. Sondern dass jedes ein definitives Zuhause finde – und nicht noch einmal abgegeben werde.

Interessenten müssen angeben, wie sie wohnen, ob sie Kinder haben, wie ihr Tagesablauf aussieht. Kommt ein Hund infrage, folgen mehrere Gespräche und Spaziergänge. Schliesslich dürfen Interessenten den Hund für eine mindestens dreiwöchige Probezeit nach Hause nehmen. Nur wenn diese erfolgreich verläuft, ist eine Adoption möglich. Nach ein paar Monaten im neuen Zuhause nimmt das Tierheim eine Platzkontrolle vor.

Bei manchen Hunden dauert es eine Weile, bis sie überhaupt zur Vermittlung ausgeschrieben werden. Ursus ist so ein Beispiel. Ein fast fünfzig Kilogramm schwerer Rottweiler, ein Kraftpaket. Los und Dünner betonen, dass Ursus kein schwieriger Hund sei. Aber er wurde bei der Polizei abgegeben und kam im letzten Oktober als Blackbox ins Tierheim, über seine Vorgeschichte ist nichts bekannt.

Am Anfang wurde er ohne direkten Kontakt gefüttert: Das Futter wurde in die leere Box gestellt und erst wieder herausgeholt, wenn er im Auslauf war. Doch es zeigte sich rasch, dass er nicht aggressiv ist, vielleicht noch etwas unsicher, aber im Übrigen freundlich und verschmust. «Ein Teddybär», sagt Dünner. Trotzdem gehen die Tierpfleger noch nicht allein mit ihm spazieren, sondern nur zu zweit. Bei fünfzig Kilo Hund an der Leine dürfen keine Fehler passieren. Doch Dünner ist zuversichtlich, dass Ursus bald bereit für die Vermittlung ist.

Dünner kennt die Vorbehalte gegen Tierheimhunde. Wer will sich schon ein Problem nach Hause holen? Doch sie sagt, einen Hund zu adoptieren, hat durchaus Vorteile. «Meistens hat er schon ein gewisses Alter, und wir kennen seine möglichen Problembereiche.» Vor allem aber findet sie: «Jeder hat eine zweite Chance verdient.»

So wie Blueberry. Dünner sagt, er habe im Tierheim schon grosse Fortschritte gemacht. Er lernt die Grundkommandos wie «Sitz» und «Platz», ist freundlich, lässt sich von ihm vertrauten Personen streicheln. Die Tierpflegerin ist sich sicher: Auch Blueberry wird ein gutes Zuhause finden.

Eines, in dem er nicht wie ein Accessoire behandelt wird. Sondern wie ein richtiger Hund.

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